antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info
Judentum und Israel
haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

 
Sie finden hier zahlreiche Artikel aus dem 90er Jahren, d.h. aus den Anfangsjahren des WWW. Aktuellere Meldungen finden Sie im Nachrichtenarchiv unter Jüdisches Leben in Deutschland..., Antisemitismus, Rechtsextremismus..., Europa und die Welt... oder in den täglich aktuellen Nachrichten von haGalil.com...
Etliche Artikel in diesem Ordner entsprechen in Formatierung und Gestaltung nicht den heutigen Internetstandards. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.

Beispiel Berlin:
Jüdische Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990

Von Judith Kessler

1. Einleitung

"Die Migration der Juden in der modernen Zeit verläuft außergewöhnlich gleichförmig in einem Zeitalter beispielloser Wanderungsbewegungen. Die jüdische Mobilität läßt sich unter anderem daran messen, daß von 1880 bis heute mindestens 7 Millionen Juden aus ihrem Geburtsland in ein anderes Land auswanderten. Eine Vorstellung von der Größe dieser Zahl erhält man, wenn man sich vor Augen hält, daß die gesamte jüdische Bevölkerung der Welt während dieses Zeitraums wahrscheinlich niemals mehr als 16 Millionen Menschen zählte und daß 6 Millionen im Holocaust umkamen. Kurz gesagt: Das Bild vom "wandernden Juden" ist wahrscheinlich nie so zutreffend gewesen wie im 20. Jahrhundert"
(Troen 1993,S.27).

Die jüdische Minderheit besteht heute weltweit aus etwa 14 Millionen Menschen, von denen derzeit die meisten in den USA leben, gefolgt von Israel und der ehemaligen UdSSR (vgl. Schmelz 1980). In der Sowjetunion haben die "push-pull-Effekte" von wirtschaftlicher Bedrängnis und Antisemitismus, versagter politischer Partizipation und religiöser Entfaltung sowie die Aussichten auf politische Freiheiten und soziale Verbesserungen in den Aufnahmeländern zu massiven Auswanderungsschüben geführt. Allein Israel hat bisher insgesamt fast 800.000 sowjetische Juden aufgenommen.

Die von einigen Autoren als "Vierte Welle" eingeordnete anhaltende Emigration sowjetischer Juden seit 1989/90 ist vor allem ein Synonym für eine Auswanderungsbewegung, die mit der Auflösung der alten UdSSR zusammenhängt.

Mit dieser "Welle" und dank einer inzwischen geschaffenen Zuzugsregelung ist nun auch die bis vor kurzem kaum noch wahrnehmbare jüdische Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich angewachsen. Es ist nicht genau bekannt, wieviel Juden in Deutschland leben, jedoch hat sich allein die Zahl der Mitglieder Jüdischer Gemeinden zwischen Ende 1989 und Ende 1995 durch die Zuwanderung bereits fast verdoppelt: von weniger als 28.000 auf fast 54.000 Personen.

Mit der vorliegenden Untersuchung ist eine Art Bestandsaufnahme dieser - nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer Größenordnung einzigartigen - jüdischen Immigration nach Deutschland angestrebt. Sie soll die wenigen bisher vorliegenden, eher qualitativen Arbeiten zur sowjetischjüdischen Zuwanderung ergänzen. Berlin und die Berliner Migranten dienen dabei als Beispiel und Untersuchungsgrundlage, da die regional größte Gruppe der Neuzuwanderer - mehr als 7.000 Personen - hier lebt.

Nach der Erläuterung theoretischer Voraussetzungen und Verfahrensfragen sowie einiger Ausgangsbedingungen dieser Migrationsbewegung werden Aspekte der Sozialstruktur der Gruppe in bezug auf ihren Herkunftskontext und ihre Migration betrachtet. Vor diesem Hintergrund sind anschließend Lebensbedingungen und Aktivitäten der jüdischen Zuwanderer in Berlin sowie psychosoziale Aspekte im Zusammenhang mit der Migration angesprochen. Der letzte Teil skizziert Auswirkungen der Zuwanderung auf die Jüdischen Gemeinden Deutschlands, dabei speziell auf die Gemeinde in Berlin, und schließt mit einem Resümee der Ergebnisse ab.

1.1 Bezugsrahmen, Untersuchungsdesign und Verfahren

Die Migration sowjetischer Juden nach Deutschland ist wie jede Migration ein außerordentlich komplexes Phänomen. Sie sei für unseren Untersuchungsgegenstand zunächst allgemein als (residentielle, interregionale und aperiodische) Form räumlicher Mobilität, als Positionsveränderung und Wechsel von einer soziokulturellen Umgebung in eine andere definiert.

In der Intention, die Bestimmungsgründe und Folgen der sowjetisch-jüdischen Zuwanderung zu sammeln, wird hier davon ausgegangen, daß Migration - im Sinne einer Lebenslauf-Perspektive - von objektiven sozialen Merkmalen und subjektiven Faktoren abhängt, u.a. von sozialem Wandel, individuellen wie gesellschaftlichen Erfahrungen und Ereignissen beeinflußt wird, von Bedingungen der Herkunfts- und Zielregion, von Bildung, altersnormierten Sozialstrukturen sowie individueller Vergangenheit geprägt ist und sich zwischen institutionalisiertem Lebenslauf und biographischem Handlungspotential bewegt (vgl. Wagner 1989). In der Orientierung an dieser Sichtweise geraten zunächst Aspekte der Sozialstruktur und Biographie ins Blickfeld, die über Indikatoren wie Beruf, Alter, regionale Herkunft, Familienzyklus usw. näher zu bestimmen sind, aber auch kollektive und individuelle Erfahrungen, die mit der sowjetischen Geschichte und einer jüdischen Herkunft verbunden sind.

Weiter determinieren die biographischen Ressourcen der Einzelnen und die gesellschaftlichen Chancenstrukturen in der Herkunfts- und Zielregion nicht nur die Veranlassung zur Migration, sondern auch deren Verarbeitung und die Neueinbindung (vgl. Hoernig 1987). Migration kann ferner als non-normatives (u.U. kritisches) Lebensereignis ve rstanden werden, das eine einschneidende Veränderung im Lebenslauf bedeutet. Aus dieser Sicht sind Ursachen und Folgen der Migration - die z.B. die psychosoziale und soziokulturelle Verarbeitung, aber auch nichtkulturell bedingte Faktoren wie die Veränderung von Familienzusammensetzungen oder -beziehungen betreffen - in ihrer Verknüpfung angesprochen.

Um der komplexen Thematik annähernd gerecht zu werden, werden in einer eher beschreibenden Diagnose des "sozialen Feldes" kombinierte Verfahren angewandt. Die Untersuchung hat notwendigerweise eher explorativen Charakter, da Basisdaten zur Gruppe der jüdischen Migranten für die Bundesrepublik kaum vorliegen und die Problemfelder bislang nur grob abgrenzbar bzw. strukturierbar sind. "Objektive" Sachverhalte wie subjektive Deutungen der Beteiligten sollen gleichermaßen zu Wort kommen. So werden neben aggregierten Daten zur Nachzeichnung eines quantitativen Bildes vor allem "offene" Instrumente qualitativen Charakters und empirische Inhaltsanalysen verwendet. Dazu gehören: Anhörungen von Experten, "offene" Beobachtungen, Auswertungen von Klieentenakten aus der Sozialarbeit der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und freie Interviews (1).

Die qualitativen "Daten" und Ergebnisse, die u.a. Migrationsmotive, psychische und ethnische Probleme sowie Bereiche des Kulturwandels betreffen, können - dies apriori - im strengen Sinne nicht repräsentativ genannt werden; die Arbeit kann zu diesen Fragen keine größeren Stichproben einzelner Alterskohorten oder Zeitreihen anbieten, sondern lediglich "nah am Stoff" retrospektiv einen Teil der Palette individueller Lebensumstände, kumulativer Bedingungen und zeitlich-räumlicher Prozesse in ihrer Verzahnung mit institutionellen Bedingungen zeigen.

Eine gesichertere Datenlage bietet die durchgeführte Erhebung zu Fragen der soziodemographischen und -ökonomischen Struktur. Dazu wurde ein teilstandisierter Fragebogen erarbeitet, der seit 1990 für jedes neuzugewanderte Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin ausgefüllt und in eine computergestützte Datei übertragen wurde, die bei Veränderungen aktualisiert wird. Er umfaßt u.a. Alter, Geschlecht, Beruf, Geburts- und letzten Wohnort in der UdSSR, Einreisedatum, Umzüge innerhalb Deutschlands, jetzige Tätigkeit, Familienstand, Haushaltsmitglieder und ein Datei-Feld für besondere Eintragungen (siehe Formularauszug im Anhang). Nach einem Pretest 1993 mit 2.500 Datensätzen - z.T. wird zeitperspektivisch auf ihn zurückgegriffen - umfaßt die Erhebung zum Zeitpunkt der Auswertung für diese Arbeit (Ende 1995) eine Stichprobe von 4.006 Personen (2). Die Angaben wurden mit Hilfe eines Computerprogramms bearbeitet, ihre Auswertung beruht zumeist auf Häufigkeitsauszählungen und komplexeren Rechenoperationen (z.B. Kreuztabulierungen).

Die verwendete Stichprobe entspricht fast einer Vollerhebung der Grundgesamtheit "jüdische Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion in Berlin" im engeren Sinne. Im "engeren Sinne" meint hier, daß nur Personen, die nach dem sog. halachischem, d.h. jüdischem Recht (von mütterlicher Seite aus) Juden sind, Mitglied einer Jüdischen Gemeinde werden können und es i.d.R. auch geworden sind. Da somit - außer im Dateifeld "Haushaltsmitglieder" - nur Angaben von Gemeindemitgliedern berücksichtigt sind, können die Aussagen andererseits auch nur für diese und damit etwas mehr als die Hälfte der Zuwanderergruppe in Berlin gelten (3). Die Stichprobe erfaßt dennoch etwa 10 % der ca. 40.000 seit 1990 in die Gesamtbundesrepublik eingewanderten Personen, die ausländerrechtlich als "jüdische Zuwanderer" zählen.

Als Vergleichsgrundlage zu soziodemographischen Fragen innerhalb der jüdischen Gruppe und zur Kontrolle der Repräsentativität wird eine Studie der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRG 1994) zur Einwanderung nach Stuttgart herangezogen, die auf Daten von 240 Personen beruht. Daneben steht die Mitgliederdatei der Berliner Jüdischen Gemeinde zu Aussagen über die Grundgesamtheit ihrer Mitglieder zur Verfügung sowie Statistiken der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), die Zu- und Abgangsdaten aller deutschen Jüdischen Gemeinden erfaßt. Weiterhin wird Sekundärliteratur einbezogen, die sich zumeist auf Vergleichsstudien aus Israel und den USA beschränkt (4).

Als Vergleichsgruppe aus dem nichtjüdischen Migrationsfeld boten sich die deutschen Spätaussiedler aus der UdSSR an, da sie aus demselben gesamtgesellschaftlichen Kontext stammen, ebenfalls einen Minderheitenstatus einnahmen und im hiesigen Alltag durch die Außenzuschreibung "Russe/ Ausländer" mit ähnlichen Problemen konfrontiert sein dürften; so kann nach Parallelen oder Differenzen gesucht werden, um eventuelle Spezifika der jüdischen Gruppe herauszufiltern

 

2. Ausgangsbedingungen der Migration aus der früheren UdSSR

Die sowjetisch-jüdische Migration nach Deutschland findet in einem Kontext statt, der maßgeblich von Ereignissen und Bedingungen sowohl in der früheren UdSSR als auch in der BRD und Israel abhängt. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf einige wesentliche "äußere" Eckpunkte, die zum Entstehen und Verlauf dieser Migrationsbewegung beigetragen haben und zu ihrer Einordnung notwendig sind. Der letzte Abschnitt des Kapitels befaßt sich mit individuellen Migrationsgründen, vor allem unter dem Aspekt des Migrationsziels Deutschland.

2.1 Zur Situation sowjetischer Juden und ihrem Exodus

Bereits zwischen 1881 und 1914 haben ca. 2 Millionen Juden Rußland verlassen (Friedmann 1993, S.39) - in Folge zaristischer Pogrome, von Ausweisungsbefehlen und eines immer wieder aufwallenden Antisemitismus, der wiederum Mitursache für die Befreiungsidee des Zionismus war und für viele Juden ein Grund wurde, sozialdemokratische und kommunistische Ideale zu verfolgen.

Die Mehrheit der verbliebenen 5 Millionen Juden unterstützte so auch die russische Revolution, die 1917 Rechtsgleichheit versprach. 1928 wurde im Rahmen der sowjetischen Siedlungspolitik an der chinesischen (!) Grenze das Autonome Jüdische Gebiet Birobidshan ausgerufen, in dem aber tatsächlich nie mehr als 1% aller sowjetischen Juden lebten (Oswald 1993,S.34). Die nationale Gleichberechtigung und das Ende des Antisemitismus blieben ein Traum: seiner Devise, im Sozialismus sei die Nationalitätenfrage gelöst, gab Stalin in antijüdischer Tradition mit Schauprozessen, Morden an Intellektuellen, Sprachverbot und Schließung jüdischer Schulen und Synagogen Nachdruck. Juden waren "Volksverräter" und schuld an Fehlschlägen und Katastrophen der sowjetischen Kollektivierung. So sah die Sowjetmacht dann auch der deutschen NS-Politik tatenlos und schweigend zu, die über zwei Millionen sowjetischer Juden das Leben kostete (vgl. Benz 1991).

Aber auch nach dem 2. Weltkrieg und nach Stalins Tod 1953 ging der "proletarische Internationalismus" mit antisemitischer und nun vor allem antizionistischer Hetze weiter, in offenen Gewaltakten und der Brandmarkung jüdischer "Dissidenten". Dennoch hatte sich eine kleine jüdische intellektuelle Elite gebildet, die weiter auf Selbstbestimmung beharrte und mehr oder minder im Untergrund agierte (vgl. Koenen/ Hielscher 1991,S.215) (5). Doch war es erst die Politik Michail Gorbatschows, die ein Stück Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit für Juden ebenso wie für Rechtsradikale, Nationalisten und Neo-Kommunisten mit sich brachte. Deren neue Allianz, die Verbindung staatlicher Ignoranz mit einem Antisemitismus von "unten", versucht Juden im zerfallenen und krisengeschüttelten sowjetischen Imperium noch einmal zum Nationalfeind par excellence zu stigmatisieren: als innerer und äußerer Feind in Form einer globalen Verschwörung gegen das neue Rußland im "Pakt mit dem Weltjudentum" (6).

Wo auf der einen Seite seit 1986, besonders in der Ukraine und meist vom Ausland finanziert wieder Jiddische Theater, Gemeinden, kleine Religionsschulen und Verlage entstehen (Mertens 1993), kämpfen auf der anderen Seite chauvinistische Organisationen (Ruch, Pamjat) um das "Überleben der weißen Rasse" (DER SPIEGEL 8/ 1994, S.147ff) und feiern rechtsradikale Parteien Wahlerfolge. Übergriffe auf jüdische Intellektuelle, Pogromankündigungen ("Nacht der langen Messer" usw.), antijüdische Versammlungen und Publikationen, "Judenlisten" und Schmierereien in Hausfluren und an Briefkästen sind in allen Gesellschaftsschichten wieder salonfähig (taz 12.2.1990, 24.4.1990). 1990 bestätigten ca. 60% der befragten Moskauer in einer Umfrage die antijüdische Stimmung im Land (Mertens 1993, S.201).

An offizielle Ausgrenzung und den "kleinen alltäglichen" Antisemitismus hatten sich die meisten Juden gewöhnt; daß antisemitische Diskriminierungen keine strafrechtlichen Konsequenzen und rechtsradikale Gruppierungen gerade unter den Angehörigen der Miliz und jungen Menschen zahlreiche Anhänger haben, ruft jedoch neue Ängste hervor (AJW Nr.33,1992) und den Wunsch, dieses Land zu verlassen.

Bereits in den 60er Jahren hatten Juden in aller Welt unter dem Slogan "Let my people go" die freie Ausreise für sowjetische Juden gefordert, denn während der zehnjährigen Regierungszeit Chruschtschows bis 1964 hatten insgesamt nur knapp 1.500 Juden das Land verlassen dürfen (Mertens 1993,S.15). Nach seinem Sturz als Parteivorsitzender, mit den veränderten Beziehungen zu den USA und mit der Hoffnung der sowjetischen Führung, die Dissidentenbewegung aushöhlen zu können, stieg die Zahl der Ausreisegenehmigungen nach Israel und erreichte ihren vorläufigen Höchststand 1973 mit fast 35.000 Ausreisen (7). Zum Ende der Breschnew-Ära wurde die Auswanderung wieder beschränkt, verstärkte sich mit Gorbatschows veränderter Ausreisepolitik ab 1987 deutlich und gipfelte 1990 in 171.000 Ausreisen (ebd. S.2). Insgesamt hat Israel bis Mitte 1995 über 795.000 Juden aus der Ex-UdSSR aufgenommen, bei einer Gesamteinwohnerzahl unter 5 Millionen (8).

Da es bis 1989 keine Direktflüge nach Israel gab, reisten die ausgebürgerten Juden meist über Wien oder Rom; seit 1972 entschieden sich gleichzeitig immer mehr Migranten, unterwegs ihr Reiseziel zu ändern. Mit Hilfe der jüdisch-amerikanischen Hilfsorganisation HIAS konnten sie nach Kanada, Australien und vor allem in die USA weiterreisen, die diese "Kursänderung" erst 1989 durch eine zunehmend restriktive Einwanderungspolitik stoppte.

Indes war Israel, als erklärte Heimstatt aller Juden, trotz (oder wegen) dieser Willenserklärung mit der weiter steigenden Zuwanderungsquote partiell überfordert. Die Versorgung der Migranten mit Wohnungen und Arbeitsplätzen wurde zum Ende der 80er Jahre schwieriger und die Warnungen früher ausgereister Landsleute hielten etliche sowjetische Juden von der geplanten Migration nach Israel ab. Erst das wirtschaftliche Chaos in der GUS, Bürgerkriege und die Islamisierungstendenzen im Kaukasus und in Zentralasien führten ab 1992 wieder zu vermehrten Ausreisen nach Israel (vgl. Mertens 1993,S.6f). Das klassische Migrationsland USA und Israel stehen bei den Juden in der früheren Sowjetunion noch immer an erster Stelle der "Wunschliste" für eine Auswanderung; ein Teil von ihnen kommt nun jedoch auch nach Deutschland.

2.2. Aufnahmeentscheidungen, Rechtsstatus und Zuzugsbedingungen

Nach der minimalen Rück- und Einwanderung von Juden aus der Sowjetunion unmittelbar nach Ende des 2.Weltkrieges fanden kleinere Migrationsbewegungen bereits zwischen 1973-1980 und 1987-1989 statt; dies ausschließlich nach Berlin, da hier diverse Interimsregelungen zwischen Senat und dem damaligen Vorsitzenden der Berliner Gemeinde und des Zentralrats der Juden in Deutschland Heinz Galinski ausgehandelt waren. Die Migrationsbewegung, über die hier die Rede ist, die sog. Vierte Welle" (9), begann für Deutschland Ende 1989, als mit dem Fall der Berliner Mauer sowjetische Juden verstärkt mit Touristenvisa auch nach Ostberlin einreisten. Nachdem der Ostberliner "Runde Tisch" bereits im Februar 1990 die damalige DDR-Regierung unter Modrow aufgefordert hatte, die Einreise von Juden (egal welcher Staatsangehörigkeit) zu ermöglichen, beschloß die Folgeregierung unter de Maizière im Juli, die sowjetischen Flüchtlinge unbürokratisch aufzunehmen und unterzubringen (vgl. Runge 1993,S.12f). Die Botschaft "Deutschland nimmt auf" verbreitete sich schnell bis in den "letzten Winkel" der Sowjetunion. Vereinheitlichungen und überterritoriale Lösungen wurden zwingend notwendig: Ostberlin war mit der Zahl der nun Einreisenden überfordert und diese hatten dort einen günstigeren Rechtsstatus als in Westberlin (un-befristeten Aufenthalt und Unterbringung; Westberlin: Duldung ohne Unterbringung), gerieten jedoch mit dem Einigungsvertrag faktisch in einen rechtsfreien Raum (vgl.AJW, Nr.45/48 1990).

Indes wurden die Medien aufmerksam und "Die Republikaner" fragten beim Senat an: "Wollen Sie nicht endlich den Gemeindevorsitzenden Galinski darauf hinweisen, daß er es unterlassen möge, jüdische Sowjetbürger dazu aufzufordern, nach Berlin zu kommen?" (Senats-Anfrage Nr.14/1990). Die Bundesregierung erließ noch am 9.9.1990 einen Einreisestop (vgl. AJW, 45/48 1990). Dennoch kamen allein im Dezember noch 1.600 Juden nach Berlin. Nach Verhandlungen des Zentralrats der Juden mit der Regierung und einer Erklärung der Bundestagsparteien Ende 1990 - "bei diesem höchst sensiblen Thema und der Verantwortung gegenüber der deutschen Geschichte" (Gerster/CDU) dürfe man "nicht kleinlich herumrechnen" (Glotz/SPD) - beschloß die Ministerpräsidentenkonferenz im Januar 1991 die zwischen Juni '90 und Januar '91 bereits eingereisten sowjetischen Juden nach dem sog. "Kontingentflüchtlingsgesetz" aufzunehmen und für die Zukunft eine Einwanderung (ausschließlich) durch ein offizielles Antragsverfahren über die deutschen Auslandsvertretungen in der UdSSR zu ermöglichen (10).

Es folgten zahlreiche Zusatz- und Änderungsregelungen zur Kontingentierung von Personen, die vor oder nach den o.g. Stichtagen als Touristen gekommen waren. Dennoch wurde Berlin - als meist erster Anlaufpunkt - zum Sammelbecken der "zu spät Gekommenen". Der Berliner Senat unternahm daraufhin im Juni 1992 nochmals einen Alleingang und beschloß, Verwandten von in Berlin lebenden Flüchtlingen, die mit Touristenvisum einreisen, eine auf Berlin beschränkte Aufenthaltsbefugnis zu erteilen (11). Aufgrund des nun einsetzenden starken Zustroms beschränkte er die Regelung ein halbes Jahr später wieder: auf Eltern und Kinder.

Ungeachtet dessen reisen weiter Menschen ein, an bestehenden Bestimmungen vorbei. Angesichts eines Jahre währenden Verfahrensweges wird dabei mitbedacht, daß die Regelung nicht auf Rechtsansprüchen beruht, damit vorläufig ist und je nach Demokratieverständnis der Regierenden oder den aktuellen diplomatischen Beziehungen zu den UdSSR-Nachfolgestaaten widerrufen werden könnte. Darüberhinaus ist das deutsche Ausländergesetz für die wenigsten nachvollziehbar, wirkt willkürlich und ermutigt, Lücken und Umwege zu suchen.

In der Tat ist die Aufnahme der sowjetischen Juden eine rein politische Entscheidung, mit der zunächst ein aktuelles Problem, d.h. ein bereits bestehender massiver Druck beseitigt wurde. Die weitere Umsetzung der Kontingentregelung ist wenig generös, bedenkt die Verhältnisse in der GUS nicht und ist von Unstimmigkeiten in der Gesetzesanwendung begleitet. Dazu gehört, daß die Ausländerbehörden die Migranten häufig auffordern, ihre Nationalpässe bei den GUSBotschaften zu erneuern, obwohl das Gesetz dies untersagt und deutsche Reiseausweise vorschreibt (BGSBl. S.1384). Dazu gehört, daß die Entscheidungskompetenz zur Prüfung des "begünstigten Personenkreises" bei den deutschen Auslandsvertretungen liegt - bislang ohne einheitliche Rechtsgrundlage bzw. Kriterien. Wurde zunächst jede Person aufgenommen, die mindestens von einer Elternseite her jüdisch war, hat sich z.B. die Botschaft in Kiew ein eigenes Hausrecht geschaffen und nimmt nur noch Anträge halachischer Juden entgegen (womit sie sich jüdischem, aber nicht deutschem bürgerlichem Recht beugt). Alle anderen müssen nachweisen, als Juden verfolgt zu sein. Wie schwierig ein solcher Nachweis erbracht werden kann, ist aus der Asylverfahrenspraxis bekannt (Asylanträge sowjetischer Juden werden im übrigen abschlägig beschieden). Zu den Konsequenzen gehört ebenso, daß die Botschaften z.T. erst wieder 1998 Anträge entgegennehmen werden, die Mafia vor ihren Türen gegen hohe Bestechungsgelder Wartenummern auf Jahre im voraus verkauft und die ex-sowjetischen Behörden willkürlich handeln; das Auswärtige Amt bekundet jedoch seinen Willen, einvernehmlich mit diesen Stellen zusammenzuarbeiten (das bedeutet u.a. Ausreiseverbot für Personen mit ehemals sicherheitsspezifischer Tätigkeit).

Dennoch liegen dem Bundesverwaltungsamt bereits 87.000 laufende Anträge vor und es wird von weiteren 200.000 potentiellen Einreisewilligen ausgegangen (BVA Ref.III 4). Nach der Statistik des BVA von Mitte 1995 waren - zusammen mit den 8.535 Altfällen seit Ende 1989 - bis zu diesem Zeitpunkt 38.660 jüdische Emigranten eingereist (die meisten hat Berlin, Nordrhein-Westfalen und Baden-Würtemberg aufgenommen). Über eine Aufnahmezusage verfügten jedoch 66.915 Personen; d.h. mehr als die Hälfte der zugesagten Einreisen hat nach dieser Statistik noch nicht stattgefunden.

Diese Daten sind vorsichtig zu interpretieren. Für Berlin ist bekannt, daß Migranten dem BVA nicht gemeldet wurden - Personen, die nachträglich kontingentiert wurden, als Familienangehörige nachgereist sind, das Bundesland gewechselt oder ihr eigenes Verfahren "überholt" haben, indem sie vor einer Zusage einreisten und auf einem anderen Weg (z.B. Heirat) versuchten, schneller eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen (12). Trotz unkorrekter Zahlen wird ein Trend erkennbar: anders als zu Beginn der Einreisewelle nutzt ein Teil der sowjetischen Juden die Ausreisemöglichkeit nicht, mit Verzögerung oder in einer anderen Weise als vom Gesetzgeber vorgesehen. Nach einer Erklärung befragt, gaben Migranten an, man lasse sich mehr Zeit, um persönliche Angelegenheiten zu klären oder betreibe Einreiseverfahren für mehrere Staaten und reise in das Land aus, das zuerst zusagt. Die Aufnahmezusage vermittelt zudem ein Gefühl der Sicherheit: man kann das Land verlassen, muß es aber nicht und wartet ab. Ähnliches wird bei deutschen Aussiedlern beobachtet, die ihre Aufnahmebescheide "als Sicherheitspapiere für eventuelle Notfälle" betrachten (IDDA 73/95) (13).

Die Diskrepanz zwischen Zusage- und Einreisezahlen wird sich bei den jüdischen Migranten u.U. bald verringern, da ihre Aufnahmezusagen infolge einer Änderung der Bestimmungen nun nach einem Jahr verfallen.

2.3 Migrationsziel: Deutschland

Sowohl der deutsche Staat als auch die jüdischen Institutionen beweg(t)en sich mit ihrer Entscheidung zur jüdischen Einwanderung auf zwiespältigem Grund. Kritik kam vom Jüdischen Weltkongreß, jüdischen Organisationen in den USA und aus Israel: man sah die israelische Einwanderungspolitik boykottiert, protestierte dagegen, daß Juden den Status heimatloser Flüchtlinge annehmen sollten und konnte nicht "guten Gewissens" einer Einwanderung in ein Land zusehen, das "beispiellose Verbrechen an Juden" begangen hat (Mertens 1993,S.222f) (14). Doch scheint es auch für Deutsche nach wie vor fragwürdig zu sein, daß Juden in diesem Land leben wollen: "Vielleicht muß man es zweimal lesen, um es zu begreifen: Sowjetische Juden emigrieren nach Deutschland" - schreibt die Berliner Zeitung am 31.5.1990.

Die Zuwanderer selbst hatten offenbar ein weitaus unbelasteteres Bild von Deutschland. Zum einen hatten nur wenige Migranten, die sich für die Einreise nach Deutschland entschieden, direkte Erfahrungen mit der Shoah (15) gemacht, zum anderen wird Antisemitismus, besonders von Jüngeren als spezifisch sowjetische Erscheinung wahrgenommen. Viele waren auch der Ansicht, die Deutschen hätten aus der Vergangenheit gelernt und würden (bzw. müßten) nun besonders freundlich mit Juden umgehen bzw. es überwog das positive Bild der Deutschen als "Dichter und Denker".

"Hier gehen sie demonstrieren, wenn eine Synagoge brennt. Bei uns würden sie das auch tun, mit Uniformen und Fahnen und schreien, daß man nicht eine, sondern alle anzünden soll." (R., Informatiker, 35)

"In Deutschland, denke ich, zählt Leistung, nicht die Nase. Damit kann ich umgehen." (B., Physiker, 46)

"Ich habe die Revolution, die Blockade, den Kommunismus und die Judenhasser überlebt. Mich schreckt das bißchen Antisemitismus hier nicht. Immerhin hat Deutschland mich eingeladen." (I., Rentner, 86)

"Die Deutschen waren immer sehr gebildet. Sie haben doch große Traditionen. All die deutschen Philosophen und dann Goethe und Heine. Mich hat das immer sehr beeindruckt." (G., Lehrerin, 34)

Ein Großteil der Zuwanderer ist jedoch gänzlich "unideologisch" an die Migrationsentscheidung gegangen. Besonders in der Anfangsphase war die Migration nach Deutschland für viele vor allem von pragmatischen Gesichtspunkten bestimmt. In einer Situation, in der der Ausreisedruck wuchs und andererseits Migrationsformalitäten üblicherweise langwierig sind, bot sich Deutschland als Ausweg an. Man konnte anfänglich als Tourist einreisen. Das Risiko bei einer Ablehnung war nicht zu groß - aufgrund der relativen Nähe und weil der Einreiseversuch gegenüber sowjetischen Behörden als Urlaub getarnt werden konnte. Die Ausreisentscheidung wurde von 2/3 der Migranten, die zwischen Ende 1989 und Mitte 1991 kamen, spontan bzw. sehr kurzfristig getroffen.

"Wir haben alles stehen und liegen lassen, sind einfach losgefahren, mit einer Tasche. Wenn es nicht geklappt hätte, wären wir umgekehrt und hätten weiter auf die Papiere für Amerika gewartet." (A.,Tänzerin, 36)

"Erst war ich allein hier. Meine Frau ist mit den Kindern nachgekommen, als alles klar war." (O.,Ingenieur,40)

Zu ihrer Entscheidung, ("ausgerechnet") in Deutschland leben zu wollen, trifft die jüdischen Zuwanderer häufig gleichzeitig der Vorwurf, daß oder warum sie nicht nach Israel ausgereist sind (16). Für kaum einen Migranten implizierte die Einreise in die Bundesrepublik eine dezidierte Haltung gegen Israel, jedoch befürchteten viele Zuwanderer, sich in Israel weniger gut einleben zu können als in Deutschland oder von einer unsicheren Situation in die nächste zu geraten.

"Dort wäre nur alles zu fremd für mich. Das Klima, das Orientalische, die Sprache. Vielleicht hätte ich mich doch eingewöhnt. Aber jetzt bin ich hier. Nochmal gehe ich nicht weg." (G., Rentnerin, 76)

"Ich bin froh, daß wir unseren Sohn vor dem Militär gerettet haben. In Israel müßte er da auch hin und unsere Tochter auch. Der ganze Krieg da macht mir Angst. Die Araber werden keine Ruhe geben." (Y.,Ingenieur, 49)

"Ich bekomme doch die Briefe von den Verwandten. Sie wohnen ganz weit weg von Tel Aviv, haben bis jetzt keine Arbeit. Sie bereuen schon, daß sie gefahren sind." (L., Buchhalterin, 52)

"Israel ist auch Ausland für mich. Deutschland ist mir etwas näher, ich meine neutraler. In Israel muß man irgendwas sein: religiös, Zionist, Sozialist. [..] Meine Frau ist keine Jüdin, die hätte es bestimmt auch nicht leicht." (O., Jurist, 40)

Die Einschätzungen israelischer Verhältnisse basierten fast ausschließlich auf Informationen Dritter. Die Migranten hatten i.d.R. Israel nie selbst besucht, Deutschland jedoch ebensowenig. Auch über hiesige Verhältnisse war kaum jemand korrekt unterrichtet. Auslandsmedien waren in der UdSSR kaum zugänglich, Inlandsmedien wurde nicht vertraut (selbst wenn sie zutreffend berichteten) und die wenigen, die Deutschland besucht hatten oder bereits hier lebten, nährten den Mythos von der reichen und freizügigen Bundesrepublik und idealisierten ihr hiesiges Leben. Zusätzlich anziehend war für viele Migranten - anders als im Fall Israels oder der USA - die geographische und angenommene kulturelle Nähe:

"Ich wollte hierher, weil ich die deutsche Kultur kenne. Ich bin Europäer mit einer europäischen Lebensweise. Ich dachte, hier kann es ja nicht groß anders sein als zu Hause. Höchstens besser." (W., Jurist, 56)

"Für mich ist wichtig, daß ich ab und zu nach Moskau zu meinem Vater fahren kann". (R., Erzieherin, 36)

"Wenn unsere Propaganda geschrieben hat, hier sind sie arbeitslos und die Kriminalität ist furchtbar und alles ist schlecht, dachte ich, dann muß es da wohl besonders gut sein." (R., Sekretärin, 58)

"Ich dachte, hier wird jeder aufgenommen, der aus kommunistischen Ländern kommt." (I., Ingenieurin, 41)

"Von dem, was man so gehört hat, hab ich mir das hier wie im Paradies vorgestellt." (K., Krankenschwester, 50)

Das auf diffuse Weise positive Deutschland-Bild verband sich mit der Wahrnehmung einer Migrationsmöglichkeit nach Deutschland zu konkreteren Hoffnungen und Erwartungen: Defizite und Verunsicherungen, die in der UdSSR erlebt worden waren, in Deutschland ausgleichen zu können bzw. nicht vorzufinden. Die Migranten kamen aus verschiedenen Kontexten (siehe 3.), mit unterschiedlichen Defiziten und Erwartungen, die meist mehrere Bereiche betrafen. Ihre Migrationsmotive sind dementsprechend komplex und differenziert (17). Sie sind z.T. aber auch ambivalent; neben zwiespältigen Motiven, können sich viele selbst nicht genau erklären, was sie letztlich zur Ausreise veranlaßt hat, finden retrospektiv Erklärungen, haben sich von "Zufällen", positiven Berichten zuvor ausgereister Verwandter und Freunde beeinflussen lassen oder sind ihnen gefolgt.

Die starke Sogwirkung ist ein Merkmal der "Vierten Welle" (über Dreiviertel derjenigen, die nach 1991 nach Berlin eingereist sind hatten bereits Angehörige hier, die in den 70er Jahren, aber hauptsächlich zwischen Ende 1989 und Mitte 1991 gekommen waren). Sie ist eine Art Kettenreaktion, die den Eindruck erweckt, daß nicht nur Verwandte, sondern "alle gehen", ein Eindruck, der nun auch Menschen das Land verlassen läßt, die nicht an Auswanderung gedacht hatten, die sie als Verrat ansahen oder sich nicht entscheiden konnten. Auszüge aus den Interviews mit Berliner Migranten sollen einige Gründe und Motive der Migration abschließend kaleidoskopartig zusammenfassen:

"Mein Mann war Ingenieur in Tschernobyl. Obwohl wir da nicht gewohnt haben, sind alle krank. Unsere Tochter ist die ganze Zeit im Krankenhaus. Sie hat jetzt gute Chancen, sagt der Arzt." (T., Geologin, 35)

"Ich habe lange gewartet, aber wenn du denkst, du bist der Letzte, gehst du auch." (A., Goldschmied, 52)

"Ich bin Wissenschaftler. Ich bin Spezialist auf meinem Gebiet, aber als Jude ist man in Rußland immer nur 2.Klasse." (B., Kybernetiker, 46)

"Wir waren bei Oma zu Besuch, sie hat uns überzeugt. Es gab gerade die Möglichkeit, zu bleiben. Wir mußten uns an einem Tag entscheiden. Mama sagte auch: 'Morgen kommen wir nicht wieder'." (A., Schüler, 17)

"Bei uns war doch alles irgendwie verseucht. Das Obst, die Milch, sogar das Trinkwasser. Wer kann denn das alles auf die Dauer aushalten? " (N., Chemikerin, 42)

"Was sollte ich noch in Kiew? Meine ganze Familie ist in Berlin." (T.,Verkäuferin, 59)

"Wir sind ausgereist, als unser Sohn zur Armee sollte. Weißt du, wie es Juden da geht? Da kann man jetzt alles mit uns machen. [..] Ich will nicht, daß mein Sohn umkommt, weil die Krieg spielen wollen." (Y., Ingenieur, 49)

"Mein Mann wollte hierher. Ich nicht. Bestimmt nicht." (B., Restauratorin, 45)

"Wir haben in Angst und Schrecken gelebt. Dauernd diese Drohbriefe. Irgendwann hätten die uns umgebracht." (Valeri, 56)

"Was soll ich sagen. Alle sind gefahren, also fuhren wir auch." (R., Ingenieurin, 44)

"Larissa [die Tochter] ist von Geburt an behindert. Zuhause konnte ihr niemand helfen. Ich hoffe, daß sie hier operiert wird. [..] Wenn ich dann Arbeit habe, kann ich auch meinen Vater in Moskau unterstützen." (R., Erzieherin, 36)

"Alle haben gesagt, sie leben hier gut und ich wäre dumm, wenn ich nicht nachkomme." (G.,Schneider, 48)

"Ich möchte die Welt sehen. Es gibt doch noch mehr als Solschenizyn und Wladiwostok. Das ist alles so beschränkt in Rußland. Zu eng. Alles zu eng. Egal, wer da gerade an der Macht ist. Wir sind doch Jahrmillionen hinter der Zeit zurück. Das kann man nur allein aufholen. [..] Deutschland ist meine Startrampe und dann sehe ich weiter." (S., Student, 24)

"Ich habe meinen Vater geholt. Er hat umgerechnet 20 Mark Rente. Ein Kilo Kirschen kostet 5 Mark. Er hat Glück, weil er mich hat. Die anderen Alten sitzen auf der Straße und betteln. Das muß man sich mal vorstellen, sie sagen, im Krieg wär es ihnen besser gegangen. Da hatten sie Kupons, für die sie nicht viel bekommen haben, aber sie haben es bekommen. Aber er sieht das anders, er wär trotzdem lieber da geblieben. " (S., Philologin, 45)

"Nein, mir ging es wirklich nicht schlecht. Aber wie lange noch ? In Rußland funktioniert nur noch die Mafia. Wenn du nicht genauso brutal bist, gehst du irgendwann unter. Ich bin vorher gegangen." (V., Architekt, 52).

 

Anmerkungen:
(1) Die Migranten wurden seit Beginn der Einwanderungswelle begleitet und beobachtet. Neben täglichen beruflichen Gesprächen mit Migranten, die z.T. in die Arbeit einfließen, wurden 45 narrative Interviews zum Leben der Migranten in der Sowjetunion und in Deutschland durchgeführt. Auszüge aus ihnen sind mit Initial des Vornamens, (u.U.ehemaligem) Beruf und Alter der Interviewten gekennzeichnet; Gespräche in Russisch wurden übersetzt; satzergänzende oder satzerklärende Einschübe sowie Auslassungen sind - in allen Fremdzitaten - durch eckige Klammern markiert. Die Personen wurden zu verschiedenen Zeitpunkten und z.T. wiederholt befragt. Die Auswahl erfaßt Migranten unterschiedlicher Altersgruppen, sozialer und regionaler Herkunft und Aufenthaltsdauer, folgte ansonsten jedoch dem Zufallsprinzip bzw. wurde durch die Aussagewilligkeit/Erreichbarkeit von Personen bestimmt. Dazu wurden berufliche und private Kontakte und Vermittlungen Dritter genutzt.
(2) Da die Fragebögen von verschiedenen Mitarbeitern ausgefüllt wurden, kam es zu einigen ungenauen bzw. unklaren Eingaben. Bei Einschränkungen bzw. je nach vorhandenen Daten zu einer Teilfrage wird in der Auswertung die Bezugsgröße daher jeweils benannt, ebenso wie bei Verwendung anderer Dateien (z.B. der allgemeinen Mitgliederdatei mit über 10.000 Datensätzen/1995). Wenn darüberhinaus an der jeweiligen Textstelle nicht anders angegeben, beruhen die genannten Angaben und Berechnungen auf der eigenen Untersuchung.
(3) Nicht-Mitglied der Jüdischen Gemeinde und damit nicht näher erfaßt, sind nichtjüdische Familienmitglieder gemischter Ehen, nichthalachisch-jüdische Einzelpersonen und Familien, in denen niemand nach halachischem Recht jüdisch ist. Bei demographischen Fragen dürfte dies aufgrund der Größe der erfaßten Gruppe weniger relevant sein; es könnte je nach Intention jedoch als Mangel betrachtet werden, daß sich Feststellungen zu qualitativen Fragen (Migrationsmotive, Beziehung zum Judentum) meist nur auf Aussagen von Gemeindemitgliedern stützen. Die Befürchtung einer einseitigen Betrachtung ist relativ unbegründet: die Mehrzahl der Migranten tritt (wenn dies nach o.g. jüdischen Recht möglich ist) auch dann in Gemeinden ein, wenn keine "inneren" Bindungen an das Judentum bestehen, da die Mitgliedschaft in bezug auf Wohnraumversorgung etc. sinnvoll ist und z.T. zur Erteilung des Aufenthalts von den Ausländerbehörden verlangt wird.
(4) Für die BRD existieren nur wenige Auswertungen kleiner Stichproben zu verschiedenen Aspekten dieser Migration, die m.E. in Einzelfällen auch unseriös sind (siehe 4.1.4). Größere Studien sind bisher an Datenschutzfragen, an der schlechten Erreichbarkeit und Mitwirkungsbereitschaft der Gruppe gescheitert. So beruhen die Zwischenergebnisse der (einzigen) flächendeckend angelegten Umfrage vom Steinheim-Institut/ Mendelssohn-Zentrum zum Deutschlandbild, der Integration und kulturell-religiösen Selbstbehauptung der Migranten (Schoeps 1993) nur auf einer Stichprobe von 144 Personen (in einer 2. Erhebungsswelle sollen 1996 weitere Resultate mit einem größeren Sample veröffentlicht werden). Mangels vergleichbaren Datenmaterials wird an einigen Stellen auf diese Studie verwiesen.
(5) Der Sechs-Tage-Krieg 1967 ließ bei vielen sowjetischen Juden Stolz und ein Nationalbewußtsein erwachen, gleichzeitig aber auch die Erkenntnis, daß die Sowjetunion mit der militärischen Unterstützung der arabischen Staaten auch den Juden im eigenen Land die angestrebte Assimilation und Gleichberechtigung verwehren würde (vgl. Mertens 1993, S.16ff).
(6) Ein Migrant: "In der Sowjetunion kommt alle Verderbtheit aus dem Westen. Der Westen ist jüdisch, und die Verderbtheit ein Werk >zionistischer Verschwörer<. [..] Was hat Gorbatschow den Leuten gebracht? Geldentwertung, Hunger und die Freiheit, öffentlich zu jammern. [..] Was kommt heraus? Die Judenhasser lesen ihre Vorurteile in ihrer Hauspostille. Also wer ist an allem schuld? Der Jude Gorbatschow." (in: Duwidowitsch 1993,S.103)
(7) Anfang der 70er Jahre mußten die Ausreisenden noch eine "Diplomsteuer" bis zu 24.000 Rubel (das Monatseinkommen lag im Schnitt bei 130 Rubel) für die erhaltene höhere Bildung entrichten (Mertens 1993,S.89). Und bis 1990 war eine Einverständniserklärung der Eltern zur Ausreise nötig; etliche verweigerten dies, da es das Ende der eigenen Karriere bedeuten konnte. Damit war auch der weitere Weg der Kinder blockiert, da sie i.d.R. den Arbeitsplatz mit dem Ausreiseantrag verloren (Duwidowitsch 1993,S.141)
(8)
Seit der Staatsgründung wurden 2,5 Millionen Menschen aufgenommen, u.a. 345.000 aus Marokko, Algerien und Tunesien, 445.000 aus Rumänien und Polen, 206.000 aus Iran und Irak, 71.000 aus den USA und 48.000 aus Äthiopien (Maariv 26.10.95).
(9) Die Einteilung wird in der Literatur nicht für die Einreisewellen nach Deutschland, sondern für die Auswanderungshöhepunkte aus der UdSSR verwendet: 1. nach der Revolution 1917, 2. nach dem 2.Weltkrieg, 3. in den 70er Jahren und die (bereits abflauende) 4. Welle ab 1990. Der Begriff "Vierte Welle" soll sich im folgenden auf die Migranten beziehen, die als Teil dieser "Welle" in die BRD kommen.
(10) Die Übernahme erfolgt aufgrund entsprechend verfügbarer Kontingente; die Betreffenden erhalten eine Bescheinigung über die Eigenschaft als "ausländischer Flüchtling im Sinne des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommener Füchtlinge vom 22.7.1980" (vgl. BGBl. S.1057) und erlangen die Rechtsstellung nach den Art. 2 - 34 der Genfer Konvention, ohne ein Asylverfahren zu durchlaufen; d.h. es wird einer Gruppe ohne Einzelprüfung die Regelvermutung der politischen Verfolgung zuerkannt. Der privilegierte Aufenthaltsstatus beinhaltet eine formale Gleichstellung mit Bundesbürgern in grundsätzlichen sozial- und arbeitsrechtlichen Fragen, aber z.B. nicht bei Berufsanerkennungen, Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft usw.
(11)
Der Titel "Aufenthaltsbefugnis" wurde 1990 eingeführt: bei Genehmigung des Aufenthalts "aus völkerrechtlichen oder dringenden hu-manitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der BRD", u.a. wenn das "Verlassen des Bundesgebietes eine außergewöhnliche Härte" bedeuten würde (vgl. Schiedermair, S.59). Die Befugnis und andere begrenzte Aufenthaltstitel (z.B. durch Heirat erworbene) schließen viele arbeits- und sozialrechtliche Förderungen aus (AFG, Kinder- und Pflegegeld, Heimunterbringung) und u.U. auch die Hilfe zum Lebensunterhalt: lt. § 120 BSHG hat keinen Anspruch, "wer sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben hat, um Sozialhilfe zu erlangen." Die Klausel wird nach Gutdünken angewandt, im besten Fall wird mit der Begründung Hilfe gewährt, die Geltungmachung verfolgungsähnlicher Diskriminierung sei auch ohne Asylantrag als glaubhaft anzusehen.
(12)
Den ca. 4.500 vom BVA offiziell registrierten Personen stehen in Berlin ca. 7.500 tatsächlich Zugereiste entgegen. Insgesamt waren 1995 19.589 Ausländer aus den Nachfolgestaaten der UdSSR melderechtlich registriert (Top Berlin 1995), von denen, neben den offiziell als "jüdische Zuwanderer" gemeldeten Personen weitere mit der jüdischen Einwanderung in Verbindung stehen dürften.
(13)
Dennoch sind seit 1990 über 1.120.000 deutsche Aussiedler aus der GUS eingereist (IDDA 69/1995; BMI 1996).
(14) Die Aufnahme ehemaliger sowjetischer Juden, die während des Golfkriegs aus Israel eingereist waren, belastete die deutsch-israelischen und die innerjüdischen Beziehungen zu dieser Zeit zusätzlich (vgl. taz, 3.1.1991).
(15)
hebräisch: Katstrophe, Untergang, Unheil - Synonym für den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden
(16) Ein Teil der deutschen Bevölkerung ist der Ansicht, Juden müßten in Israel leben (siehe 4.2.1). Ungewollt und mit anderen Vorzeichen wird damit die Haltung Israels übernommen, das die Einwanderung nach Israel als "Alija" ("Aufstieg") religiös, ideologisch und politisch-sozial betrachtet und die Auswanderung aus Israel bzw. die Einwanderung in andere Länder als Israel emotional stigmatisiert. Am stärksten davon betroffen sind Juden in der BRD, unabhängig von ihrem Geburtsland.
(17) Die Umfrage von Schoeps et al. (1993) erfragte u.a. Ausreisemotive von GUS-Juden (allerdings mußten sich die Befragten für einen von 5 vorgegebenen Ausreisegründen entscheiden): 31,3% gaben Antisemitismus als Ausreisegrund an (69,4 % hatten direkte Diskriminierungserfahrungen gemacht), 20,8 % die Furcht vor Bürgerkrieg, 31,2 % die persönliche oder familiäre und 4,2 % die wirtschaftliche Situation; 12,5 % machten keine Angaben.

hagalil.com 28-02-03

Synagogen und Gottesdienste
Wichtige Adressen
Terminkalender
Führungen
Startseite

English Content

 


DE-Titel
US-Titel


Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!

Werben in haGalil?
Ihre Anzeige hier!

Advertize in haGalil?
Your Ad here!

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2008 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved