taz: Glückwünsch, Herr
Meyer. Kandidaten von Ihrer Liste "Kadima - Vorwärts" haben mit 16 von 21 Sitzen
im Gemeindeparlament, der Repräsentantenversammlung, klar die absolute Mehrheit.
Albert Meyer:
Danke, das nennt man wohl einen landslide victory, einen
Erdrutschsieg. Ein Ergebnis in dieser Deutlichkeit hat es noch nie gegeben.
Selbst der langjährige Vorsitzende der Gemeinde und frühere Vorsitzende des
Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, hat nicht mit solchen Mehrheiten regiert,
auch nicht in den Fünfzigerjahren. Eine absolute Mehrheit einer Liste gab es
noch nie im Gemeindeparlament.
Das Ergebnis kam in
dieser Deutlichkeit für alle überraschend - worauf führen Sie den Sieg, zumal in
dieser Höhe, zurück?
Es zeigt, dass die Gemeinde eine
Erneuerung wollte.
Ganz klar haben Sie sich
noch nicht geäußert, ob Sie auch Gemeindevorsitzender werden wollen.
Ich sehe der Gefahr ins Auge.
Grundsätzlich stehe ich dazu bereit. Es sind allerdings noch ein paar private
Fragen zu klären.
Das beste
Stimmenergebnis hat aber Alexander Brenner, der jetzige Gemeindevorsitzende,
erzielt - sie kamen knapp hinter ihm auf Platz 2. Ginge es danach, könnte er
auch weiter Gemeindechef bleiben.
Herr Dr. Brenner hat ein
herausragendes Ergebnis erzielt. Es ist Ausdruck für den Respekt, der ihm
gebührt. Das Wahlergebnis zeigt aber noch etwas anderes: Zwei
Vorstandsmitglieder, mit denen Brenner in letzter Zeit so viele Schwierigkeiten
hatte, sind nicht in die Repräsentantenversammlung gewählt worden, nämlich die
bisherige Sozialdezernentin Cynthia Kain und der Bildungsdezernent Boris
Schapiro. Die anderen sind gar nicht mehr angetreten, um der Niederlage aus dem
Weg zu gehen. Teile des Vorstands hatten versucht, Brenner kaputt zu machen. Die
wurden von den Wählerinnen und Wählern jetzt abgestraft. Ich werde Brenner zu
überzeugen versuchen, weiter eine Aufgabe für die Gemeinde zu übernehmen -
vielleicht als Vertreter der Gemeinde im Zentralrat und im Rundfunkrat.
Sehr überraschend ist
auch, dass relativ wenige Vertreter der russischsprachigen Gemeindemitglieder in
der Repräsentantenversammlung zu finden sind, obwohl sie zwei Drittel der
Mitglieder ausmachen.
Das hat mich auch überrascht. Aber
von meiner Liste sind ja auch namhafte russischsprachige Mitglieder gewählt
worden. Es ist klar, dass eher Vertreter der alten Westberliner Gemeinde in die
Repräsentantenversammlung gewählt wurden. Aber natürlich werde ich mich als
Gemeindevorsitzender bemühen, engen Kontakt mit den neuen Mitgliedern zu halten.
Was haben Sie sich als
Programm vorgenommen?
Die Gemeinde braucht eine
Strukturreform. Sie verfügt, auch wegen ihres sozialen Engagements etwa für das
Jüdische Krankenhaus, über einen Jahresetat von 25 Millionen Euro - deshalb
braucht die Gemeinde ein professionelles und nicht nur ehrenamtliches
Management. Ich plane, einen Manager einzustellen, der die Gemeinde führt und
dem Vorstand Rechenschaft schuldig ist. Außerdem sollte ein wirklich
deutschsprachiger Rabbiner eingestellt werden - so wie es die alten
Gemeindemitglieder auch früher gewohnt waren. Schließlich müssen wir den Streit
in der Gemeinde reduzieren. Er muss vor allem intern gelöst und nicht dauernd
nach außen getragen werden.
Und das Defizit der
Gemeinde in Höhe von 1,6 Millionen Euro muss abgebaut werden.
Eigentlich ist das hier angesichts
der hohen staatlichen Unterstützung eine wirtschaftlich äußerst gesunde
Gemeinde. Das Problem ist, dass uns die Werte und die Moral verloren gegangen
sind. Es wurden Leute gefeuert, deren Abfindungen uns nun hunderttausende Euro
kosten. Für das geplante jüdische Pflegeheim wurden schon jetzt, ohne dass
bisher ein Stein steht, 1,4 Millionen Euro allein für die Ausschreibung
verpulvert. Das riecht nach Vetternwirtschaft.
taz vom 16.09.2003