7.Juni 1907 – 21.Januar 1975:
Mascha Kaléko
Von Ruth
Fruchtman
Mein
Epitaph:
Vergebens.
Sie starb
an den Folgen
des Lebens.
Mascha Kaléko
wurde am 7. Juni 1907 in Galizien – damals noch einem Teil des k. und k. –
geboren, in Chrzanów, einem Städtchen zwischen
Kraków und Katowice,
in der Nähe einer anderen Kleinstadt, die fünfunddreißig Jahre später
berüchtigt wird: Oswiecim – Auschwitz. Sie heißt
Golda Malka Engel und ist das erste Kind von
Rozalia Chaja
Reisel Aufen und
Fischel Engel. Später sind weitere Kinder
geboren.
"Ich bin vor nicht zu langer Zeit
geboren", lautet die erste Fassung ihres Gedichts Interview mit mir selbst.
Die zweite Fassung – zwanzig Jahre später vollendet – beginnt:
Ich bin
als Emigrantenkind geboren
In einer kleinen klatschbeflissenen Stadt,
Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren
Und eine große Irrenanstalt hat.
Noch ist nicht die Zeit der
Wanderschaft, des Exils, die letztendlich zu ihrem normalen Lebenszustand
wird – der Verlust der Heimat, die Suche nach einer neuen Heimat –, aber
schon in der frühen Kindheit muß sie ein
Vorgefühl gehabt haben. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs – sie ist sieben
Jahre alt – verläßt die Familie
Aufen-Engel fluchtartig Galizien und die
auseinanderbrechende Habsburger Monarchie.
Die alte
Wobinichdennangst
Das feindliche Bett im Nirgendwo
Fremder Seifengeruch auf dem Kissen
So viele Brücken hinter dir verbrannt
Aus ihrer Asche immer wieder die falsche, die neue
Phönix-Heimat. Ich kann ja schreien. Gott sei dank.
(Aus: Notizen)
Schon damals bedeutet das Weggehen
unweigerlich Verlust: In Deutschland kaum angekommen, wird ihr Vater,
Fischel Engel, als russischer Staatsbürger und
daher feindlicher Ausländer bis Ende des Krieges im Lager interniert. Seine
Frau und Kinder müssen ohne ihn vier Jahre lang in einem fremden Land
auskommen. Zu Hause sprechen sie vermutlich Jiddisch; und Mascha
Kaléko, die noch Golda
Malka Engel heißt, beginnt schon ihre Auseinandersetzung mit der
deutschen Sprache, zunächst in Frankfurt am Main, danach in Marburg an der
Lahn. Sich zu Hause fühlen, angenommen werden, dazu gehören, was ist das,
wenn nicht die Sprache. 1918, als der Vater endlich entlassen wird und eine
Anstellung in Berlin bekommt, kann sie mit der Zeit sogar berlinern: ja,
vielleicht ist das seltsam, gibt sie zu, ihr Vater war ein russischer Jude,
ihre Mutter eine mährisch-österreichische Jüdin, aber was das Berlinerische
angeht, so haben dabei die Berliner Dienstmädchen eine erhebliche Rolle
gespielt. Sein wie die anderen, das möchte jedes Kind, erst recht jedes
jüdische Kind, vor allem wenn die Familie aus Galizien stammt und in Berlin
galizische Juden noch mit Abneigung, Mißtrauen
und Verachtung betrachtet werden. Bestimmte Phrasen von damals und noch
früher – "die Hosen verkaufenden Jünglinge aus dem Osten" – machten die
Runde. Zwei Gedichte, für Claire Waldoff
geschrieben, die Ende der zwanziger Jahre veröffentlicht werden, zunächst im
Querschnitt, sind auf berlinisch:
Hol aus
dem Schrank die Frühjahrsmäntel, Jrete!
Die ollen Winterfetzen pack in Naftalin!
Und ihr wascht euch man dalli alle beede;
Es jeht bei Mutta
Irien!
(Aus: Piefkes Frühlingserwachen)
Sie hört hin, wie die Berliner sprechen,
sie registriert, nimmt auf. Ihre Schulbildung hat sie bereits mit Siebzehn
beendet, tagsüber macht sie trockene Büroarbeit beim Arbeiterfürsorgeamt der
jüdischen Organisationen Deutschlands. Leicht kann es für sie nicht gewesen
sein. In ihrer Freizeit schreibt sie, abends studiert sie Psychologie und
Philosophie an der Humboldt-Universität und der Lessing-Hochschule.
Als sie Saul Kaléko
begegnet, ist sie noch sehr jung. Er ist Philologe und der zukünftige
Verfasser mehrerer Hebräisch-Lesebücher wie auch eines modern-hebräischen
Sprachführers, Hebräisch für Jedermann, der – anläßlich
der verstärkten Auswanderung deutscher Juden nach Palästina – im Verlag
Jüdische Rundschau 1935 bereits die dritte Auflage erreicht hat. Ein Jahr
später wird ein zweiter Lehrgang, dieses Mal für Fortgeschrittene,
herausgegeben. Sie muß ihn anfangs geliebt
haben: mit 21 ist Golda Malka Engel schon mit
Saul Kaléko verheiratet. Anders als die typische
"Neue Frau" jener Zeit arbeitet sie danach nicht mehr im Büro, sondern hilft
Kaléko bei der Arbeit an seiner Dissertation,
verzichtet allerdings nicht auf ihre berufliche Entwicklung. Die Ehe hält
nicht, aber den Namen Kaléko behält sie bis ans
Ende ihres Lebens als Künstlernamen bei.
In ihrer Lyrik und Prosa schildert sie
den Alltag, so wie er von den neuen jungen Frauen der Weimarer Republik
erlebt wird, ihre Texte, wie die von Irmgard Keun und Gabriele
Tergit, sind von der Stimmung dieser Zeit
durchtränkt – "der paar leuchtenden Jahre vor der großen Verdunkelung",
nennt sie sie später. Ihre Gedichte und Texte werden in fast allen Zeitungen
veröffentlicht, im Berliner Tageblatt, in der
Vossischen Zeitung, der Welt am Montag – sie ist nervös, sie ist
unsicher, sie hat trotzdem Erfolg. Ein dummes Mädchen nennt sie sich damals,
ahnungslos, hat keine Kontakte, keine Verbindungen, sie schickt auf
gut Glück ihre Gedichte hin; sie werden
angenommen. Wenn die Redakteure entdecken, wie jung sie noch ist, staunen
sie. "Nextens werdens
die Kinderwagen ausrauben!" lacht der Wiener
Feuilletonist, Anton Kuh, als er sie beim Querschnitt
kennenlernt. Und gerade jetzt zieht sie ein paar Jahre von ihrem
Alter ab, macht sich um fünf Jahre jünger. Gut so. Sie hat keine Illusionen,
sie weiß schon, wie für Frauen die Jahre zählen, wie die Menschen sind. Sie
liest im Rundfunk, sie tritt im Kabarett Kü-Ka
auf, sie gibt Lesungen, ihre Gedichte werden vertont, gesungen, sie erlebt
in einigen kurzen Jahren das, wovon alle jungen Dichter und Schriftsteller
träumen – Erfolg und Öffentlichkeit. Sie ist auf dem Weg, sie ist eine junge
Frau der neuen Zeit, allerdings eine, die diese Zeit mit kritischer Distanz
beschreibt, mit Humor und nicht ohne Melancholie. Abschied und Trennung
werden zu ihren Themen, auch die Angst davor. Wie oft steht sie – das heißt,
die Figuren in ihren Texten – allein auf Bahnsteigen vor einem abfahrenden
Zug. Wie oft wird der Zug für sie zum Bild der Zeit, zur Metapher der
Veränderung, des Verlustes. Die Landschaft schwindet und damit das Leben,
Glück, die Liebe. Dann kommt ein leichter unerwarteter
Biß, ihr schnoddriger Stil – nicht zu Unrecht, der Vergleich mit
Heine – eine veränderte Tonlage rettet ihre Dichtung vor dem Absturz in die
Sentimentalität. Außerdem besitzt sie die Fähigkeit, in die Haut von anderen
zu schlüpfen. Griffige Skizzen – die Reise mit dem Freund ins
Wochenendglück, der Stenotypistinnen-Alltag, die Sehnsucht nach einem neuen,
unerschwinglichen Kleid, Liebelei, Enttäuschung, all das gehört zu den
Themenkreisen der Neuen Sachlichkeit und zu den Vignetten, den Bildern, die
sie von dieser Zeit, aus ihrem Leben schafft:
Liebe
Elli! – Mal muß mans
gestehen.
Und es ist auch schließlich besser so.
– Gestern war mein letzter Ultimo,
Und ab Dienstag darf ich stempeln gehen.
[...]
Du bist schön. Du tanzt gern in Lokalen.
Du paßt in keine Not-Zeit-Ehe 'rein!
– Der Mensch lebt nicht vom Honigmond allein,
Er muß auch ab und zu mal Schulden zahlen.
(Aus: Zeitgemäßer Liebesbrief)
"Paris ist schön ... sehr schön",
schreibt sie 1932 auf einer Postkarte an Saul Kaléko:
"Aber leben, leben in Berlin." Nur in Berlin.
Abends frequentiert sie das Romanische Café. Hier schreibt ihr die Legende
eine bedeutende Rolle zu, setzt sie in den Mittelpunkt.
Keß berlinernd, schildert Rudolf Lenk Mascha
Kaléko damals. Klabund habe versucht, ihren
Redefluß zu dämmen, und kein Geringerer als Tucholsky soll ihn
beruhigt haben. Mascha Kaléko selbst erzählt,
wie sie damals im Café mit den Männern, die sie anschwärmten, und mit ihrem
Mann, Saul Kaléko, meistens etwas abseits in
einer Ecke gesessen habe. Vielleicht waren ausgerechnet Klabund und
Tucholsky unter den Männern, die sie anschwärmten, das erzählt sie
allerdings nicht.
Dort lernt sie aber durch einen
Bekannten Franz Hessel kennen, der sich für ihre
Gedichte interessiert und einen Lyrikband von ihr veröffentlichen möchte.
Franz Hessel – "der seltsame, heilige Franz
[...] der gütige Franziskus Hessel" – wählt mit
ihr die Gedichte aus, sie hat am Anfang noch nicht genug, und Januar 1933
erscheint bei Rowohlt Das lyrische Stenogrammheft. Die erste Auflage wird
schnell vergriffen und von Ernst Rowohlt nachgedruckt. Es gehört auch zu den
Legenden um sie, daß dieses erste Buch bei der
Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 mit verbrannt wurde. Dafür fehlen konkrete
Beweise, und da sie bis 1935 Mitglied der Reichsschrifttumskammer bleibt
(vermutlich wurde sie automatisch dort eingetragen) und weiterhin
veröffentlichen darf, scheint es sehr unwahrscheinlich. In der ersten Zeit
der NS-Regierung – sagte sie – durften Literaturkritiker jüdische
Schriftsteller noch loben. Sie wurde gelobt. Vielleicht fiel ihr Jüdischsein
noch nicht auf.
1935 veröffentlicht Ernst Rowohlt ihr
zweites Buch: Kleines Lesebuch für Große – Gereimtes und Ungereimtes. Kurz
danach wird sie aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Anfang
Januar 1937 erscheint ihr Name als Autorin des Lyrischen Stenogrammheftes
zum ersten Mal auf der Liste "schädlichen und unerwünschten Schrifttums".
Ernst Rowohlt wird von der Gestapo gemahnt und aufgefordert, den Vertrieb
ihrer Bücher sofort einzustellen. Sie werden trotzdem heimlich
weitergereicht, sogar kopiert, getippt und mit der Hand abgeschrieben, aber
ihre vielversprechende literarische Karriere in
Berlin, in Deutschland, ist jetzt – über Nacht – zu Ende.
Ob diese Zäsur ihr damals so
bewußt war und was sie ihr bedeutete,
läßt sich schwer abschätzen, ihr Leben war in
diesen Jahren durch andere tiefgreifende
Veränderungen erschüttert. Noch ist sie mit Saul Kaléko
verheiratet, aber sie hat den leidenschaftlichen Musiker und
Musikwissenschaftler Chemjo
Vinaver kennengelernt und sich in ihn
verliebt. Von ihm wird sie schwanger. Ende Dezember 1936 wird ihr Sohn
geboren: Ejvatar Alexander
Kaléko. Erst nach der Entbindung muß sie
Saul Kaléko die Wahrheit gesagt haben. Eine
Lebenslüge nennt sie ihre Haltung damals, ihrem Charakter zuwider, sie sieht
jedoch keine andere Möglichkeit. Als er die Wahrheit erfährt, verhält sich
Saul Kaléko wie ein Heiliger. Gerade das ist
wahrscheinlich das Problem: er ist zu gut, zu brav, zu geduldig, sie liebt
ihn nicht. Vielleicht ist er auch zu langweilig. Vielleicht will er sie
einfach nicht verlieren. Er ist auf jeden Fall bereit,
Ejvatar als seinen eigenen Sohn großzuziehen, aber aller Güte, aller
Liebe zum Trotz zieht sie mit dem Kind zu Chemjo
Vinaver, und Saul Kaléko
willigt in die Scheidung ein.
Chemjo
– Nehemia – Vinaver (Winawer),
1895 in Warschau geboren entstammt einer chassidischen
Familie; sein Großvater war der Rabbiner Isaak von
Warka, der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die
Belange und Nöte der Warschauer Juden einsetzte. Polen war damals geteilt,
und auch Warschau wurde von Rußland regiert. Bei
sich zu Hause, auf seinem Landgut in Warka,
empfing der Rabbiner außerdem alle möglichen Bittsteller, half ihnen, ihre
unterschiedlichen Probleme zu lösen. Sein Enkel, Chemjo
Vinaver, wächst mit jüdischer und
chassidischer Musik auf, er sammelt jüdische
Melodien, niggûnîm. In den zwanziger Jahren
übersiedelt er nach Berlin. Nach seinem Studium an der Staatlichen
Hochschule für Musik dirigiert er den Chor der Berliner Jüdischen Gemeinde –
später allerdings ungern, schreibt Mascha Kaléko
– und macht seine ersten liturgischen Aufnahmen. Als die jüdischen
Opernsänger entlassen werden, gründet er den Hanigan
Männerchor; ihre erste Tournee, 1933, ist ein großer Erfolg. Auch
veröffentlicht er in der Jüdischen Rundschau zweimal monatlich ein
Singblatt: darin stellt er chassidische,
jemenitische, sephardische und aus Palästina
jüdische Lieder vor.
Er ist ein Künstler mit einem
künstlerischen Temperament, sehr schwer zu ertragen, besonders am Anfang
ihres Zusammenlebens: "Ich habe keine Heimat gefunden, und keinen Frieden",
schreibt sie Februar 1938 in ihrem Tagebuch [auf jiddisch geschrieben, ihrem
Kind "für später" gewidmet]. "Aber leider ist er nicht der Mann für mich.
Neben ihm sterbe ich täglich einen neuen Tod."
Sie spielt sogar mit dem Gedanken, mit dem Kind allein nach Palästina
auszuwandern. "Er ist ein Mensch, der für das Zusammenleben im Alltag nicht
geschaffen ist." Sie selbst hat zwar männliche
Eigenschaften, aber sie ist vor allem "weiblich", so sieht sie sich
jedenfalls. Sie braucht nicht nur Leidenschaft, sondern auch "väterliche,
ritterliche Zärtlichkeit". Vermutlich eignet Chemjo
Vinaver sich diese Tugenden an, obwohl es noch
viele Ausbrüche gibt, und so sanft kann sie auch nicht gewesen sein: "Madame
Vulkan" nennt sie sich einmal nebenbei. Mascha Kaléko
verläßt Chemjo
Vinaver nicht. Sie bleiben zusammen, mit allem
Auf und Ab, sie führen nicht nur eine gute Ehe, sondern Menschen, die sie
zusammen erleben, erzählen von einer seltenen, tieferen inneren Verbindung:
Ich und
Du wir waren ein Paar
Jeder ein seliger Singular
Liebten einander als Ich und als Du
Jeglicher Morgen ein Rendezvous.
Ich und du wir waren ein Paar
Glaubt man es wohl an die vierzig Jahr
Liebten einander in Wohl und in Wehe
Führten die einzig mögliche Ehe
Waren so selig wie Wolke und Wind
Weil zwei Singulare kein Plural sind.
(Aus: Ich und Du)
Wenn sie später über ihre "sechs Leben"
schreibt, sind mindestens drei dieser Leben mit ihm und ihrem Sohn
verbunden, ein Leben ohne die Beziehung zu den beiden ist für sie
unvorstellbar, und wenn sie versucht, es sich doch vorzustellen, unendlich
schmerzlich. In allen ihren Gedichtbänden gibt es Lieder für Liebende: Zur
Heimat erkor ich mir die Liebe. Auch für Ejvatar
schreibt sie zärtliche, humorvolle Liebesgedichte:
Er ist
mein Sohn; das heißt, er ist gefährdet.
Sei um ihn tags, behüte seinen Schlaf
Und füg’ es, daß mein liebes schwarzes Schaf
Sich dann und wann ein wenig weiß gebärdet.
(Aus: An meinen Schutzengel)
Oktober 1938, kurz vor der
Reichspogromnacht, gelingt es den Vinavers, in
die USA auszuwandern, und mit der Heimat ist es vorbei. Jetzt beginnen die
Jahre des Exils: Probleme und Rückschläge, vor allem der Kampf ums nackte
Überleben. Sie sind Flüchtlinge und dürfen die amerikanische Gesellschaft
nicht belasten. Die ersten Jahre sind ruhelos; Umzug, Suche nach neuen
Perspektiven – nach Kalifornien, nach Hollywood, zurück nach New York, und
da auch zwei, drei Umzüge, bis sie endlich ein wenig zu sich kommen, in
Greenwich Village, in einer Wohnung in
Minetta Street, die sie Jahre später im
gleichnamigen Gedicht würdigt:
Weißgott,
ich habe unterdessen
Recht viel Adressen schon vergessen.
– Wenn’s heut mich nach "Zuhause" zieht,
So heißt der Ort: "Minetta Street".
Ihr Gefühl der Heimatlosigkeit legt sich
nicht, man spürt in ihren neuen Gedichten, den Versen für Zeitgenossen, 1945
zunächst in den USA veröffentlicht, nur noch den nackten Schmerz:
Alles um
mich her blüht im Sonnenlicht.
Doch der Frühling hier ist mein Frühling nicht.
Sagtest du: daheim? Räuber sind gekommen,
Haben Licht und Luft und Daheim genommen.
(Aus: Frühlingslied für Zugereiste)
Ein Jahr zuvor haben
Vinavers die amerikanische Staatsbürgerschaft
erworben, aber sie werden noch lange nicht zu Amerikanern. Mascha
Kaléko ist erleichtert, wenn ihr Sohn, anstatt
Ejvatar, Stephen (Steven) genannt wird, er fällt
weniger auf, keiner stellt Fragen. Steven ist der einzige der drei
Vinavers, der sich in den USA wirklich einlebt;
bereits mit elf Jahren schreibt er Gedichte auf englisch.
Chemjo Vinaver kann
nur wenig Englisch, so daß seine Frau ihn
überall begleiten muß, zu seinem Manager wird.
Jetzt ist sie vor allem Mrs. Vinaver. Seine
Musik, den Chor setzt sie an erste Stelle, sie sind vor allem zum Überleben
wichtig. Er hatte große Engagements, so schildert sie auch später diese
Zeit. Mitte der fünfziger Jahre vollendet Chemjo
Vinaver den ersten Teil seiner Anthologie
jüdischer Musik. Eine Zeitlang kommt Mascha Kaléko
kaum mehr zum Schreiben, sie ist durch das
Da-Sein
für andere ausgefüllt, schreibt sie in ihrem Tagebuch und wünscht auch für
sich eine "Frau", die für sie alles erledigt und ihr Zeit zum Schreiben
läßt:
Zu
deutsch: "Die klägliche Leistung der Frau".
Meine Herren, wir sind im Bilde.
Nun, Wagner hatte seine Cosima
Und Heine seine Mathilde.
Die Herren vom Fach haben allemal
Einen vorwiegend weiblichen Schatz.
Was uns Frauen fehlt ist "Des Künstlers Frau"
Oder gleichwertiger Ersatz.
(Aus: Die Leistung der Frau in der Kultur)
Verlust der Heimat – Deutschland – heißt
Verlust der Sprache. Mascha Kaléko spricht gut
Englisch, aber sie kann und will nur in deutsch
schreiben. 1939 veröffentlicht sie ihre Gedichte im Aufbau, der von
deutschen Emigranten gegründeten Zeitschrift. Später, wenn sie davon
erzählt, ist sie stolz darauf. Sie schreibt für Emigranten in der
Emigration, ihre Stimme wird zu einer Stimme für alle. Sie sei nie eine
Vielschreiberin gewesen, sagt sie. Ihre Arbeit war immer sorgfältig, dauerte
lange, sie feilte an der Sprache, auf eine Strophe hatte sie einmal Jahre
gewartet, bis sie endlich so geworden war, wie sie sie haben wollte. Sie ist
vielseitig begabt, schreibt Nonsens-Gedichte (Papagei und
Mamagei), Gedichte für Kinder (Wie’s auf dem
Mond zugeht), Chansons, auch Kurzprosa (Der Gott der kleinen Webefehler)
über das Leben in New York, in Greenwich Village.
Aber eine Dichterin braucht lebendige,
gesprochene Sprache, nicht nur Sprache durch Lektüre. Sie braucht das Land,
wo die Sprache gesprochen wird. Das Land ist Deutschland und Deutschland hat
sie ausgestoßen, ausgespuckt, sie ins Exil verbannt. Freunde und Verwandte
sind ermordet worden. Nach der Shoa ist auch ihr
Verhältnis zu Gott zwiespältig:
Ich
möchte in dieser Zeit nicht Herrgott sein.
Wie aber sage ich solches meinem Kinde? [...]
Lobet den Herrn, der schweigt! In solcher Zeit,
Vergib, o Hirt, – ist Schweigen ein Verbrechen.
Doch wie es scheint, ist Seine Heiligkeit
Auch für das frömmste Lämmlein nicht zu sprechen.
(Aus: Verse für keinen Psalter)
Gefühle sind nicht immer distanziert und
abgeklärt. Mascha Kaléko ist keine Heilige, sie
ist auch des Hasses fähig:
Hoere
Teutschland
(In
Memoriam Majdanek
und Buchenwald)
Der Tag
wird kommen, und er ist nicht fern,
Der Tag, da sie ans Hakenkreuz euch schlagen
Da wird nicht eine Seele um euch klagen,
Und nicht ein Hund beweinen seinen Herrn.
Umsäumt
von Stacheldraht und Kerkermauern,
Sind euch die frischen Gräber schon gerichtet,
Voll feister Würmer, die auf Nahrung lauern.
Habt ihr
die Gier in ihnen doch gezüchtet.
[...]
Wie hass’
ich euch, die mich den Haß gelehrt.
Erst 1956 fährt sie auf Lesereise wieder
dorthin. Es ist ihr Comeback, von Ernst Rowohlt initiiert: Er hat über
Alfred Polgar noch einmal Kontakt zu ihr aufgenommen, und Das lyrische
Stenogrammheft und Kleines Lesebuch für Große werden wieder aufgelegt. 1956
ist auch Heine-Jahr, der Jahrestag seines Todes, und sie schreibt das
Gedicht Deutschland, ein Kindermärchen:
"Da kam
der böse Wolf und fraß
Rotkäppchen." – weil sie nicht arisch.
Es heißt: die Wölfe im deutschen Wald
sind neuerdings streng vegetarisch.
Jeder Sturmbannführer ein Pazifist,
So lautet das liebliche Märchen,
Und wieder leben Jud und Christ
Wie Turteltaubenpärchen.
Man feiert den Dichter der "Loreley".
Sein Name wird langsam vertrauter.
Im Lesebuch steht "Heinrich Heine" sogar,
– Nicht: "unbekannter Autor".
[...]
Wie
gesagt, es soll ein erfrischender Wind
In neudeutschen Landen wehen.
Und wenn sie nicht gestorben sind ...
– Das mußte ich unbedingt sehen!
Die Reise ist ein Erfolg, sie kommt
wieder nach Deutschland, zwei Jahre später auch mit
Chemjo Vinaver zusammen, sie wohnen in
Hotelzimmern, sogar wieder in der Bleibtreustraße, in der sie früher gewohnt
haben. Ihr Kontakt reißt nicht mehr ab, obwohl ihr Verhältnis zu Deutschland
– und zu Berlin – durchaus ambivalent ist. Berührung und Begegnung mit den
Orten von früher, Begegnung mit einer ihr fremd gewordenen Stadt: "Wie ich
es finde? Ach, ich such es noch". Dort zu Hause fühlt sie sich nicht mehr.
Berlin bleibt für sie "Ein wunder und ein guter Punkt in meinem Leben".
Sie hat auf das Comeback große
Hoffnungen gesetzt, doch wider Erwarten, trotz ihres anfänglichen Erfolges,
der Begeisterung von neuen – und auch von alten – Lesern, verläuft es im
Sand. Mascha Kaléko wird für den Fontane-Preis
nominiert. Sie zieht ihre Bewerbung zurück, als sie erfährt,
daß Hans Egon Holthusen, der mit in der Jury
sitzt, bis 1937 in der Waffen-SS war. Ihre Haltung stößt auf Unverständnis,
zumal Holthusen durch die Amerikaner schon lange entnazifiziert ist.
Als sie in einem Interview in den
siebziger Jahren gefragt wird, warum sie nach Israel gezogen sei, antwortet
sie: Das sei selbstverständlich, Israel sei das Land ihrer Väter. Da das
Interview gerade in Jerusalem stattfindet, ist ihre Antwort vielleicht nur
geschickt und taktvoll. Nach Berlin könne sie nicht zurück, das ginge nicht,
käme also in Frage nur Israel. Sicher ist, daß
Anfang der sechziger Jahre Chemjo
Vinaver ermutigt wird, nach Israel zu ziehen, um
dort einen erstklassigen Chor des noch jungen Staates aufzubauen. Er
dirigiert zunächst den Rundfunkchor und beginnt mit der Gründung des neuen
Jerusalem-Chors. Aber das Projekt erweist sich als problematisch, und der
Chor wird bereits nach ein paar Jahren aufgelöst.
Vinaver sammelt zwar weiterhin Materialien für den zweiten Teil
seiner Anthologie jüdischer Musik, aber seine Gesundheit – seelisch und
körperlich – wird durch das Scheitern des Chors wesentlich beeinträchtigt.
Auch Mascha Kaléko leidet an einer beruflichen
Flaute; Ernst Rowohlt ist gestorben, das Interesse an ihrem Werk
läßt nach. In Israel fühlt sie sich nicht zu
Hause, oder lediglich, wenn man Deutsch spricht. Mit Iwrit kommt sie nicht
zurecht. So wie für Else Lasker-Schüler zwanzig
Jahre früher bietet ihr Jerusalem kein echtes Zuhause. Die
Vinavers reisen häufig nach Europa, nach
Deutschland, aber die Krankenhausaufenthalte für Chemjo
Vinaver werden häufiger, auch ihre labile
Gesundheit verschlechtert sich. 1968 werden ihre neuen Gedichte Das
himmelgraue Poesie-Album veröffentlicht, Anfang des Jahres beginnt
Vinaver, seine Memoiren aufzuschreiben: so wie
Mascha Kaléko früher Tagebuch führte, schreibt
er sie für Steven in Form von Briefen. Dann schlägt die Katastrophe zu:
Steven, der von beiden abgöttisch geliebte Sohn, ihr Einzelkind – "Wir leben
von seinen Telegrammen und Telefongesprächen" – erst Anfang dreißig,
künstlerisch sehr begabt und erfolgreich, erkrankt und stirbt.
Wenig später, Ende 1973, stirbt
Chemjo Vinaver.
Jetzt steht sie vor der Einsamkeit, vor der sie sich schon lange gefürchtet
hat. Sie kann nicht ohne Mann, ohne Bindung leben. Doch, das ist die Ironie,
ein Damm bricht auf, ihre Schreibblockade löst sich, in ihrem letzten
Lebensjahr schreibt sie ihre schönsten, reifsten, leidenschaftlichsten
Gedichte überhaupt – sie werden mit ihrem restlichen
Nachlaß erst postum veröffentlicht.
Bei ihrem letzten Besuch in Berlin
überlegt sie, dort eine Zweitwohnung anzumieten. In die Zeit darf und kann
keiner zurück – wenige Monate später stirbt Mascha
Kaléko in Zürich, zwischen Berlin und Jerusalem, im Exil.
Gekürzte Fassung aus:
Britta Jürgs (Hg.):
Leider hab ich's Fliegen ganz verlernt. Portraits von Künstlerinnen
und Schriftstellerinnen der Neuen Sachlichkeit. Berlin:
AvivA Verlag, 2000.
Mascha
Kaléko:
Die paar leuchtenden Jahre, dtv 2003.
Führungen zu Lebens- und Arbeitsorten von Mascha Kaléko
in Berlin
Juden und jüdisches Leben in Berlin
hagalil.com
21-01-05
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