Nach den Gemeindewahlen:
"Weil Gott hat euch gewählt", verkündet der Rabbiner
Der neue Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde heißt Albert Meyer
- es war ein hartes Stück Arbeit, bis er gewählt war. Und wie immer gab es Chaos...
Von Philipp Gessler
Ruth Galinski ist da! Das sei sie
ihrem "Mann schuldig", sagt die 82-Jährige. Ihr Verstorbener leitete lange Jahre
den Zentralrat der Juden in Deutschland und die Jüdische Gemeinde zu Berlin.
Heinz Galinski: der Übervater der hiesigen Gemeinde, der größten der
Bundesrepublik. An diesem Mittwochabend konstitutiert sich die
Repräsentantenversammlung (RV), das Gemeindeparlament. Und ein neuer
Vorsitzender wird hier im Festsaal des Gemeindezentrums an der Fasanenstraße
gewählt.
"Ein neuer Anfang", sagt Ruth
Galinski. Seit fünf Jahren war sie nicht mehr bei Sitzungen der RV - völlig zu
Recht. Ihr Mann war, vorsichtig gesagt, durchsetzungsfähig. Die RV-Sitzungen der
vergangenen Jahre dagegen endeten meist in Chaos und Streit. Und zwar gern nach
Mitternacht. Auch deshalb gab es vorgezogene Neuwahlen und, wegen einer
Anfechtung, eine Wiederholungswahl im November. Dabei errang die liberale Gruppe
Kadima um den Notar Albert Meyer eine 95-Prozent-Mehrheit. Ganz klar also, was
an diesem Abend geschehen wird. Kadima hat 20 von 21 Sitzen.
Der Alterspräsident Hubert Combé
eröffnet die Sitzung, bittet, aufzustehen für ein stilles Gedenken an Heinz
Galinski. Alles wie immer. Doch dann bemerkt er mit Blick auf die Gegner der
Septemberwahl, dass man nicht zu viel Pulver in eine Kanone stopfen sollte, wenn
man denn glaube, damit auf Fliegen schießen zu müssen - das könne nämlich nach
hinten losgehen. Erste Lacher im Saal. Seine Mitstreiter von Kadima ermahnt
Combé überdeutlich, "ihre Übermacht nicht zu missbrauchen, um die Opposition
völlig platt zu machen". Alle lachen. Die Opposition besteht nur aus dem
bisherigen Gemeindechef Alexander Brenner. Die Würde der Veranstaltung rutscht
ab - ins Chaos einer Familienfeier.
Der orthodoxe Rabbiner Yitzchak
Ehrenberg - weißer Bart, schwarzer Gehrock, jiddischer Duktus - soll eigentlich
nur eine kurze Ansprache halten und ein Gebet sprechen, kann sich aber eine
längliche Predigt nicht verkneifen. Immer wieder kippt sein Pathos um in
Lächerlichkeit - etwa als er die Repräsentanten ermahnt, sie säßen hier, "weil
Gott hat euch gewählt". Unruhe im Saal. "Gott stimmt zu dieser Wahl", versucht
der Rabbiner sich zu verbessern. Aber man ist höflich zu Rabbinern. In einer der
hinteren Reihen wird nur noch gelästert. Es wird nicht besser dadurch, dass der
zweite Rabbiner Chaim Rozwaski in seiner Ansprache von einer "coronation"
spricht, einer Krönung.
Dann wird das verdiente alte
Gemeindemitglied Sylva Franke mit überwältigender Kadima-Mehrheit zur
Vorsitzenden der RV gewählt. In ihrer Ansprache erinnert die Hotelbesitzerin
natürlich zunächst an Heinz Galinski. Sie sagt, sie glaube, "dass wir mit Albert
Meyer den richtigen Wurf getan haben". Dabei ist der noch gar nicht gewählt. So
geht es weiter. Den größten Lacher des Abends landet sie mit der Aussage, man
müsse alles dafür tun, dass "die Neueinwanderer bei uns intrigiert werden".
Sylva Franke ist sichtlich überfordert mit der Leitung der Sitzung ("Ich bitte,
jetzt Herrn Aizikovitsh zu wählen"), aber irgendwann ist es dann doch geschafft:
Alle fünf Kadima-Kandidaten für den Vorstand der Gemeinde wurden mit 19 oder 20
Stimmen gewählt, unter ihnen neben Meyer der Historiker Julius Schoeps, der
Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Potsdam.
Der neu gewählte Vorstand zieht sich
zur Wahl des Vorsitzenden zurück - so schnell geht das, dass die meisten
Gemeindemitglieder noch außerhalb des Saals stehen, als Meyer seine Antrittsrede
hält. Er erinnert an seine Eltern, die die Nazizeit in einem Versteck nahe
Potsdam überlebten. Aber selbst diese dramatische Geschichte geht im allgemeinen
Aufbruch praktisch unter. Meyer macht das Beste draus und fasst sich kurz. Ruth
Galinski ist längst gegangen. Alles löst sich in Chaos auf. Es war wie immer bei
RV-Sitzungen. Es war herrlich.
taz vom 09.01.2004
IW /
hagalil.com / 2004-01-09
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