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Schalom Berlin

Zukunftsvision und Erinnerung. Klischee-Vermarktung und Provokationskunst: Wer sich heute zwischen Wilmersdorf und Prenzlauer Berg auf die Spuren jüdischen Lebens begibt, macht unerwartete Entdeckungen. Ein Streifzug durch die Hauptstadt.

Wo kann, wo muß eine Geschichte über Jüdisches Leben in Berlin beginnen? Heute, da die Gemeinde 12.000 Mitglieder zählt? Mit der ersten urkundlichen Erwähnung vor 700 Jahren? 1933, als 170.000 Juden in der Stadt lebten oder 1945, als es noch 6.000 waren, die anderen ermordet und vertrieben? Sollte man einen Anfang suchen, der das Vergangene mit der unbekümmerten Distanz eines halben Jahrhunderts betrachten will, oder einen, der Mord und Zerstörung vor alles andere stellt?

Vielleicht sollte man sich zuallerst auf die Suche nach dem Alltäglichen machen. In der Großen Hamburger Straße in Mitte steht die mehr als 300 Jahre alte "Jüdische Freischule", die 1992 als Grundschule wieder eröffnet wurde, inzwischen ihre – jüdischen und nichtjüdischen – Schüler bis zum Abitur führt und neben Hebräisch auch jüdische Geschichte und Kultur unterrichtet. Die drei Teenager, die gerade aus dem Tor kommen, lachen über die Frage, ob es ihnen dort gefalle. "Für ‘ne Schule ist es ziemlich okay. Kleine Klassen, ziemlich nette Lehrer und so." Ob die Sicherheitsvorkehrungen, die Wachpolizei vor dem Gebäude sie störten? "Das ist ja nichts Neues für uns, wir sind’s gewöhnt", sagt einer achselzuckend. Hier in Mitte, im Schatten der Synagoge Oranienburger Straße, lag vor der Schoah der jüdische Bevölkerungsanteil bei zehn Prozent; inzwischen hat sich wieder ein – wenn auch unauffälligeres – Zentrum jüdischen Lebens entwickelt.

Das "Tabularium" direkt neben der Schule bietet Literatur vom koscheren Kochbuch bis zur jiddischen Witzsammlung, CDs mit Klezmer und israelischem Pop und Ritualien für die Feiertage; in der Tucholskystraße lädt das Beth-Café der Separatisten-Gemeinde Adass Jisroel zum Besuch; das "KolBo" in der Auguststraße verkauft koschere Lebensmittel und Weine. Vor dem Geschäft stehen unschlüssig fünf israelische Touristen. Sie kommen vom Gelände des ältesten jüdischen Friedhofs in der Großen Hamburger Straße, der 1827 geschlossen und 1943 von der Gestapo zerstört wurde. Sie haben den Grabstein des Philosophen und Aufklärers Moses Mendelssohn besichtigt, die eingeritzten Hakenkreuze auf der hebräischen Seite des Steins bemerkt. Sie suchen jetzt nach dem Weg in die Auguststraße 11-17, wo sich Sozialeinrichtungen vom Jüdischen Volksverein über Frauenbund und Mädchenwohnheim bis zur Arbeiterfürsorge fanden und wo 1941 die Gestapo in den Räumen des Jüdischen Krankenhauses ein Sammellager für alte und kranke Juden einrichtete. Inzwischen sind die sanierungsbedürftigen Gebäude der jüdischen Gemeinde zurückgegeben und sollen wieder für soziale und kulturelle Zwecke genutzt werden.

Wenn gestern und heute so untrennbar verwoben sind – sollte man dann nicht zuallererst nach den Jungen suchen, die die Vergangenheit nicht ruhen lassen und dennoch etwas ganz Neues schaffen?
Gabriel Heimler ist einer von ihnen. Der 37-jährige Künstler ist vor 13 Jahren von Paris nach Berlin gezogen, in das Land, aus dem seine Familie Anfang des 20. Jahrhunderts nach einem Judenprogom in Lübeck geflohen ist. Er ist der Gründer der Künstler- und Intellektuellengruppe Meshulash, deren provokante, verspielte Ausstellungen und Projekte einen besonderen Blick verraten.
"Wir wollen jüdische Kultur in Berlin präsent machen und zeigen, dass diese Kultur kein Fremdkörper ist, sondern seit Jahrhunderten ein integraler Bestandteil", sagt Gabriel Heimler. Bei einer Ausstellung installierte die Gruppe unter anderem einen "Interview-Raum". Auf bodenlangen Fahnen waren, kunstvoll verwoben, Zitate von jungen und alten Berliner Juden gedruckt.
Eine Stimme sehnt sich dort nach einem Jüdischen Leben in Berlin, das "normal ist, einfach da", und fürchtet doch, daß das "noch ein paar hundert Jahre brauchen wird". An anderer Stelle heißt es: "Außer meinen Eltern und zwei Tanten habe ich keine Familie mehr.(...) Ich habe Tränen der Verzweiflung und der Wut vergossen, aber (...) der Schrecken hinterließ keine Spuren. Trotz aller meiner Anstrengungen trug ich nicht eigentlich Trauer um meine vernichtete Familie, sondern schmückte mich mit ihr". Weiter unten folgt der Wunsch, daß die jüdische Identität "mich nicht mehr zum Nutznießer des Leidens oder zum verbrieften Inhaber der absoluten Gerechtigkeit macht. Ich möchte anderes im Judentum sehen als eine pathetische, demonstrative und leere Affirmation."

"Wir jungen Wahlberliner", sagt Gabriel Heimler, "wollen eine europäische Renaissance kosmopolitischen, jüdischen Lebens. Wir wollen nicht zu Opfern gestempelt werden, die man beschämt und mitleidig betrachtet. Und wir finden, daß man der Shoah auch gedenken kann, ohne dabei in Lähmung zu verfallen."

Auch für die Journalistin und Stadtführerin Iris Weiss ist Erinnern nicht gleich Erstarren. Auf ihren Rundgängen erklärt sie Berlinern und Touristen Rituale, Strömungen, Tendenzen ihrer Gemeinde und läßt jüdische Geschichte lebendig werden, "Herkömmliche Gedenkfeiern haben mir immer Unbehagen bereitet", sagt sie.
Sie führt ihre Gäste lieber zu den unprätentiösen Erinnerungsorten. Im Schöneberger Bayerischen Viertel zeigt sie ihnen die Schilder, die von Laternen hängen und die systematische Zerstörung jüdischen Lebens verdeutlichen. "1938: Jüdische Ärzte dürfen nicht mehr praktizieren." "1940: Brot und Lebensmittel dürfen Juden nur nachmittags von 4-5 Uhr einkaufen". "Vor der Deportation 1941: "Nun ist es soweit, morgen muss ich fort, das trifft mich natürlich. Ich werde dir schreiben."

Sie zeigt ihnen die Straßenecke, wo lange Marcel Reich-Ranitzki wohnte und auch, wo Alfred Kerr zu Hause war. Sie bringt sie zum Jüdischen Gemeindezentrum in der Fasanenstraße nahe des Ku’damms und erzählt von Heinz Galinski Sie erklärt anhand der Speisekarte des einzig streng koscheren Restaurants Berlins "Arche Noah" im ersten Stock des Gemeindeshauses die Speisegesetze Kaschrut. Und den Begriff koscher-style, den Lokale vom alteingesessenen "Oren" an der Oranienburger Straße bis zum "Liebermanns" im neueröffneten Jüdischen Museum für ihre jüdisch und israelisch orientierte Küche benutzen.

Sie führt sie auf den Koppenplatz in Mitte, wo zwischen ordentlichen Blumenrabatten und rosa Bänken ein Tisch aus Metall und zwei Esszimmerstühle aufgebaut sind; einer der Stühle ist umgefallen, als sei jemand hastig aufgestanden. Ein Gedicht von Nelly Sachs umläuft die Installation; es beginnt mit den Worten "O die Wohnungen des Todes". Iris Weiss zeigt ihren Gästen auch Orte, die wenig Menschen kennen, wie den Hinterhof des Hauses Koppenplatz 6. Auf einer Wand zeichnet ein meterhohes Diagramm das Schicksal der früheren jüdischen Hausbewohner nach: Gabriele Goldschmidt, geboren 1922 in Berlin, gestorben 1942 in Auschwitz, heißt der letzte Eintrag.

Auch Iris Weiss wehrt sich wie Gabriel Heimler gegen eine Instrumentalisierung des Judentums – egal von welcher Seite. "Es gibt Touristen, die sich für jüdisches Leben in Berlin interessieren und doch nur damit umgehen können, wenn es exotisch oder lange vergangen ist. Was uns heute bewegt, interessiert sie nicht sehr."

Muss man also ganz anders beginnen? Und nach dem fahnden, was Menschen sehen wollen, was Nichtjuden in den Präsentationen Jüdischer Kultur suchen?
"Die Resonanz ist immer dann am größten, wenn Klischees bedient werden", sagt Iris Weiss. Der Mythos Scheunenviertel zeigt das: In der Gegend rund um den Rosa-Luxemburg-Platz siedelten sich um 1900 viele ostjüdische Einwanderer an. "Sie bildeten gemeinsam mit der hauptstädtischen Halbwelt jene scheinbar unheimliche urbane Melange, die dem gemeinen Restberliner je nach politischer Ausrichtung oder Gemütslage die nächsten fünfzig Jahre als Beißring oder romantische Projektionsfläche diente", hat es der Kunsthistoriker André Meier in seiner "Schmähschrift gegen den Mythos Scheunenviertel" treffend beschrieben.
Romantische Projektionsfläche ist die Gegend noch heute: Touristen hören mit verzücktem Schaudern phantasievollen Stadtführern zu, die eine verruchte, fremdartige Welt voller Ostjuden mit Schläfenlocken und Kippa aufleben lassen. "Oft wird das Scheunenviertel auch kurzerhand auf die Straßen um die Oranienburger Straße ausgedehnt, weil sich hier jüdisches Leben so einfach illustrieren lässt", sagt Iris Weiss. Für diese Form der sinnentleerten Show hat sie einen plastischen Begriff gefunden: Jewish Disneyland.

Trittbrettfahrer gibt es viele: Zwar bieten nur drei Restaurants der Gegend tatsächlich jüdische Speisen, doch mit Namen wie "Mendelssohn" werben auch solche, die Schweinefleisch mit Rahmgemüse servieren. Das beliebte Hackesche Hoftheater lädt zum "Tanz im Garten Eden", der Inszenierung einer jüdischen Hochzeit, und zu Abenden mit "jiddischen Klezmer-Kapellen" ein. Die Tatsache, daß die Theaterleitung und fast alle Akteure und Musiker Nicht-Juden sind, entwertet nicht ihre künstlerische Leistung. Doch sie führt zu der Frage, ob die Inszenierung jüdischen Lebens durch Nicht-Juden für Nicht-Juden mehr sein kann als eben das – eine Inszenierung.

Auch der stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Moshe Waks, ist sich des Problems bewußt. "Als Gemeinde können wir aber nicht beeinflussen, wer sich zum Beispiel als privater Stadtführer durch das ‚Jüdische Berlin‘ anbietet oder Klezmer spielt. Wir wollen das auch gar nicht. Sollen wir etwa Koscher-Stempel für touristische Angebote verteilen? Was wir beitragen können, ist Offenheit, den direkten Zugang zur jüdischen Gemeinde. Wer sich bei uns kompetent informieren will, kann das immer tun."

Mit Veranstaltungen wie den jährlich im November stattfindenden Jüdischen Kulturtagen will die Gemeinde außerdem die ansässige Kreativszene stärken. "Das hat nachhaltigen Wert", so Moshe Waks. Wer sucht, findet heute eine Reihe interessanter Events, die von der jüdischen Gemeinde teils veranstaltet, teils gefördert werden. Die Bandbreite reicht vom Filmfestival im Juni über Lesungen, Konzerte und Vorträge bis zum sommerlichen Straßenfest in Mitte.

Im jüdischen Theater "Bamah" am Hohenzollerndamm bietet der Intendant Dan Lahav unter dem Titel "Shabbat Shalom - Freitagabend in einer jüdischen Familie" ein Happening mit Klezmermusik, Erzählungen und jüdischer Küche. Daß außer ihm alle Ensemblemitglieder Nicht-Juden sind, hält er für unproblematisch: "Um einen Betrunkenen zu spielen, muss man auch nicht betrunken sein. Wichtig ist allerdings, daß da einer ist, der dem Erlebnis Seele gibt, der in den Ritualen und Gebräuchen zu Hause ist. Das kann ich als Intendant gut leisten."
Vor einem halben Jahr hat Dan Lahav seine kleine Bühne eröffnet, das erste jüdische Theater in Berlin seit fast sechzig Jahren. Auf dem Programm stehen neben jungen israelischen Stücke auch traditionelle ostjüdische Werke und szenische Lesungen zum Leben jüdischer Künstler und Schriftsteller. "Ich will eine neugierige und offene Auseinandersetzung mit dem Judentum ermöglichen. Und anknüpfen an die starken Wurzeln jüdischer Kultur und jüdischen Alltags, die es in Berlin gegeben hat", sagt Dan Lahav.

Müßte man sich vielleicht, um das Heute zu verstehen, zuallererst auf die Suche nach den Orten machen, die von diesen Wurzeln erzählen? Von der Zeit, als in Berlin 170.000 Juden ihren Alltag und ihren Glauben lebten?
Dafür eignet sich, auf stille Art, der 174 Jahre alte Friedhof an der Schönhauser Allee. Über 20.000 Tote liegen hier im Schatten großer Bäume, unter einem Teppich aus prachtvollen, teils verwitterten und umgestürzten Grabsteinen, wuchernden Büschen und Farnen. Eine von ihnen ist Jenny Hirsch, 1829-1902. Sie brachte die Zeitschriften "Der Frauenanwalt" heraus und die "Deutsche Hausfrauenzeitung" und gilt als Vorreiterin der Frauenempanzipation. Auf dem Gräberfeld verteilt liegen auch knapp 30 Mitglieder der Berliner Familie Liebermann, deren berühmtester Sohn der Maler Max Liebermann ist. Sein Elternhaus stand am Pariser Platz direkt neben dem Brandenburger Tor (oder, wie die Berliner sagten: "Wenn man reinkommt, gleich links"), dort, wo heute ein modernisierter Nachbau namens Liebermann-Haus Besucher anzieht.

An der Friedhofsmauer lehnt die pompöse Grabkolonnade der Familie Gerson. Der Modemacher Hermann Gerson, 1813-1861, starb kurz nachdem er den Krönungsmantel Wilhelms II. fertiggestellt hatte. Es ging die Legende, das der Alte Fritz vom Himmel aus zuschaute und sich beschwerte, das ihm selbst zu Lebzeiten kein solcher Prachtmantel angefertigt worden war, und daß Gerson deshalb schnellstmöglich in den Himmel mußte.

Auch an der Synagoge in der Oranienburger Straße kann man sich für einen Moment lang zurückversetzen lassen in eine intaktere Zeit. Kann die goldene Kuppel und die schöne Ziegelfassade des Gotteshauses bestaunen, das 1866 eingeweiht und ein Menschenleben lang angstfrei von Gläubigen besucht wurde, im November 1938 von den Nazis geschändet und erst 1995 restauriert wiedereröffnet. Man muss allerdings die Polizeiwannen vor dem Eingang ignorieren, um das Gefühl der Selbstverständlichkeit beizubehalten, das die Gründer der Synagoge gehabt haben müssen, die sie – erstmals in Berlin – nicht im Hinterhof versteckten, sondern direkt an die Straße bauten. Und man darf nicht zur Rückseite des Gebäudes laufen, einer Glasfassade, die die Spuren der Zerstörung nicht verstecken will. Auf dem Boden ist mit Steinen die frühere Außenwand markiert: Die Synagoge war ursprünglich dreimal so groß. Heute fasst der Gebetsraum im 1. Stock noch 80 Menschen, früher konnten sich 3200 Beter hier versammeln.

Müßte man vielleicht vor allem anderne nach denen suchen, die sich an diese Zeiten noch erinnern können?
Im Erdgeschoss des Jüdischen Altenheims in Wilmersdorf liegt das Büro der Heimleiter, einem herzlichen, energiegeladenen Ehepaar. Beide wollen nicht namentlich genannt werden, das sei "unnötige Publicity". Das Telefon klingelt ununterbrochen, die Sekretärin bringt immer neue Papiere zum Unterzeichnen, alte Damen stehen ratsuchend auf der Türschwelle. Zwischendurch erzählen die Heimleiter von den Gästen, 150 etwa sind es, manche Paare, alles Juden, aus der ganzen Welt, viele zurückgekehrt in ihre Heimatstadt.

Und sie erzählen, daß sie selbst früher einen Laden in Berlin-Kreuzberg führten, bis ihnen das zuviel wurde mit den Kunden, die sich über andere jüdische Läden im Viertel beschwerten. "Wenn einer akzentfrei spricht wie ich", sagt der Heimleiter, "dann denkt doch keiner, daß er Jude ist. Viele glauben, wir haben alle ´ne Hakennase im Gesicht und reden gebrochen." Ja, sagt seine Frau, die anderen jüdischen Ladenbesitzer hätten es schwerer gehabt, die, die aus dem Osten eingewandert waren und denen man es anhörte.

Und trotzdem, irgendwann Anfang der 90er hätten auch sie es mit der Angst bekommen. Ihr Mann meint leise: "Einmal sagt ein Kunde zu mir: Ick koof nich beim Juden, wissen Se. Ich frage: Woher wollen Sie denn wissen, dass ich keiner bin? Und er antwortet: Aber Sie doch nich. Sie doch nich." Der Heimleiter sagt noch, daß seine Generation, die der Kinder der Überlebenden, von Wurzellosigkeit geprägt sei. "Unsere Väter haben gesagt: Ich bin Berliner, oder: Ich bin Berliner Jude. Glauben Sie, so ein Gefühl kennen wir noch? Nee. Wir sitzen immer auf gepackten Koffern, im Kopf."

Zwei Stockwerke höher wohnt eine Frau, die ihren Namen ebenfalls nicht veröffentlich sehen möchte. Vor 17 Jahren hat sie ihre Koffer in Brasilien gepackt und zurückgeschleppt. Nach Berlin, wo sie als Jugendliche Anfang der 1930er Operetten besuchte, Theaterstücke, Lesungen - "dieses Kulturleben, das war wunderbar". Wo sie durch den Westen der Stadt spazierte, der immer "so schön grün gewesen ist". Sao Paolo, die Stadt, in die sie dank einer vorausblickenden Mutter schon 1936 flüchtete, sich in einen anderen Exilanten verliebte, heiratete, Kinder großzog, war weniger grün. "Eine Steinwüste", sagt die 82-jährige. Dennoch hat sie Sao Paolo geliebt, die Lebendigkeit seiner Bewohner und Straßen, das Essen, die Sprache, ist zögernd zurückgekehrt nach Deutschland. "Hier ist die medizinische Versorgung besser. Und günstiger", sagt sie. "Das war eigentlich der Hauptgrund." Ob sie das Gefühl habe, nach Hause gekommen zu sein? "Eigentlich nicht", sagt die alte Dame nachdenklich. Und dann, als müsse sie jede Silbe einzeln prüfen: "Heimat - das Wort war bei uns nicht... wichtig. Nicht... beliebt."

Eine andere Heimbewohnerin kann ihr Geburtshaus im Prenzlauer Berg beschreiben, als hätte sie es gestern verlassen. Geflüchtet nach Israel, ist sie in den 70er Jahren zurückgekehrt, "aus beruflichen Gründen." Es sei ihr nicht leicht gefallen, wieder in Deutschland zu leben, sagt sie, aber "letztendlich hatte ich mit den Deutschen nur sehr wenig zu tun in all den Jahren."

Zurück im Büro im Erdgeschoss. Der Heimleiter schaut von seinem Papierstapel auf und sagt: "Das schlimmste heute sind nicht mal die Neonazis. Aber die Intellektuellen, auch die linken Intellektuellen in Deutschland, die den Antisemitismus weitertragen, die sind gefährlich. Und davon gibt es viel zuviele." Sollte man jetzt von dem Spaziergänger erzählen, der sich neulich vor der Synagoge darüber beschwerte, daß "die Juden sich jetzt ja wieder abschotten, wie immer, die wollen einfach gar keinen Kontakt"? Und von der Passantin, die beipflichtend nickte und sagte: "Denen gehört ja sowiewo längst wieder halb Berlin"?

Vielleicht ist Schweigen besser?
Beim Abschied sagt der Heimleiter noch: "Schreiben Sie besser nicht, was wir gerade besprochen haben. Damit kratzen Sie zu sehr an der zarten deutschen Volksseele. Das bringt Ihnen Ärger und mir auch. Mir macht das nix, aber Sie verdienen sich damit keine Lorbeeren. Nicht in Deutschland."
Vielleicht ist ja ganz egal, wo diese Geschichte beginnt. Wichtig ist nur, dass sie kein Ende nimmt.

Ariane Bertsch
© bei der Verfasserin

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