Spontane Hilfe:
Villa Emma
Von Ralf Bachmann
Wer von uns hat schon einmal von Nonantola gehört?
Und doch ist der kleine Ort unweit Modena uns weit näher, als es der
Name vermuten lässt. 1942/43 war die Villa Emma in Nonantola ein Jahr
lang Zufluchtsort für 73 jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich,
Polen und Jugoslawien und ihre Betreuer. Die meisten der 15 Berliner
Kinder kamen aus dem Scheunenviertel. Viele hatten polnisch-jüdische
Väter, die bekanntlich zu den ersten Opfern grausamster nazistischer
Verfolgung gehörten.
Der Historiker Dr. Klaus Voigt gab im jüdischen
Kulturverein Berlin einen anschaulichen Bericht über den fünfjährigen
Flucht- und Leidensweg der Kinder: wie sie mit Hilfe von
Recha Freier, der Leiterin der von ihr 1933 ins Leben gerufenen
Jugendalijah, zunächst nach Zagreb und dann, stets deutsche und
einheimische Nazis im Nacken, über Slowenien nach Italien kamen. Die
einjährige "Rast" in der Villa Emma mit einigermaßen geordnetem
Schulunterricht verdankten sie neben der umsichtigen Leitung durch Josef
Indig vom linken zionistischen Jugendverband Haschomer Hazair der Hilfe
italienischer jüdischer Organisationen, der Solidarität und Sympathie
der Bevölkerung und der etwas liberaleren Handhabung der
Judengesetzgebung in Italien. Als Italien nach dem Sturz Mussolinis von
deutschen Truppen besetzt wurde, versteckte man die Kinder mehrere
Wochen im Priesterseminar der Abteikirche, bei Nonnen und einheimischen
Familien, bis, wie durch ein Wunder, eine weitere Flucht gelang - die
nach der Schweiz, von wo sie 1945 nach Palästina gelangten. Fast alle
überlebten und blieben dort. Dr. Klaus Voigt, der die aufregende
Geschichte der Flucht in seinem Buch "Villa Emma. Jüdische Kinder auf
der Flucht 1940-1945" festgehalten hat, steht mit 35 von ihnen bis heute
in Kontakt.
In Nonantola selbst war die Episode mit den jüdischen
Kindern lange Zeit ein wenig in Vergessenheit geraten. "Dabei gibt es",
wie Dr. Voigt betont, "in Italien, wo weite Teile der Bevölkerung den
jüdischen Flüchtlingen mit Verständnis und Wohlwollen gegenüberstanden,
kaum ein zweites Beispiel für eine so breit angelegte spontane Hilfe wie
in Nonantola." Namentlich erwähnt er den Arzt Giuseppe Moreali und den
damals jungen Priester Don Arrigo Beccari, die in der "Allee der
Gerechten" in der Gedenkstätte Yad Vashem für ihre selbstlose und mutige
Haltung geehrt wurden. Erst in den letzten Jahren entschloss man sich,
eine Erinnerungsstätte in der Villa Emma einzurichten.
Als die Berliner Bildhauerin Ingeborg Hunzinger,
Mitglied des jüdischen Kulturvereins und selbst einst in italienischer
Emigration, Dr. Voigt kennenlernte und vom Geschehen in Nonantola
erfuhr, wollte sie den Ort kennenlernen. Spontan entschloss sie sich
dort, ein Werk für Nonantola und seine Bürger zu schaffen. Aus
gebranntem Ton entstand die Figur "La Melodia Perduta" (Die verlorene
Melodie). Eine eigenwillige Kombination: ein Flöte spielender
Drachentöter. "Er tötet nicht mit Waffen, er will das Töten beenden. Er
bezwingt den Drachen durch seine Melodie", erläutert die Künstlerin. Auf
einem sehr schwierigen Transportweg gelangte die überlebensgroße
Skulptur von Berlin nach Norditalien. In Nonantola wurde sie am 21.
April 2002, dem 57. Jahrestag der Befreiung, aufgestellt und ziert
seitdem die Parkanlage vor dem Rathaus.
Am Sonntag, dem 15. Dezember, 11.30 Uhr, wird in der
Akademie der Künste am Hanseatenweg die Fotoausstellung "Die jüdischen
Kinder der Villa Emma in Nonantola" eröffnet. Sie ist dann bis zum 19.
Januar 2003 zu besuchen.
Aus: jüdische Korrespondenz Oktober 2002
Jüdischer Kulturverein Berlin
Juden in Berlin
hagalil.com
15-10-02
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