
27. Februar 1943:
"Es hatte keinen Zweck, hier zu leben"
Vor genau 60 Jahren wurden in
Berlin die letzten Juden der Hauptstadt deportiert. Nach der
"Fabrikaktion" entging dem Tod nur noch, wer sich versteckte. Einige
überlebten so - mit der Hilfe von wenigen Mutigen
Von Philipp Gessler
Rolf Joseph greift zu seinem zerfledderten
Adressbüchlein, tippt mit seiner starken Tischlerrechten ins Telefon
eine Nummer ein, Auguste Meder meldet sich. Gusti, wie er sie
ruppig-zärtlich nennt, wohnt gleich um die Ecke. Der 82-Jährige hat ein
Treffen arrangiert, um über die Zeit damals zu sprechen, als sie beide
in Berlin versteckt waren vor den Nazis, die sie ermorden wollten.
Vergeblich. Er überlebte sie alle. "Von mir denken alle, ich bin schon
tot", sagt Joseph, der Überlebende.
Es gibt sie noch, die Letzten der nach
neuesten Schätzungen rund 10.000 bis 15.000 Juden, die zwischen 1941 und
dem Kriegsende in Deutschland untertauchten, um dem sicheren Tod in
Auschwitz oder anderen KZ zu entgehen. Mehr als 5.000 von ihnen
versteckten sich in Berlin, wo vor Beginn der Naziherrschaft etwa
160.000 Juden, ein Drittel der deutschen Juden, lebten. Mehr als 56.000
Männer, Frauen und Kinder wurden aus Berlin deportiert - die letzten,
über 7.000, bei der "Fabrikaktion" heute vor 60 Jahren.
Bei dieser Großrazzia verhafteten Gestapo und
SS alle Juden, die noch als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in
Rüstungsbetrieben der Hauptstadt schuften musste. Nach der
"Fabrikaktion" mussten sie sich verstecken, wen Polizei oder Gestapo
erwischten, wurde deportiert. Nur etwa einem Drittel derjenigen, die
zeitweise illegal lebten, 3.000 bis 5.000 Menschen, gelang es, so zu
überleben.
Wie Gusti Meder. Sie hatte sich mit ihrem Mann
auf den Tag vorbereitet, da auch sie abgeholt werden würden. "Wir wollen
uns nicht abschlachten lassen", schworen sie sich. Ein Koffer war
sicherheitshalber schon vorher bei einer Freundin verstaut, zu Hause
waren die Rucksäcke fertig gepackt. Von der "Fabrikaktion" bekamen sie
schon vorher Wind - in allerletzter Minute, am 27. Februar 1943,
tauchten sie unter.
Joseph hatte schon vorher mit seinem Bruder
Alfred Zuflucht in der Illegalität gesucht. Es war der Endpunkt einer
langen Leidensgeschichte: In der Schule war Joseph jeden Tag von einem
Nazi-Lehrer mit dem Rohrstock verdroschen worden. Einfach weil er Jude
war. Er schwänzte ständig, ging frühzeitig von der Schule ab. Immerhin
gelang es ihm noch, weil der Meister beide Augen zudrückte, eine
Tischlerlehre abzuschließen. Nur die theoretische Prüfung durfte er
nicht mehr machen, da er dabei angeben musste, nicht "arisch" zu sein.
Der Tischlermeister, ein "anständiger Kerl", wurde gemaßregelt - nur
weil sein Sohn den Betrieb übernahm und in die SA eintrat, blieb der
Familie der Betrieb erhalten. Joseph aber musste von da an Zwangsarbeit
leisten, erst bei IG Farben, später bei einer Tischlerei in Pankow. Nach
der Pogromnacht vom 9. November 1938, der so genannten Kristallnacht,
radelte er die brennenden Synagogen der Hauptstadt ab, beobachtete, wie
SA-Trupps in der Nähe des Alexanderplatzes Schaufenster "jüdischer"
Geschäfte einschlugen. Als er mitbekam, wie sich ordentliche deutsche
Volksgenossen über die Preziosen eines Juwelierladens hermachten, hatte
er endgültig genug: Mit seinem Bruder flehte er seinen Vater an,
zusammen aus Deutschland zu fliehen. "Es hatte keinen Zweck, in
Deutschland zu leben", viele spuckten einen auf der Straße an, erzählt
er. Einfach so.
Doch sein Vater, ein Frontsoldat aus dem
Ersten Weltkrieg, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz, glaubte nicht,
dass er, ein Deutscher von Kopf bis Fuß, umgebracht werden könnte: "Mit
mir wird man das nicht machen." An einem Samstag Anfang Juni 1942 sahen
Joseph und sein Bruder, wie ihre Eltern in einen Möbelwagen getrieben
und abgeholt wurden. Sie kamen zuerst ins KZ Theresienstadt, später nach
Auschwitz, wo sie ermordert wurden. Seine Eltern hatten jeweils acht
Geschwister. Keiner hat den Holocaust überlebt.
Rolf und sein Bruder Alfred konnten nicht mehr
nach Hause, sie tauchten unter, schliefen die ersten Monate auf
Friedhöfen, in Wäldern, in Bahnhöfen. Jede Polizeistreife konnte das
Todesurteil sein: "Es war eine furchtbare Zeit." Kein Geld, keine
Unterkunft, keine Lebensmittelkarten. Einmal die Woche, mittwochs um 11
Uhr, traf sich Joseph mit seinem Bruder am Nettelbeckplatz im Wedding.
Irgendwann hatten sie Glück: Eine Bekannte der Familie kannte eine
Lumpensammlerin, Marie Burde, die sie in ihre Kellerwohnung aufnahm.
"Der Mann ist in Not, dem helfe ich, sagte sie", erinnert sich Joseph.
Auch sein Bruder und ein Freund kamen bei ihr unter.
Marie Burde, damals Mitte 40, war eine
sonderbare Frau: Sie hauste in einer Kellerwohnung, hatte keine Möbel,
sondern lebte auf Zeitungsstapeln. Auf Hygiene achtete sie nicht, voller
Flöhe war die Wohnung. Sie war Vegetarierin, was ihr ermöglichte, das
Fleisch, das sie für ihre Lebensmittelkarten bekam, ihren versteckten
Mitbewohnern zu geben. Sie sprach mehrere Sprachen, war
"hochintelligent" - aber es konnte sein, dass sie zwei linke Schuhe
anzog. "Mieze" nannten sie die drei versteckten Männer zärtlich: "Die
wäre für uns gestorben."
Dann das Unglück: Vor einem Treffen mit seinem
Bruder auf dem Nettelbeckplatz geriet Joseph in eine Ausweiskontrolle:
Er nannte sich Paul Wagner - doch dummerweise wurde gerade ein Mann
dieses Namens gesucht. In einem Keller der Gestapo in der Burgstraße
wurde er gefoltert. Er erzählte nicht, wo sein Bruder war. Noch heute
hat Joseph epileptische Anfälle von den damaligen Schlägen auf den Kopf.
In einem Viehwaggon wurde er dann mit fünf
anderen Gefangenen Richtung Auschwitz gefahren. Eine Zange, die er
seltsamerweise im Waggon fand, ermöglichte ihnen die Flucht. Doch schon
nach zwei Tagen wurden sie wieder gefangen. Es ging zurück ins
Gestapo-Gefängnis, wo er wieder gefoltert wurde. Eines Nachts kratzte
sich Joseph selbst die Haut auf: Es sollte wie Scharlach aussehen, wovor
die Gestapo-Leute Panik hatten. Ein herbeigerufener Arzt erkannte den
Betrug, diagnostizierte aber dennoch Scharlach und wies ihn ins Jüdische
Krankenhaus ein.
Als er nach kurzer Zeit dort wieder abgeholt
werden sollte, warnte ihn eine Krankenschwester eine halbe Stunde
vorher. Mit zwei nassen Handtüchern bog er die Fenstergitter seines
Krankenzimmers auseinander, zwängte sich durch ("Ich wog nur noch 92
Pfund") und sprang aus dem zweiten Stock auf die Straße. Er sah noch die
SS ins Krankenhaus laufen. Mit gebrochenem Rückgrat schaffte er es
zurück in die Kellerwohnung von Marie Burde. "Ein halbes Jahr habe ich
vor Schmerzen nur geschrien." Bei Marie Burde erlebten Joseph, sein
Bruder und ihr gemeinsamer Freund das Kriegsende.
Auch Gusti Meder überlebte. Die meiste Zeit
versteckte sie sich in einem Schrebergarten in Friedrichsfelde Ost. Ihr
Mann aber wurde entdeckt und nach Theresienstadt deportiert. Er
überlebte. Sie hatte für die höchste Not einen geladenen Revolver immer
bei sich - benutzt hat sie ihn nie. Ähnlich wie bei Joseph halfen auch
ihr fast nur die Außenseiter der Gesellschaft, Prostituierte etwa oder
Zuhälter. Marie Burde erhielt hierzulande nach dem Krieg kaum
Anerkennung. Nach ihrem Tod Anfang der Fünfzigerjahre wurde sie in der
Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem mit einem Ehrenbaum geehrt. Gusti
Meder wanderte nach Australien aus, aber kam später wieder nach Berlin
zurück. Joseph blieb hier irgendwie hängen und war bis zu seiner
Pensionierung 1981 Betriebsleiter der Deutschen Waggonmaschinenfabrik am
Eichborndamm. Die meiste Zeit verbringt er heute damit, Jugendlichen in
Schulen von seiner traurigen, abenteuerlichen Geschichte zu erzählen.
Für diese ehrenamtliche Arbeit erhielt er vergangenes Jahr das
Bundesverdienstkreuz.
Dies Engagement fällt ihm zunehmend schwer,
oft hat er schon daran gedacht aufzuhören. Aber neulich war er mal
wieder in einer Schule in Marzahn, wo ihm die Schüler, auf einer langen
Treppe auf jeder Stufe stehend, jeweils eine Blume geschenkt haben. "Das
hat mich so erschüttert", sagt er, und nur dieses eine Mal zittert seine
Stimme, "Da wusste ich: Ich muss weitermachen."
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