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Junge Israelis in der Hauptstadt:
Kibbuz Berlin

In den letzten Jahren sind etliche junge Israelis deutscher Herkunft nach Berlin gezogen. Inzwischen unterhalten sie einen kleinen Freundeskreis. Shlomit Tulgan hat vier von ihnen getroffen...

Von Shlomit Tulgan

Wir sitzen in einem Treptower Plattenbau bei Tamar und Nadav. Kennen gelernt haben sie sich an der Uni in Tel Aviv, geheiratet haben sie in einem Berliner Standesamt. Ihre Gastfreundlichkeit hat sich im "Kibbuz Berlin", so nennt sich der Freundeskreis scherzhaft, herumgesprochen. Der Tee dampft schon auf dem Tisch und Nadav bringt selbst gebackene Kekse. An der Wand hängt ein Bild von Itzhak Rabin, eine Armeeurkunde, ein Berliner Stadtplan. Mit am Tisch sitzen Naomi und Ruven. Naomi kommt aus Jerusalem. Ruven wurde in Nürnberg geboren und ist in Kvar Saba aufgewachsen… Schwer zu sagen, wie viele Menschen zum Kibbuz Berlin gehören – es sind vielleicht 30 Leute, ständig kommen neue hinzu. Wieso aber verlassen immer mehr junge Menschen Israel in Richtung Deutschland und wie reagieren ihre Angehörigen darauf?

Nadav hatte einen guten Grund: Er schreibt seine Doktorarbeit über den Terrorismus der 70er Jahre in Deutschland. Tamar ging mit ihm. Auch sie sitzt an einer sozialwissenschaftlichen Dissertation. Nachdem sie durch zwei Terroranschläge in Tel Aviv traumatisiert wurde, erhoffen sich ihre Eltern hier nun auch mehr Sicherheit für ihre Tochter. Ruven, der Dritte am Tisch, sah in Israel keine Zukunft für sich. Er fühlte sich wie im Stand-By-Modus, während er in Berlin ein aktives Leben führt. Im Moment lernt er Deutsch und jobbt. Ein Hauptgrund Israel zu verlassen, war die Armee. Nach einigen Erlebnissen in den besetzten Gebieten stand für ihn fest, dass er nicht zum Militär will. Seine Freunde respektierten das, sagt er. Naomi wiederum wollte den Unterschied zwischen Israel und dem Ausland kennen lernen. Sie setzt ihr Filmstudium in Berlin fort. Das Thema Holocaust belastete sie anfangs hier mehr als in Israel. "Als ich die Mahnmäler an einigen U-Bahnstationen sah, wurde mir erst richtig bewusst, dass ich mich am Ort der furchtbaren Geschehen befinde, von denen uns in Israel immer erzählt wurde. Aber, na ja… gleicher Ort… andere Zeit… oder?!" Ihre Freunde reagierten auf ihre Entscheidung für Deutschland sehr unterschiedlich. Die Reaktionen reichten von Holocaustwitzen am Telefon bis zu begeisterten Prophezeiungen eines aufregenden Großstadtlebens.

Die zweite Tasse Tee wird ausgeschenkt. Man erinnert sich an seine letzte Zeit in Israel. Tamar empfand das Leben nach der zweiten Intifada als sehr belastend. "Viele Menschen spielten plötzlich verrückt, konnten nicht mehr sachlich argumentieren und dachten nur emotional. Das Thema Menschenrechte hat anscheinend auf beiden Seiten keinen Wert mehr. Alles ist momentan voller Hass und Gewalt." Für Nadav reicht allein schon die miserable Wirtschaftslage. "Meine Eltern raten uns, nicht zurück zukehren. Wenn man etwas erreichen will, sollte man erst wo anders etwas aufbauen."

Bei der Frage, in was für einem Israel sie gern leben würden, scheiden sich die Geister. Nadav will eine klare Grenze. An eine arabisch-israelische Gesellschaft glaubt er nicht mehr. "Im Interesse Israels sollten wir die besetzten Gebiete abgeben und eine Grenze zwischen ihnen und uns ziehen. Der Staat ist stark genug zum Existieren, aber die Zivilgesellschaft geht zu Grunde und wenn es noch lange so weiter geht, wird das Israel, das wir lieben, nicht mehr existieren."

Ruven träumt von einem Israel ohne Mauern. Araber und Juden als Nachbarn in einer gemeinsamen, toleranten Gesellschaft. "Dann bräuchten wir auch keine Armee!" fügt er lachend hinzu, verschränkt die Arme und lehnt sich zurück. Naomi will zwei getrennte Staaten, die zusammenarbeiten. "Israel hat aber die Pflicht, Palästina ökonomisch wieder aufzubauen!" "Und warum brauchen wir dann eine Mauer?", will Ruven wissen. "Na, ich glaube, dass die uns endlich los sein wollen!" Alle fangen an zu lachen.

Tamar findet eine klare Trennung von Staat und Religion wichtig. "Die israelische Gesellschaft hat die Intention Herzls total vergessen. Es sollte ein Land werden, das uns Juden schützt, uns die Freiheit gibt, unsere Kultur und Religion individuell zu entfalten und anderen Völkern wie ein normaler Staat, ohne Arroganz entgegen zu treten. Nichts von dem ist heute real." Ihre bisherige Zeit in Berlin empfindet sie als Erweiterung ihres Horizonts. "Bevor ich hierher kam, hatte ich keine Ahnung, wie viele interessante, fremde Kulturen es gibt. Berlin besitzt ein faszinierend reiches Menü kultureller und intellektueller Möglichkeiten, die von vielen Berlinern leider nicht wahrgenommen werden."

Keiner der Anwesenden sieht seinen Aufenthalt als Notlösung an. Tamar schwärmt sogar: "Jedes Mal, wenn ich zur Uni oder zur Bibliothek gehe, könnte ich vor Freude schreien. Ich finde es hier einfach geil! Die Architektur, die Kultur, die saftige Natur, die Seen…" Nadav unterbricht: "Na ja, es gibt auf der Welt grünere Orte und so tolerant sind die Leute hier auch nicht. Finanziell ist das Leben allerdings leichter. In Israel mussten wir neben dem Studium Vollzeitjobs machen, um über die Runden zu kommen. Hier können wir von Teilzeitjobs nicht nur besser leben, sondern uns vor allem auf unsere wissenschaftliche Arbeit konzentrieren."

Beim Thema Heimweh bekommen dennoch alle verträumte Augen. Nadav vermisst die brüderliche Lockerheit seiner israelischen Bekannten. Hier könne man sich seiner Meinung nach nur auf Schriftliches verlassen, wo in Israel ein Handschlag reiche. Tamar sehnt sich nach ihren Eltern und dem leckeren Essen. Ruven vermisst das Meer und Naomi die Sonne. "Oh ja, die Sonne!", fällt auch Ruven ein. "Die hat genervt!" meint Nadav und kratzt seine Sommersprossen.

Heißt Israel zu verlassen, die jüdische Identität aufzugeben? Naomi meint, dass man in Israel jüdische Kultur einfach konsumiere und "hier müssen wir unsere Identität selber pflegen." So trifft sich der Kibbuz Berlin regelmäßig zu Festen und anderen Aktivitäten. Tamar und Nadav organisierten zum Beispiel einen Seder mit einer eigens umgeschriebenen Haggada, die sich auf aktuelle Themen wie Freiheit und Gleichheit bezog. Keiner der Feiertage fällt unter den Tisch. Und auf die Frage, ob sie sich Sorgen über den Verlust der jüdischen Identität machen, reagiert Naomi souverän: "Ich bin mir bewusst, dass diese Angst seit 2000 Jahren existiert. Wir müssen uns damit abfinden, dass jede Generation für sich entscheiden muss, was sie mit ihrer Identität anfangen will."

Die Jüdische Gemeinde scheint ihnen dabei keine Hilfe zu sein. Nadav sagt: "Als wir uns nach einem Deutschkurs erkundigten, hieß es, dass die nur für russische Einwanderer sind". Viele Israelis fühlen sich nicht willkommen in der Gemeinde und Tamar meint: "Die haben kein Problem mit säkularen russischen Juden, dafür aber wohl eins mit säkularen Israelis." Ruven fügt achselzuckend hinzu: "Ich war einmal dort. Aber ich hab kein Wort verstanden. Ich glaube, sie meinten: 'Hau Ab!'" Alle lachen.

Es fängt an zu dämmern. Nadav schaltet das Licht an. Nachdenklich schauen alle dem aufsteigenden Dampf in ihren Teegläsern nach. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte. Mal streiten sie sich, mal helfen sie sich beim Renovieren, mal geht man gemeinsam bei IKEA einkaufen. Was den kleinen Kibbuz Berlin zusammenhält, ist vor allem die gemeinsame Erfahrung, außerhalb der Heimat ein Leben aufzubauen. So wie ihre Großeltern erleben sie nach zwei Generationen, was es heißt, von vorn anzufangen und wie wichtig dabei Freunde sind.

Ruven will später mal in eine israelische Kommune nach Indien ziehen. Er hat dort schon acht Monate gelebt und vermisst die innere Ruhe, die er dort gefunden hatte. Tamar und Nadav können sich ein langes Leben in Deutschland nur deshalb nicht vorstellen, weil sie befürchten, dass sie hier keine berufliche Zukunft haben und deshalb wird wohl auch für sie irgendwann die Reise weitergehen. Wohin? – diese Frage können beide nicht beantworten. Tamar schaut verträumt zum Fenster "Ein Ort, an dem wir unsere Studien weiter betreiben können. Meinetwegen überall. Hauptsache, das Land ist sicher, tolerant und demokratisch." Nadav nickt und schaut ebenfalls zum Fenster: "Es regnet schon wieder!".

Erstveröffentlichung in: Jüdisches Berlin, Nov. 2004

al / hagalil.com / 2004-11-23

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