Wieviel Gegenwart verträgt eine
historische Pilgerfahrt?
Geschichte, Erinnerung und
Gegenwart in der Ukraine
Dr.
Joachim Schlör
In der Ukraine, die im Sommer 2001 den zehnten
Jahrestag ihrer nationalen Unabhängigkeit feierte, suchten sie Bilder
einer versunkenen Welt: Potsdamer Studenten auf den Spuren jüdischer
Kultur. Wieviel Gegenwart verträgt eine historische Pilgerfahrt?
In einer kleinen Straße unweit des Marktplatzes der Stadt Lemberg haben
Studenten eine Galeria Prawdy errichtet: Holzgestelle auf dem
Bürgersteig tragen Plakate mit Bildern und Aufschriften, die an den
ermordeten Journalisten Gongadse erinnern. Sie fragen nach der Rolle des
Präsidenten in diesem politischen Skandal, sie bieten Passanten ein
Forum für Debatte und Streit, sie erschaffen einen behelfsmäßigen Raum,
den dieses Land bisher kaum kannte: Öffentlichkeit. Die Ukraine ist auf
einem mühseligen Weg zur Zivilgesellschaft. Von Lemberg über Brody,
Zhitomir, Berdytschev, Uman und Braclaw nach Czernowitz führte eine
Reise des Fachbereichs "Jüdische Studien" der Universität Potsdam. Die
Exkursion fand im Rahmen eines Seminars statt, das Galizien und die
angrenzenden Regionen Podoliens und Wolhyniens als "Ort jüdischer
Geschichte und Erinnerung" untersucht.
Nun hat die Reise deutlich gemacht, dass ein Wort im Titel der
Arbeitsgruppe fehlt: Gegenwart. Von einer Anhöhe oberhalb des
Flusstales, das sich der östliche Bug gegraben hat, erfasst der Blick
eine überschaubare Landschaft: Trauerweiden, Schilf, Storchenpaare. Die
alte Mühle am Ufer spendet der Dorfjugend von Braclaw, die ihren
Nachmittag am Wasser verbringt, warmen Schatten. Auf der Anhöhe liegt
ein alter jüdischer Friedhof. So ist das Bild, das wir mitgebracht
haben: So haben wir es in den Büchern gefunden. Historische und
literarische Überlieferung haben diese Landschaft zu einer Vorstellung
geformt. Wo Erwartung und Realität so nah beieinander liegen, fällt es
schwer, die Diskrepanz mitzudenken.
Im Dorf zieht unser Begleiter Dokumente aus einem Stoffbeutel. Eine
Urkunde aus dem Regionalarchiv bestätigt, wo wir uns befinden. Hier, in
Braclaw, hat der populäre chassidische Rabbi Nachman gelebt: in diesem
kleinen Häuschen, in dem die eingestürzte Treppe zum Dachboden wie ein
Haufen moderndes Elend auf dem Boden liegt; in diesem blau gestrichenen
Zimmerchen, wo aufgeschlagene Psalmenbücher, Fotografien und flackernde
Teelichter vom Besuch seiner Anhänger zeugen. 1990 kamen die ersten aus
Israel hierher, damals noch von der zehnfachen Anzahl an KGB-Beamten
begleitet, denen diese Form der Pilgerreise verdächtig erschien. Seither
kommen regelmäßig Reisende in die Gegend. Braclaw liegt zwischen Uman
und Winnica: in der Ukraine - in einer Gegenwart, die ihre eigenen
Gesetze hat.
Am Anfang der Reise, in Lemberg, hatte lokale Historiker Vassil uns, den
neugierig Fragenden, Gegenfragen gestellt: Warum nehmt ihr deutschen und
österreichischen Reisenden das Land, in dem ihr "jüdische Spuren" sucht,
kaum wahr - so dass ihr, wenn die "Spurensuche" erfolglos, trostlos war,
das Land für "leer" erklärt? Dabei gibt es für jeden Ort, jeden Flecken,
auch für Braclaw, eine ukrainische Version, eine polnische, eine
sowjetische, gelegentlich eine deutsche; freilich auch eine jüdische.
Erst im Zusammenstoß der Geschichten und Wahrnehmungen werden die Orte
sichtbar.
Und die Orte sind von heute. Nur nehmen wir sie über Texte wahr, die wir
im Seminar gelesen haben: Lemberg mit Alfred Döblin, Brody mit Joseph
Roth, Zablotov mit Manès Sperber, Czernowitz mit Paul Celan und Rose
Ausländer - auf der Ebene der modernen deutschen und jiddischen
Literatur. Auch im Bereich jüdischer Geschichte und Religion haben wir
mit Quellen gearbeitet, aus denen wir ein virtuelles Idealbild einzelner
Orte erstellten: Hier war die Region einer hoch entwickelten
jüdisch-kulturellen Autonomie, innerhalb derer die Gemeindeverwaltung
weitreichende Kompetenzen in der Ansiedlung, der Rechtsprechung, selbst
in der Steuereinnahme hatte. Hier die Gegend, in der die Siedlungsform
des Schtetl entstand, mit seinem Markt, seinen Synagogen und Bethäusern,
mit allen Einrichtungen, die eine Gemeinde braucht - "umschlossen" vom
Eruv, der Sabbatgrenze, die am besten symbolisiert, dass der jüdische
Raum anders ausgemessen war als der, den ukrainische und polnische
Nachbarn nutzten. Hier entwickelten Schüler des Baal Schem Tow aus
Miedziboz im Gegensatz zur verknöcherten rabbinischen Theologie die
Bewegung des Chassidismus: als Hoffnungszeichen für die bedrückten
Massen, für jeden, der Teil an der kommenden Erlösung haben sollte. Und
hier entstanden soziale und politische Strömungen der jüdischen
Modernisierung, Arbeiterbewegung, Bundismus und Zionismus ...
In vielen Veröffentlichungen ist diese Welt des osteuropäischen Judentums
fast ortlos, wie schwebend, gezeichnet worden: ohne Bindung an ihre
Landschaft. Vom deutschen Nationalsozialismus ist diese Lebenswelt
weitgehend zerstört worden, die Politik der Sowjetisierung und die
umfangreiche Auswanderung haben den Prozess der Auflösung fortgesetzt
und ein neues Bild geschaffen: Osteuropäisches Judentum lebe nur noch in
der Erinnerung, in der Literatur, auf kleinen Inseln: in Antwerpen und
London, in New York und Jerusalem. In die angeblich zurückgebliebene
Hülle haben romantische Reisenden der letzten zehn Jahre ihre alten
Geschichten geschrieben: eine Form der Topolatrie, der Anbetung von
Orten, welche ihre fantasierten Gebilde (Barbra Streisands Schtetl in
"Yentl" oder die Straßen von Anatevka in "Fiddler on the roof") über
reale Orte legt.
Die extreme Zuspitzung dieser Haltung hat in einen kulturpolitischen
Skandal heraufbeschworen: als Fresken des polnisch-jüdischen Malers und
Schriftstellers Bruno Schulz in Drohobyc durch Abgesandte der
Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem von den Wänden einer Villa, ihrem
Entstehungsort, abgenommen und nach Israel verbracht wurden. Wem gehört
diese Geschichte? In der alten Lemberger Synagoge treffen sich
Mitglieder der Scholem-Alejchem-Gesellschaft für einen Vortrag Alfred
Schreiers. Er ist einer der beiden letzten lebenden Schüler von Bruno
Schulz. Er war dabei, als der Regisseur Christian Geissler die verloren
geglaubten Fresken im Frühjahr auffand; er teilte die Hoffnung, man
könnte in Drohobyc, der Stadt der "Zimtläden" (wie Schulz' berühmtester
Erzählungsband heißt) ein ukrainisch-polnisch-jüdisches Kulturzentrum
aufbauen, um verschiedenen Wahrnehmungen einer gemeinsamen Vergangenheit
ins Gespräch zu bringen.
Schreier empfindet die Abnahme der Wandbilder (aus dem Haus des SS-Mannes,
für den Schulz arbeitete; heute gehört es dem lokalen Ex-Parteisekretär)
als Enteignung seiner eigenen Geschichte. Ukrainische Künstler
reagierten auf diese Aktion mit einer Ausstellung. An den Wänden ihrer
Lemberger Galerie: zerfetzte Leinwände, herausgebrochene Fliesen,
Farbreste. Dazwischen immer wieder das Porträt von Bruno Schulz, Fetzen
aus seinen Texten.
Auch das ist Teil jener großen "Galerie der Wahrheit", die sich auf
Lembergs Straßen ausbreitet. Im Gefolge der neuen Veräußerung schließen
sich freilich andere Unzufriedene an: "Russifizierung ist ein Genozid an
der Ukraine", brüllt ein Plakat, auf dem eine Ukrainerin in Tracht vom
Stacheldraht der russischen Sprache gewürgt wird. Viele Kulissen
verweisen eindeutig auf das sowjetische Erbe. Uman zum Beispiel ist eine
sowjetische Stadt: Lenin steht da und weist mit ausgestreckter Hand -
auf eine Wechselstube. Unser Bus biegt um die Ecke, wir sind in der
Vorstadt. Bauernhäuser auf der einen Seite, Platte auf der anderen.
Wieder: Vertrautes aus der eigenen Imagination. Dann kommt, um die Ecke,
ein Neubau in Sicht, der mit seinen Balkonen und dem neuen Putz in
Marbella oder Albufeira stehen könnte: "Malon Sha'arej Zion".
In Zhitomir amtiert seit sieben Jahren Rabbiner Shlomo Wilhelm, der
Jerusalem als Geburtsort angibt. Von dort ist er in die Heimat der
Großeltern zurückgekehrt, um dafür zu sorgen, dass die Juden jüdisch
leben können. Er baut eine Mikwe, das rituelle Bad, besorgt koscheres
Essen. Sein Ehrgeiz, alle Juden nach Israel zu bringen, hat
nachgelassen. Hier also ist, wieder, ein "Ort jüdischer Gegenwart"
entstanden. Was wir sehen, sind nicht mehr nur leerstehende oder
umgewidmete Synagogen und verfallene Friedhöfe, sondern Anzeichen eines
neuen oder ins Öffentliche gelangten Lebens.
An dem Ort, wo Rabbi Nachman seine letzten Monate verbrachte, um der Opfer
einer judenfeindlichen Attacke zu gedenken (die Täter, Haidamacken
genannt, gelten als Pioniere der ukrainischen Nationbildung), haben
"Pilger" aus den USA und Israel eine pompöse Gedenkstruktur errichtet.
Das Grab des Gerechten befindet sich zur Hälfte in dem neuen Betsaal der
Männer, die andere Hälfte blickt nach draußen auf die Frauenabteilung.
Ein gelber Streifen markiert das Gelände des ehemaligen Friedhofs, der
zu sowjetischen Zeiten mit Plattenbauten besetzt wurde. Ein ukrainischer
Security-Schrank mit Sonnenbrille weist überraschend liebenswürdig den
Weg, bittet die Frauen, ihre Haut zu bedecken und nimmt uns am Ende mit
auf eine Tour durch den Ort: das Häuschen hier könnte der letzte Wohnort
des Rabbis gewesen sein. Wir sind von der filmreifen Kulisse so
erschlagen, dass wir ihm gerne glauben möchten.
Der Pruth ist ein ruhiger Fluss. Auf der Rückfahrt von Czernowitz nach
Lemberg halten wir in Zablotow: Hier wurde Manès Sperber geboren, der
die Metapher des Flusses und der Brücke "ohne anderes Ufer" zum
Leitmotiv seines Werks gemacht hat. Die Chassiden im Ort glaubten, sie
würden, wenn der Messias kommt, statt auf der Anfangs des 20.
Jahrhunderts erbauten Eisenbrücke auf einer aus Zigarettenpapier über
den Pruth und von dort direkt ins Land Israel ziehen. Da liegt der
Fluss, die alte Eisenbrücke gibt es nicht mehr. Die Brücke aus Papier,
die imaginierte , die erhoffte Brücke - sie scheint es immer noch zu
geben.
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