Die größte jüdische Gemeinde
der Bundesrepublik steht vor einem Umbruch: Nach den gestern veröffentlichten
Ergebnissen der Wahlen zum Gemeindeparlament, zur Repräsentantenversammlung
(RV), dürfte der jetzige Gemeindechef Alexander Brenner, 73, am 22. Oktober
abgewählt werden. An diesem Tag werden die Repräsentanten den fünfköpfigen
Gemeindevorstand wählen, aus dem dann der Kopf der Gemeinde bestimmt wird. Die
Wahlen zur RV hat die Liste "Kadima-Vorwärts" des Rechtsanwalts und Notars
Albert Meyer mit Zweidrittelmehrheit gewonnen. Der 56 Jahre alte Meyer kann mit
dieser Mehrheit leicht Gemeindechef werden. Sein Interesse an dem Posten hat er
schon bekundet.
Den Durchmarsch der Meyer-Truppe
hatte niemand in der Gemeinde erwartet. Meyer und Brenner zeigten sich
überrascht über das deutliche Ergebnis. Der Urnengang war nötig geworden,
nachdem sich die RV im März nach zweieinhalbjähriger Amtszeit vorzeitig selbst
aufgelöst hatte. Die Differenzen im Vorstand der Gemeinde und die harten
Streitigkeiten in der RV machten es unmöglich, die Gemeinde zu führen - und das,
obwohl Führung bei einem Defizit von 1,6 Millionen Euro im Etat dringend nötig
gewesen wäre.
Von den 12.000 Mitgliedern der
Gemeinde waren knapp 10.000 wahlberechtigt. Etwa 3.800 nahmen an der Wahl teil,
das sind 39,8 Prozent der Wahlberechtigten. Erstaunlich hoch war die Zahl der
Wahlbriefe: 1.757, also fast die Hälfte aller abgegebenen Stimmen. Brenner hatte
mit 1.657 Stimmen die meisten Befürworter hinter sich. Dahinter kam Meyer mit
1.622 Stimmen. Während Brenner jedoch ohne Unterstützung einer Liste antrat, hat
Meyer die Kadima-Liste hinter sich. Sie errang 16 von 21 Sitzen in der RV.
Brenner zeigte sich angesichts seines
persönlich guten Ergebnisses erfreut über den Ausgang der Wahl. Ob er noch
einmal als Gemeindevorsitzender antreten werde und Chancen habe, das sei "alles
offen" und abhängig von den Absprachen, die in den kommenden Wochen unter den
Repräsentanten liefen.
Meyer wie Brenner zeigten sich
verwundert, wie gering der Anteil der russischsprachigen Zuwanderer in der RV
sei. Obwohl bei den Gemeindemitgliedern klar in der Mehrheit, sind sie in der RV
deutlich in der Minderheit. Brenner vermutet, ein Grund für dieses Ergebnis sei
die geringere Wahlbeteiligung der Zuwanderer. Die Kadima-Liste habe es dagegen
vermocht, mit guter Wahlkampforganisation und Werbung viele Stimmen zu gewinnen.
Einige Überraschungen gab es auch bei
den Namen der gescheiterten Bewerbungen um einen Sitz in der RV. So ist der
liberale Rabbiner Walter Rothschild nicht mehr im Gemeindeparlament vertreten.
Er erreichte nur den undankbaren 22. Platz. Rausgefallen sind auch Cynthia Kain,
die Sozialdezernentin der Gemeinde, und Boris Schapiro, der Bildungsdezernent.
Nach zwei Jahren wieder dabei ist dagegen der Leiter des
Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, Julius
Schoeps. Mit Meyer gehört er zu den profiliertesten liberalen Juden Berlins.
Insgesamt haben die russischsprachigen Zuwanderer und die Orthodoxen an Einfluss
verloren.
taz vom 16.09.2003