Trauer- statt Jubiläumsfeier:
Gemeindebibliothek in der Oranienburger Straße wird geschlossen
Wer derzeit
in die Zweigstelle der Bibliothek der jüdischen Gemeinde in die
Oranienburger Straße kommt, erfährt, daß Bücher spätestens bis 31.
Januar 2002 zurückgegeben werden müssen, Entleihungen derzeit nicht
möglich sind, sondern „ab Februar dann in der Bibliothek in der
Fasanenstraße".
Ein Papierschild kündet
von der aus „betrieblichen Gründen bis 31.01.02 geschlossenen
Bibliothek". Die Sprachregelung wird bewußt diffus gehalten. Wer es wagt
nachzufragen, was dies genau bedeutet, wird beschieden „so wie es da
steht". Die Fakten, die gesetzt wurden, sprechen ihre eigene Sprache.
Renate Kirchner, die
diese Bibliothek 1977 wieder begründet hat, kündigte bereits vor über
einem Jahr an, sie werde zu Jahresende 2001 in den Ruhestand gehen. Eine
Nachfolgerin wurde nicht gesucht. Aktuelle Zeitungen und Zeitschriften
werden nicht in den Bestand eingearbeitet, die Öffnungszeiten wurden von
einer Mitarbeiterin aus der Fasanenstraße abgedeckt, die bisher immer
die Urlaubsvertretungen machte.
Der Bibliotheksstandort
Oranienburger Straße zieht besonders diejenigen an, die zur jüdischen
Geschichte Berlins Informationen suchen. Wer die Örtlichkeiten kennt,
kann sich ausrechnen, daß aus Platzgründen der Bücher- und Zeitungs-
bzw. Zeitschriftenbestand nicht in die Fasanenstraße überführt und dort
eingegliedert werden kann.
Das 100jährige Jubiläum,
das am 3. Februar 2002 an diesem traditionsreichen Ort zu begehen wäre,
wird wohl ausfallen müssen oder auf die Fasanenstraße beschränkt werden.
Verein jüdische Lesehalle und Bibliothek
Zur Geschichte dieses
Ortes schreibt Renate Kirchner: „Schon einige Jahre bevor die
Jüdische Gemeinde den Beschluß fasste, eine Gemeindebibliothek zu
gründen, gab es, als eine Initiative russisch-jüdischer Studenten und
vorwiegend zionistischer Kreise, seit 1894 einen „Verein jüdische
Lesehalle und Bibliothek". Sie waren zunächst in Privaträumen
untergebracht, bevor sie sich 1897 in der Oranienburger Str. 28 (im
Seitenflügel) etablieren konnten. Da der Buchbestand rasch anwuchs,
erwiesen sich die Räume bald als unzureichend, so dass der Verein 1903
ins Vorderhaus des selben Gebäudes umzog.
Unabhängig von diesen privaten Aktivitäten beschloß die
Repräsentantenversammlung der Gemeinde am 5.3.1899 den Aufbau einer
Gemeindebibliothek. Bereits ein Jahr zuvor hatte Rabbiner Weise einen
entsprechenden Vorschlag eingebracht.
Nach den notwendigen vorbereitenden Arbeiten wurde die
Gemeindebibliothek am 3. Februar 1902 in angemieteten Räumen in der
Oranienburger Str. 60-63 eröffnet. Der erste Bibliothekar, Jacob Fromer,
Orientalist und Schriftsteller, der u.a. eine Auswahl aus dem
Babylonischen Talmud herausgab, war nur vier Jahre in dieser Einrichtung
tätig, da es unüberbrückbare Differenzen mit der Gemeindeleitung gab.
In den „Mitteilungen der Gemeinde über die Verwaltung
der jüdischen Gemeinde zu Berlin" von 1907 wird angekündigt, dass das
Haus Oranienburger Str. 28 gekauft worden sei und dass die Bibliothek
nach erfolgtem Umbau dorthin übersiedelt. Ab 1910 waren die Bibliothek
und das „Gesamtarchiv der deutschen Juden" nun in zweckentsprechenden
Räumen untergebracht.
Inzwischen hatte Dr. Moritz Stern die Leitung der
Bibliothek übernommen, der 1917 die „Kunstsammlung der Jüdischen
Gemeinde" angegliedert wurde, aus der später das „Jüdische Museum"
(1933) hervorging. Stern entwickelte die Bibliothek aus bescheidenen
Anfängen zu einer ca. 70 000 Bände umfassenden Bibliothek und stand ihr
fast drei Jahrzehnte vor. Er hatte eine rabbinische Ausbildung und
konnte auf ein umfängliches wissenschaftliches Werk zurückblicken.
Die eingangs erwähnte „Jüdische Lesehalle und
Bibliothek" war noch vor der Eröffnung der Gemeindebibliothek aus dem
Gebäude in ihr letztes Domizil (Oranienburger Str. 58) umgezogen, bevor
ihre Bestände, die inzwischen auf über 11 000 Bände und Periodica
angewachsen waren, den Grundstock für eine Filialbibliothek der Gemeinde
in der Fasanenstr. 79/80 bildeten (ab 1920).
Dieser Filialbibliothek wurden weitere hinzugefügt. Der „Wegweiser durch
die Jüdische Gemeinde zu Berlin" von 1937 weist nach, dass inzwischen
auch in Neukölln, Friedenau, Schöneberg, in der Frankfurter Allee
(Osten), in Schmargendorf, Pankow und Tempelhof Zweigbibliotheken
entstanden waren.
Diese positive Entwicklung eines jüdischen
Bibliotheksnetzes in Berlin nahm nach der Pogromnacht 1938 ein jähes
Ende. Jacob Jacobsohn, langjähriger Leiter des „Gesamtarchivs der
deutschen Juden" notierte in seinen unveröffentlichten Memoiren: "...
dass das Reichssippenamt seine auf Juden bezügliche Abteilung in das
Gebäude Oranienburger Str. 28 verlegte und immer mehr Raum für sich
beanspruchte, besonders, nachdem die Bibliothek der Jüdischen Gemeinde
im Sommer 1939 beschlagnahmt und abgeholt worden war, so dass deren
Räumlichkeiten mit ihren Regalen der Abteilung des Reichssippenamtes zur
Verfügung standen."
Einige wenige Bücher aus dem Bestand der ehemaligen
Gemeindebibliothek sind auf verschiedenen Wegen später zurückgekehrt an
ihren Ursprungsort.
Erste Versuche der wiederbegründeten Gemeinde, nach der
Befreiung, eine Bibliothek zu etablieren reichen zurück in das Jahr
1952. Aber erst mit dem Aufbau des Gemeindehauses in der Fasanenstr.
wurde dort dann 1959 auch eine Bibliothek eröffnet, die bis heute
besteht und in Kontinuität erweitert und ausgebaut wurde. Über lange
Jahre betreute Jürgen Landeck diese Einrichtung, bevor seine Stelle
Arkady Fried einnahm, der sie bis heute leitet.
In der separaten Ostberliner Jüdischen Gemeinde wurde,
nach 3jähriger ehrenamtlicher Vorbereitungszeit durch Renate Kirchner,
am 16.November 1977 eine Bibliothek an historischem Ort eröffnet.
Da die Verlagsproduktion der DDR zwar eine Vielzahl
belletristischer Titel aufwies, jedoch kaum Sachliteratur zu jüdischen
Themen, mußte nach anderen Möglichkeiten gesucht werden. Eine
entscheidende Voraussetzung für den kontinuierlichen Auf- und Ausbau des
Bestandes war deshalb die, in Abstimmung mit dem Staatssekretär für
Kirchenfragen, erfolgte Erteilung einer „Sondergenehmigung zur Einfuhr
von Literatur aus dem kapitalistischen Ausland" (1979). Auf dieser
Grundlage erreichten die Bibliothek ohne Einschränkung Buchgeschenke von
jüdischen und nichtjüdischen Institutionen und Einzelpersonen. Die
Literaturhandlung von Rachel Salamander in München war während dieser
Jahre zudem ein wichtiger Partner, über den auch gezielte Bestellungen
liefen.
Obwohl mit zunächst nur 2119 Bänden noch eine sehr
kleine Bibliothek, wurde sie bereits 1978 Mitglied des
Bibliotheksverbandes der DDR, gründete einen Bibliotheksbeirat (1979),
dem u. a. der Schriftsteller Heinz Knobloch angehörte und hatte
intensive Beziehungen zur „Zentralstelle für wissenschaftliche
Altbestände" bei der Deutschen Staatsbibliothek.
Mit der Schaffung der „Stiftung Neue Synagoge Berlin –
Centrum Judaicum" am 5.7.1988 und dem dann entwickelten Konzept für den
Wiederaufbau des Gebäudekomplexes Oranienburger Str. 28-30 wurden auch
die Rekonstruktion der einstigen historischen Bibliotheks- und
Magazinräume beschlossen.
Die Vereinigung der beiden Berliner Jüdischen Gemeinden
ab Januar 1991 änderte den Status der Bibliothek Oranienburger Str. –
sie wurde als Zweigstelle in die Bibliothek Fasanenstr. integriert. Im
November des gleichen Jahres erfolgte der Rückzug in das inzwischen
rekonstruierte Haus. Unsicherheiten über die künftige Nutzung
verzögerten zunächst die geplante Möblierung, die dann aber im Dezember
1993 doch realisiert wurde. Obwohl eine, insbesondere seit der Eröffnung
des „Centrum Judaicum" (Mai 1995), notwendige neue Konzeption für die
beiden Bibliotheksstandorte in der Folgezeit nicht zustande kam, wurde
mit der Einrichtung einer Mediothek (April 1996) zumindest der Beginn
einer längst überfälligen Profilierung angestrebt.
Mit der, am historischen Standort und im Bewusstsein
ihrer Geschichte, wiedergeschaffenen Bibliothek wurden überaus günstige
Bedingungen für die Nutzung der Bestände und wissenschaftliches Arbeiten
geschaffen. Das unterstützen vor allem der Lesesaal mit seinen 12
Arbeitsplätzen und das in drei Ebenen vorhandene Magazin sowie der
Umstand, dass das Archiv und die Bibliothek – wie vor ihrer gewaltsamen
Auflösung – wieder unter einem Dach vereint sind.
Nun ist zu hören, dass die Bibliothek Oranienburger Str.
geschlossen werden soll. Am 3. Februar 2002 müßte dann wohl nicht zu
einer Geburtstags- sondern zu einer Trauerfeier eingeladen werden?!"
(Renate Kirchner)
Prof. Dr Abraham Geiger sagte zur Eröffnung der
Gemeindebibliothek in Breslau 1861:
„Der beredste Zeuge von der Achtung für die geistige Arbeit ist die
Gründung und Erhaltung einer Bibliothek; sie ist nicht bloß eine Nahrung
des Geistes, sie ist zugleich ein Denkmal des Geistes, wo unsere Ahnen
im tiefsten Lebensgehalte versammelt sind, wo die Geister Rede stehen
von ihrem Wirken zu ihrer Zeit und ihr Unvergängliches uns freudig zu
frischer Belehrung darbieten. Eine Bibliothek stellt uns bildlich das
Band der Zeiten dar, wie das graue Altertum sich mit der frischen
Gegenwart verschlingt, die einigende Kraft des Geistes, die alle
Störungen und Zersplitterungen überdauert. - Eine Jüdische
Gemeinde-Bibliothek ist der Ausdruck der Achtung für den Geist, welcher
im Judentum waltet und waltet".
Dies gilt auch heute nach wie vor, und daran muß sich
auch im Jahr 2002 die jüdische Gemeinde zu Berlin messen lassen. Man
möchte es den für diese Entscheidung Verantwortlichen ins Gästebuch
schreiben, wenn es denn eines gäbe.
Wer sich aber per e-Mail dazu äußern möchte, dem sei die
Adresse der Repräsentantenversammlung, dem Leitungsgremium der Gemeinde
ans Herz gelegt
rv@jg-berlin.org. Für den
Bereich Kultur ist Herr Moishe Waks und für Personalangelegenheiten Herr
Meir Piotrkowski zuständig.
Iris Noah
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