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Beispiel Berlin:
Jüdische Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990

Von Judith Kessler

5. Auswirkungen der Zuwanderung auf die Jüdische(n) Gemeinde(n)

In der sozial-religiösen Tradition des Judentums entspricht die Aufnahme und Unterstützung von Flüchtlingen der Erfüllung der Mizwa ("Gebot") des pidjon schewujim ("Errettung der Gefangenen"), die in der 2000jährigen Diaspora existentielle Bedeutung hatte. Dieser Aspekt, Troen nennt ihn "nationale jüdische Solidarität" (1993, S.28), war einer der Gründe, die Aufnahme sowjetischer Juden in Deutschland zu fordern. Dabei spielte eine nicht unwesentliche Rolle, daß sich die Führung der zentralen jüdischen Institutionen in Deutschland bis heute fast ausschließlich aus Überlebenden der Shoah rekrutiert, deren Selbstverständnis durch diese Erfahrung wie durch die Werte ihrer Generation geprägt ist. Ein zweiter Grund, die jüdische Zuwanderung (auch gegen den Willen Israels) zu unterstützen, hing damit unmittelbar zusammen: die Angst vor einem allmählichen Aussterben der durch die Shoah auf eine verschwindend kleine Zahl "reduzierten" Juden in Deutschland.

Die Sorge um den (formalen) Erhalt der jüdischen Gruppe ist mit der gesetzlichen Regelung, mit dem massiven "Anrollen" der "Vierten Welle" nun vorläufig in den Hintergrund geraten. Tatsächlich hat es nach dem Zweiten Weltkrieg keine vergleichbar große und schnelle jüdische Zuwanderungsbewegung gegeben. Doch kann es weder für die Jüdische(n) Gemeinde(n) als Institution, noch für ihre Mitglieder folgenlos bleiben, daß die bisherige Majorität durch diese "Welle" in kürzester Zeit, nach Mitgliederzahlen gemessen, zur Minorität geworden ist. Die damit in quantitativer wie qualitativer Hinsicht angesprochenen Veränderungen beginnen sich in beinahe allen Bereichen allmählich herauszukristallisieren. Die folgenden Ausführungen beschränken sich indes auf drei zentrale Aspekte: die Mitgliederstruktur der Jüdischen Gemeinde(n), die soziale Arbeit (die neben und verknüpft mit einer religiösen und einer kulturellen Funktion die Hauptaufgabe Jüdischer Gemeinden darstellt) sowie die Aufnahmebereitschaft der Altmitglieder bzw. die Partizipation der Neuzuwanderer.

5.1. Veränderungen in der Mitgliederstruktur

Die ca. 60.000 bis 70.000 Juden in der Bundesrepublik machen weniger als 0,1 % der Bevölkerung aus. Vor 1933 lebten über 600.000 Juden in Deutschland; Berlin hatte mit 173.000 Mitgliedern (4,3 % der Bevölkerung) die größte Gemeinde. Die deutschen Juden (oder jüdischen Deutschen) vor 1933 unterschieden sich auch in Berlin nicht wesentlich von der übrigen Bevölkerung: ein großer Teil war so assimiliert und säkularisiert wie national orientiert - anders als die Ostjuden aus Polen und Rußland, die häufig traditionell jüdisch lebten und deren Berliner Geschichte mit dem armen "Scheunenviertel" ebenso verbunden ist wie mit klangvollen Namen. Für 1921 verzeichnete ein Branchenbuch allein 48 russische Verlage in Berlin und der "Verband der russischen Juden in Deutschland" zählt 1925 etwa 20.000 Flüchtlinge, von denen die meisten in Berlin lebten (Burchard/Duwidowitsch 1994).

Gerade 8.000 Berliner Juden erlebten das Jahr 1945, das Ende der Nazi-Diktatur und des Massenmordens. Nach Kriegsende kamen vor allem ungarische, tschechoslowakische und polnische Juden aus den KZs nach Berlin. Die Massenauswanderung zwischen 1948 und 1952 in den gerade gegründeten Staat Israel kostete fast die gesamte kulturelle und religiöse Substanz der jüdischen Minderheit. Displaced persons und die kleine deutsch-jüdische Restgruppe machten nun den Kern der Gemeinden aus. Sie blieben, obwohl ihnen Deutschland erst nur Durchgangsstation sein sollte und setzten sich damit dem Vorwurf von Juden in aller Welt und der Ächtung durch jüdische Organisationen aus, die das "Land der Mörder" unter Bann stellten (vgl. Kessler 1995). Die ursprünglichen "Abbruchgemeinden" veränderten sich seit den 50er Jahren zu Einwanderergemeinden - durch Rückwanderer (aus Süd- und Nordamerika, England, China z.B.) und neue Flüchtlinge. Politische Konflikte, antisemitische Wellen und eine stalinistisch-antizionistische Politik in Osteuropa zeitigten eine permanente, wenn auch zahlenmäßig kleine Einwanderungsbewegung aus z.B. der DDR (1953), Ungarn (1956), Tschechoslowakei (1968) und Polen (1968,1973). Daneben kam es häufig zu Ehen mit nicht hier ansässigen Juden und infolgedessen zu Nachzügen aus dem Ausland (vor allem Israel).

Die auf die regionale Herkunft bezogene Struktur der Gemeinden spiegelt sich in der oben stehenden Abbildung wider (Berlin kann hier als typisch für die Altbundesländer gelten) (109).

Die Auszählung nach Geburtsorten in der Mitgliederdatei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin ergibt, daß von allen 10.006 Mitgliedern (1.11.1995) fast 76 % im Ausland geboren sind (110). Neben dem Umstand, daß die nicht aus der Sowjetunion stammenden Juden ihre Mehrheit verloren haben und mit 4.257 Personen zum Zeitpunkt der Erhebung noch 42,5 % der Gemeindemitglieder ausmachen, zeigt die Graphik (unabhängig vom Zeitpunkt des Zuzuges) über _ interregionale Zuwanderer. Die sehr unterschiedliche geographische Herkunft der Mitglieder verweist daneben auf die Heterogenität der jüdischen Gruppe in der Bundesrepublik und implizit auf differenzierte kulturelle Kontexte, Mentalitäten, äußere Merkmale usw (111).

Doch zurück zu einigen quantitativen Fragen: Die o.g. Einwanderungswellen vor 1990 haben sich kaum in einer Vergrößerung der Jüdischen Gemeinden niedergeschlagen, da gleichzeitig eine starke Fluktuation ins Ausland und vielfach höhere Sterberaten als Geburtenziffern bestanden (112).

Die Mitgliederzahlen stagnierten so von Mitte der 60er Jahre bis Ende der 80er Jahre fast, in einigen Jahren waren sie sogar rückläufig. Erst die sowjetische Immigration seit 1990 machte sich in einer steilen Zuwachsrate bemerkbar, wie die Graphik auf der nächsten Seite zunächst für Gesamtdeutschland zeigt.

In Westdeutschland kam es durch die Einwanderung zu mehreren Gemeindeneugründungen, z.B. in Pforzheim und Oldenburg. Andere Kleingemeinden, die mit der Dimension der Zuwanderung völlig überfordert waren bzw. sind, haben ihren Mitgliederstamm vervielfacht, z.B. Baden-Baden, Kassel und Mülheim um das 7fache und Hof, Hannover, Dortmund und Hagen um das 6fache. Verglichen mit den neuen Bundesländern hatten die Altbundesländer jedoch bereits vor der sowjetischen Einwanderung eine starke Mitgliederschaft. In der DDR und Ostberlin waren bis zur Vereinigung insgesamt lediglich 250 bis 300 Juden in den Gemeinden eingetragen.

Durch die Länderquotierung für Kontingentflüchtlinge werden den neuen Bundesländern seit 1991 ebenfalls Zuwanderer zugeteilt, die nun auch in Jüdische Gemeinden eintreten.

Die Gemeinde Potsdam z.B. bestand 1989 aus einem Mitglied; sie wurde quasi durch die Zuwanderer neu gegründet und hatte dann 1992 bereits 162 Mitglieder. Die Migrantenzahl selbst ist in den neuen Bundesländern jedoch erheblich höher als die der Gemeindemitglieder aus dem Zuwandererkreis (Ende 1995: 1.169 Personen) (113). Die Orte, in die Migranten eingewiesen werden, haben häufig keinen Anschluß an die Gemeinden und zum anderen ist der Anreiz, einer Gemeinde beizutreten, geringer als in den "West-Gemeinden", die ihren Mitgliedern mehr soziale, kulturelle und religiöse Angebote machen können. So leben derzeit nur 2,2 % aller Mitglieder Jüdischer Gemeinden in den Neubundesländern. Für die neuen Bundesländer insgesamt gilt, daß sie nach der Einreise wieder einer starken Fluktuation unterliegen, die noch größer wäre, würde der Gesetzgeber die Zuwanderer nicht an ihren Aufenthaltsort zu binden versuchen (vgl. 4.1.3).

In der folgenden Abbildung des Mitgliederzuwachses der Berliner Gemeinde sind diese Bundeslandwechsler jedoch nicht berücksichtigt; es werden in der Relation zum Gesamtmitgliederzuwachs nur die Direktzuzüge abgebildet (Berlin als erster Wohnort nach der Ausreise aus der früheren UdSSR).

Selbst unter Ausschluß der Personen aus der Sowjetunion, die über andere Bundesländer (vgl. 4.1.3) oder Drittländer (z.B. Israel) nach Berlin zugezogen sind, zeigt sich, daß das Mitgliederwachstum der Gemeinde auch in Berlin zum größten Teil den sowjetischen Migranten zu verdanken ist, wobei der Hauptteil von ihnen im Jahr 1990 und Anfang 1991 - also vor Inkrafttreten des geregelten Verfahrens - eingereist ist (und zum großen Teil erst 1991 Mitglied der Gemeinde geworden ist). Aufgrund der Quotenüberfüllung durch diese "Altfälle" erfolgte später ein Zuzugsstop nach Berlin; daher zeigt sich die Situation in den anderen Bundesländern genau umgekehrt. Dort sind die Zuwanderungszahlen erst seit Mitte 1991 im Zuge der offiziellen Quotenverteilung stärker gestiegen.

Exemplarisch für alle Gemeinden steht in Berlin diesen starken Zugangszahlen jedoch auch ein enormer Mitgliederverlust gegenüber. Das folgend abgebildete Diagramm verdeutlicht als Beispiel die Zu- und Abgangszahlen der Berliner Gemeinde für das Jahr 1994, die in der Raten-Proportionalität den anderen Jahren seit Beginn der "Vierten Welle" ähneln.

In der Hauptsache entsteht der Mitgliederverlust durch Todesfälle innerhalb der großen Gruppe der Hochbetagten, die sich sowohl aus alteingesessenen Mitgliedern als auch aus GUS-Migranten zusammensetzt.

Die zweite Ursache des Mitgliederverlustes sind Wegzüge aus Berlin, wobei die hier genannte Zahl auch die "unbekannt Verzogenen" beinhaltet. Neben Umzügen in die alten Bundesländer sind hier einige Weiterwanderungen in die USA, nach Kanada und Israel zu verzeichnen sowie Rückwanderungen in die frühere UdSSR, letztere jedoch in kaum nennenswerter Größe.

Die Zuzüge sind überwiegend den sowjetischen Juden zu verdanken, die entweder direkt oder über andere Bundesländer zugewandert sind. Bei den Übertritten ins Judentum und bei den Austritten aus der Gemeinde spielen sie noch kaum eine Rolle, aber bei den Geburten beginnt sich die Einwanderungswelle allmählich bemerkbar zu machen. Ohne sie und die früher eingereisten sowjetischen Juden (die bei den 177 gemeldeten Geburten der letzten fünf Jahre mit 62 % beteiligt waren), wäre der Altersdurchschnitt heute noch höher, da die Fertilität der einheimischen Juden noch unter der der sowjetischen Juden liegt.

Die von Gemeindefunktionären häufig geäußerte Hoffnung auf eine Verjüngung der Gemeinden durch die Immigration aus der Ex-UdSSR ist so derzeit auch nur z.T. berechtigt. Zwar hat sich der Anteil der über 60jährigen Gemeindemitglieder im Bundesmaßstab seit 1989 von 32 % auf 27,5 % verringert (ihre absolute Zahl hat sich dabei fast verdoppelt), die 41 - 50jährigen Mitglieder machen als stärkste Gruppe jedoch allein bereits 17 % aus (1989 12 %), die bis 11jährigen dagegen lediglich 10 % (ZWST 1996). Die Proportion zwischen Sterberaten und Geburtsraten zeigt bundesweit immerhin noch ein Verhältnis von ca. 5,5 : 1.

Trotz enormer Wachstumsraten in den einzelnen Altersgruppen (114) liegt der Anteil aller bis 40-jährigen (die u.U. noch Kinder bekommen) Anfang 1996 noch immer 10 % unter dem Anteil aller über 40jährigen und hat sich damit gegenüber 1989 lediglich um 1 % zugunsten der jüngeren Gruppe verschoben. Da mit einem weiteren Zuzug eher älterer Menschen zu rechnen ist, könnten derartige Gewinne jedoch auch wieder nivelliert werden. In der Berliner Gemeinde hat sich das Gesamtverhältnis zwischen Jüngeren und Älteren sogar verschlechtert: Hier liegt der Anteil der über 40jährigen derzeit mit 57 % weit über dem Bundesdurchschnitt, ist also um 14 % höher als der Anteil der unter 40jährigen und hat sich damit seit 1989 um 4 % zu Lasten der Jüngeren erhöht .

Auch wenn sich die jüdische Bevölkerung in der Bundesrepublik durch die Zuwanderung relativ verjüngt hat (1970 lag ihr Durchschnittsalter noch bei 48 Jahren; [vgl. Schmelz 1983, S.5]), ist sie gegenüber der Gesamtpopulation immer noch überaltert, was jedoch mit dem demographischen Bild der Diaspora-Gemeinden in aller Welt korrespondiert (115). Ihre diesbezügliche Zukunft wird so auch recht pessimistisch beurteilt: "The high proportion of persons who have recently been of late middle age will cause an increased proportion of old people among the Jews in the future" (Schmelz 1983, S.3f).

5.2. Selbstverständnis und Situation im Sozialbereich

Jüdische soziale Arbeit ist traditionell einzelfallorientiertes "casework" und hat den Anspruch, Ursachen von Defiziten zu bekämpfen, präventiv, dialogorientiert, sozialintegrativ und "moralisch rational" zu sein. Hier zeitgemäß ausgedrückt, entstammen ihre Inhalte und Formen jedoch nicht "modernen" Sozialkonzepten, sondern basieren bereits auf einer langen kontinuierlichen Entwicklungslinie, die im ethischen Kodex des Judentums, in den sozialen Prinzipien, Werten und Gesetzen der Tora und des Talmuds wurzeln (116). Zur talmudischen Denktradition gehört die Anerkennung von Regelungsbedarf und sozialem Wandel ebenso wie z.B. das Recht auf Hilfe, auf Arbeit, auf Bedürfnisbefriedigung und die Pflicht zur Hilfe, zur Arbeit, zur Bedürfnisbefriedigung.

Daß das "biblische" Konzept seine Tragfähigkeit bewahren konnte, erklärt sich vor allem aus der praktischen, erzwungenen historischen Erfahrung der jüdischen Diaspora, die gekennzeichnet ist durch eine beispiellose Kette von Verfolgungen und Wanderungen: Um zu überleben, mußten die eigenen Sozialprinzipien und Praktiken strikt angewandt und in einem ständigen Pendeln zwischen empirischer Sicht und theoretischer Reflexion der jeweiligen Zeit und Bedingung immer wieder neu angepaßt werden. Ideen, Werte und die von Generation zu Generation tradierte kulturelle Erfahrung gingen letztlich als "Ferment" in die eigene wie die bürgerliche Emanzipationsbewegung ein, markierten die Anfänge der sozialen Wissenschaften wie die der Sozialarbeit als eigenständigem Berufszweig. Damit rückten Fragen gesellschaftlicher Mißstände, der Etablierung sozialer Sicherungen durch Gesetze, der Weiterentwicklung/Aufarbeitung traditioneller Fürsorgeformen und der Reformfähigkeit wie -bedürftigkeit auch in der Gesamtgesellschaft in den Mittelpunkt.

Vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, der Partizipation von Juden an der wirtschaftlichen Dynamik, der vielen geflüchteten Ostjuden und der Angst, deren Armut würde das Ansehen der ganzen Gemeinschaft mindern, entstanden mit der Professionalisierung der jüdischen Wohlfahrt allein in Deutschland zwischen 1850 und 1900 ca. 3000 (!) soziale jüdische Einrichtungen von Arbeitsämtern bis Darlehenskassen und wegweisende Konzepte u.a. zur Reformierung des Strafvollzugs, der Frauenarbeit, der jüdischen Berufs- und Sozialstruktur, die in Form von Berufsumschulungsprogrammen nach dem Machtantritt der Nazis noch einmal existentielle Bedeutung bekamen (vgl. Kessler 1995, S.32).

Die wenigen Überlebenden, die unmittelbar nach Ende des Weltkrieges begannen, den jüdischen Sozialbereich wieder aufzubauen, konnten zwar nicht an dieses weitverzweigte Netz, jedoch an Inhalte und Methoden anknüpfen (z.B. bei der Einrichtung von In-Service-Trainings für KZ-Opfer oder "psychiatrischen Teams" zur Unterstützung der Mitarbeiter). Die jüdische Sozialethik begleitete trotz grundlegend veränderter Bedingungen und weitgehender Säkularisierung die Praxis der jüdischen Sozialarbeit mindestens als Anspruch weiter oder wieder, u.a. weil die Shoah zu einer radikalen Rückbesinnung und Neubetrachtung des gesamten jüdischen Wertgefüges und Selbstverständnisses geführt hat, weniger theoretisch und bewußt, sondern zuallererst als Reflex auf ein Geschehen.

Derzeit gibt es unter dem Dach der Zentralwohlfahrtsstelle und des Zentralrats der Juden 19 selbständige Jüdische Gemeinden und Landesverbände mit Gemeinden in insgesamt 49 Städten (117). Zahl und Umfang ihrer sozialen Einrichtungen und das Ausmaß möglicher Hilfestellungen hängen jedoch sehr stark von der Größe der einzelnen Gemeinden (und von deren Gemeindepolitik) ab (118).

Die Berliner Jüdische Gemeinde verfügte als größte Gemeinde Deutschlands bereits vor der letzten Einwanderungswelle über ein weitverzweigtes sozial-kulturelles Netz, das im Zuge der Zuwanderung vergrößert und erweitert wurde, mit der Aufgabe, Zuwanderern das Einleben in die neue Umgebung zu erleichtern, Hilfe zur Selbsthilfe zu bieten und letztlich jüdisches Leben zu vermitteln. Die Standbeine der sozial-kulturellen Einrichtungen sind dabei wie in den meisten Gemeinden die Jugend- und Seniorenbetreuung, die über eine, seit 1991 personell stark aufgestockte Sozialabteilung koordiniert wird.

Nachdem mit der Nazi-Diktatur das jüdische Schul- und Erziehungssystem vernichtet sowie der Religionsunterricht verboten worden war, gelang es nach 1945 sukzessive zunächst schulexternen jüdischen Religionsunterricht, dann Religionsunterricht an fünf Berliner Schulen und letztlich einen Jüdischen Kindergarten und eine Jüdische Grundschule einzurichten, die seit 1994 in Folge der Zuwanderung durch ein (Real- und Oberschule) ergänzt wird (119).

Es wurde ein zweiter Jugend- und Freizeittreffpunkt für Zuwanderer geschaffen, in dem u.a. elementare Begriffe jüdischen Lebens und jüdischer sowie israelischer Geschichte vermittelt werden, getrennt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und je nach Sprachkenntnissen in deutsch oder russisch. Das Kursprogramm wird schrittweise in Kombination mit benachbarten Disziplinen (z.B. der Archäologie) und verschiedenen Lerntechniken (u.a. Rollenspielen) angeboten und durch Videofilme und eine Bibliothek ergänzt.

Neben verschiedenen Zirkeln für angewandte und bildende Kunst, Tanz und Musik, die sich an alle Altersgruppen wenden und z.T. von den Migranten selbst initiiert wurden, haben Jugendliche die Möglichkeit, eine Ausbildung als Madrich (Jugendleiter) zu absolvieren, um bei den Machanoth (jüdische Kinderferienlager) als Betreuer arbeiten zu können. Deutsch- und Computerkurse sind daneben Bestandteil der Initiativen der Ausbildungs- und Berufsberatungsstelle von Gemeinde/ZWST. Hier werden auch überregionale Integrationsseminare und Workshops der ZWST für u.a. Musiker, Lehrer und Maler organisiert, in denen z.B. die letztgenannten mit den Strukturen des deutschen Galeriensystems bekanntgemacht werden und Kontakte zu einheimischen Galeristen vermittelt werden. Da etliche Migranten in der Sowjetunion beruflich mit dem Kulturbereich zu tun hatten, versucht die Gemeinde mit Kulturausschüssen, "Freundeskreisen" und Unterstützung jüdischer und staatlicher Stellen öffentliche Ausdrucks- und Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen und Künstlern den Weg in die Selbständigkeit zu erleichtern. Ansatzpunkte sind dabei die Einrichtung einer Jüdischen Galerie, der Einsatz von Migranten als Lehrer oder Kursleiter (Malerei, Keramik, Tanz, Musik), Beratung bei der Konzepterarbeitung für förderungsfähige Projekte, Bereitstellung von Proben-, Auftritts- und Ausstellungsräumen, Vermittlung und Organisierung von Veranstaltungen oder die Gründung eines Jüdischen Theaters (120).

Im Seniorenbereich gibt es - neben der Form der Einzelbetreuung, die durch Sozialabteilungsmitarbeiter und ehrenamtliche Helfer realisiert wird - mehrere Institutionen und Angebote für ältere Mitglieder, die seit 1990 zunehmend den sowjetischen Zuwanderern zugute kommen: das Jüdische Krankenhaus (in dem eine Reihe von Zuwanderern arbeitet und die "Organisation Jüdischer Ärzte und Psychologen" Berufsberatung für sowjetische Ärzte anbietet), der Verein "esra" (für die psychologische Beratung/Therapie von Shoah-Überlebenden), das Erholungs- und Bildungsreisenprogramm in Westdeutschland und Israel, der Seniorenklub oder das "Elternhaus" - ein Seniorenwohnzentrum (121).

Obwohl das Berliner Modell beispielgebend ist, soll die Aufzählung einiger Einrichtungen und neuer Projekte für die Migranten nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie den Bedarf nicht decken können, u.a. weil die strukturellen und finanziellen Kapazitäten der Gemeinde(n) durch die Größe der Gruppe überfordert sind. Die Kürzung öffentlicher Gelder macht sich im übrigen auch hier erschwerend bemerkbar. In vielen kleineren Gemeinden wird immer noch Notversorgung und Improvisation betrieben. Auch für Berlin gilt, daß für einige Zuwanderer immer wieder Minimalstandards und -rechte durchgesetzt werden müssen (das betrifft z.B. nichtkontingentierte Zuwanderer und "ungeregelte" Bundeslandwechsler).

Die Dimension der Zuwanderung schafft wiederum neue Probleme auf anderen Ebenen. Es sei hier nur ein Beispiel genannt: In der Berliner Jüdischen Grundschule sind in einigen Klassen bis zu 3/4 der Kinder erst seit kurzem in der Bundesrepublik; daraus ergeben sich qualitative Einbußen des Unterrichts und Akzeptanzprobleme (siehe 5.3) (122). Hinzu kommt, daß Eingliederungsversuche der Gemeinde(n) den Intentionen etlicher Zuwanderer auch entgegenstehen. Es ist verständlich und erwünscht, daß sich die Migranten mit ihren Problemen zuerst an die Jüdische(n) Gemeinde(n) als einen ihrer wenigen Bezugspunkte in Deutschland wenden. Und es ebenso nachvollziehbar, daß materielle Fragen für die Neuankömmlinge lebenswichtiger sind als eine Annäherung an das Judentum, die wenn überhaupt, nur als allmählicher Prozeß vorstellbar ist. Aus Sicht der Gemeinden bzw. ihrer Mitarbeiter bleibt dennoch problematisch, wenn sich die Wünsche der Gemeinde gegenüber ausschließlich auf Familien-, Rechts-, Sozialberatung, finanzielle Unterstützung, Konfliktbewältigung mit Behörden, Übersetzungsdienste, Bereitstellung von Plätzen in Schulen, Kindergärten, Altersheimen und vor allem auf die Suche von Wohnungen und Arbeitsplätzen beschränken und gleichzeitig Bemühungen, Zuwanderern den Weg ins Arbeitsleben zu erleichtern (z.B. durch das Angebot von berufsvorbereitenden Kursen, Projekten, ABM-Stellen usw.), häufig auf zu wenig Resonanz stoßen oder Arbeitsstellen und Wohnungen als "nicht gut genug" abgelehnt werden.

Auch wenn versucht wird, den Wünschen der Zuwanderer und dem eigenen Anspruch an soziale Arbeit gerecht zu werden, ist in vielen Gemeinden Hilflosigkeit und Ernüchterung bei den Mitarbeitern zu spüren. Das liegt nicht nur an der Unmöglichkeit, alle Bedürfnisse der Zuwanderer zu befriedigen. Es hat ebenso mit dem o.g. historischen Kontext zu tun, aus dem Chancen und Barrieren resultieren, die z.T. nicht einmal deutlich voneinander zu trennen sind. Von Vorteil ist hier gewiß, daß die Arbeit mindestens der großen Gemeinden einen Gegenpol zur staatlichen Ausländerpolitik bzw. -sozialarbeit darstellt, die überwiegend an Konzeptionslosigkeit, Technokratie und mangelnder Fremdheitskompetenz leidet. Fast alle Gemeinden verfügen inzwischen über russischsprechende Mitarbeiter und sind bundesweit vernetzt. Die Mitarbeiter selbst haben einige (meist eigene) Erfahrung mit der Exil-Problematik, werden regelmäßig geschult und mit neuen Konzepten bekannt gemacht und versuchen, eine unbürokratische, auf den sozialen Prinzipien des Judentums basierende Sozialarbeit zu leisten. Obwohl diese Prinzipien längst allgemeine Praxis, quasi "Gemeingut" sind, werden die Gemeinden damit aber auch oft zum Ersatz (anstatt Zusatz) für zurückdelegierte staatliche Verantwortlichkeit oder müssen Defizite auffangen, die aus der zunehmenden Rationalisierung des Helfens in der Sozialpraxis resultieren. Andererseits führt die personenzentrierte und empathische Art des Umgangs mit der Klientel in den Gemeinden oft zu "overprotecting" bzw. zur Ausnutzung der Mitarbeiter oder der Institution. Das Obenanstellen einer Gruppenzugehörigkeit und einer soziomoralischen Verantwortung, die ein religiöses Ideal und eine geschichtliche Erfahrung zum Maßstab nimmt, begünstigt eine Ideologisierung auf Helfer- wie Klientenseite und kollidiert mit tatsächlichen Erfordernissen und Möglichkeiten, überfordert die Mitarbeiter und erzeugt "doublebinds" und Gewissenskonflikte (z.B. in Bezug auf die Tolerierung unkorrekter Verhaltensweisen).

Die großen Gemeinden sind im Gefolge des traditionell-jüdischen Selbstverständnisses von Hilfe, gepaart mit den Forderungen und Bedürfnissen der Zuwanderer zu "jüdischen Sozialämtern" und "Selbstbedienungsläden" geworden. Die neueren Konzepte aus Israel, die nach langjähriger Erfahrung mit Einwanderern in die Richtung gehen, die Abhängigkeit der Migranten von Integrationseinrichtungen und vorhandene Passivität abzubauen, indem Migranten in ihrer Kultur, Sprache oder/und der selbstgewählten Umgebung belassen und nicht mehr ganzheitlich "an die Hand" genommen werden (z.B. auch nicht mehr in Wohnheimen untergebracht werden), müssen sich in den deutschen Gemeinden - in dem Maße, wie sie auch hier anwendbar sind - erst noch durchsetzen.

Dennoch sollte die psychosoziale Betreuung für den Personenkreis weiter ausgebaut werden, der ohne Hilfe nicht auskommt, besonders in Bereichen, die staatlicherseits nicht abgedeckt werden. Gedacht ist z.B. an russischsprachige Psychologen und Pflegekräfte, die mit dem kulturellen Hintergrund der Migranten vertraut sind. Vor allem müßte perspektivisch die jüdische Altenarbeit erweitert werden. Die bisherige Einwanderung hat gezeigt, daß die meisten Alten die deutsche Sprache nicht mehr lernen, sich schlecht orientieren und in einer "jüdischrussischen" Umgebung wenigstens einen Teil der Defizite kompensieren können. Da bereits heute mehr als 40 % der Migranten über 50 Jahre alt sind, werden in der nächsten Zukunft vor allem neue Seniorenheime, Altentreffpunkte, Betreuungseinrichtungen usw. notwendig.

5.3. Einfluß und Akzeptanz der Zuwanderer

Der heterogene Mikrokosmos der jüdischen Gemeinschaft, deren Verbindungsglied zuallererst und oft nur im Umstand des "Jüdisch-Seins" liegt, bietet Chancen und "Sprengstoff" im Hinblick auf die Zuwanderung. Die Gemeinden bzw. ihre Mitglieder sind bei ihrer Beurteilung der sowjetischen Migration gespalten: "Das sind keine richtigen Juden" oder "falsche Juden" ist genauso zu hören, wie die Meinung, mit der Einwanderung würde endlich wieder ein jüdisches Leben in Deutschland beginnen. Wie so oft liegt die Realität irgendwo in der Mitte: zunächst kommen die meisten "Neuen" in die Gemeinden, weil sie ohne Hilfe nicht auskommen; etliche bleiben (im aktiven Sinne) und beginnen sich wieder, oder erstmalig, mit ihren Ursprüngen und Traditionen zu befassen.

Ein Nebeneffekt der Aufnahme sowjetischer Juden ist, daß sich angesichts der katastrophalen Lage in der Ex-Sowjetunion nun jedoch auch Menschen durch die Ausreisemöglichkeit ihrer Wurzeln besinnen bzw. jüdische Mütter per Urkundenfälschung "geboren" werden. Obwohl das zwischenzeitliche Mißtrauen von Deutschen Botschaften und Jüdischen Gemeinden mitunter die Falschen trifft, mußten schon in einem Gemeindebericht zur Zuwanderer-Betreuung 1991 "Kreuze, Ikonen, Votivbildchen in den Wohnheimzimmern" und Dokumente über die jüdische Herkunft zur Kenntnis genommen werden, "die einer sorgfältigen Überprüfung nicht standhalten". An anderer Stelle heißt es: "In den Wohnheimen kommt es schon jetzt zu Reibereien zwischen jüdischen und nichtjüdischen Kontingentflüchtlingen und offenen antisemitischen Äußerungen und Aggressionsausbrüchen. Dies kann problematisch werden, zumal jedes negative Auffallen von vermeintlich jüdischen Zuwanderern sich auf das Bild der jüdischen Zuwanderer generell auswirken könnte".

Die Reaktionen u.a. von Behördenmitarbeitern bestätigen diese Befürchtung (siehe auch 4.2.1). Gleichzeitig ist mit der Zuwanderung generell "das unauffällige Leben der Juden in Deutschland vorbei", wie die Zeitschrift GEO konstatiert (Büscher 1995, S.156). Ein Teil der deutschen und längeransässigen Juden befürchtet erneut ein negatives Aufmerksamwerden der Öffentlichkeit und grenzt sich von ihnen ab. Einige (meist jüngere) Vertreter Jüdischer Gemeinden äußern sich in Berufung auf soziale Probleme der Bundesrepublik oder das "mangelnde Judentum" der sowjetischen Juden abwartend oder ablehnend zu der Migration (vgl. u.a. Mertens 1993,S.223). Neben der Furcht vor Veränderungen, Konkurrenz und Forderungen der Migranten und obwohl auch die in der Bundesrepublik lebenden Juden in der Mehrzahl säkularisiert sind und ihre "Vermischung" mit der Umgebungsgesellschaft in den letzten Jahrzehnten wenn auch unauffällig, so doch unaufhaltsam geschieht (1955 19 %, 1980 55% Ehen mit Nichtjuden), können sie den sowjetischen Juden offenbar schwerer verzeihen, daß diese ihnen den Spiegel einer möglichen Zukunft der jüdischen Gemeinschaft vorhalten. Die Angst, die dahinter steckt, ist vielschichtig.

Die Juden haben in der Bundesrepublik kaum mehr als symbolische Bedeutung und sie stehen nach wie vor im Zwiespalt zwischen dem Wunsch nach Verarbeitung der Vergangenheit und Gleichheit - dem Antisemitismus wie Philosemitismus entgegenstehen, "weil man ihn niemals als Menschen, sondern immer und überall als den Juden aufnimmt" (Sartre 1946,S.62) - und der Befürchtung, mit einer weitergehenden Assimilierung würde sich das Judentum auflösen und mit ihm die jüdische Identität.

An der Basis der Gemeinde(n) ist es jedoch häufiger die Erwartungshaltung und der hohe Anspruch der Migranten an soziale und materielle Unterstützung, die auf Unmut und Ablehnung stoßen:

"Die neue Zuwanderung ist eine Bereicherung für unsere Gemeinde. Die Juden wanderten von Deutschland nach Rußland, warum soll das jetzt nicht umgekehrt sein. Aber ich bin doch etwas enttäuscht. Als wir damals kamen, waren wir noch anspruchslos, weil alle anspruchslos waren, auch die ganze Bevölkerung. Wir sind aus dem KZ rausgekommen und haben bei Null angefangen. Die jetzt kommen, denken, sie kommen zu den Reichen und erwarten Wunder. Sie müssen auch versuchen, Initiative zu zeigen, was zu erreichen, zu machen. Nur dann können sie ihre Identität wiedererlangen, nach ein paar Jahren. Das ist, was ich als Rat geben kann - aber die Zuwanderer sind alle so schlau und wissen immer schon alles besser; da zieht man sich manchmal zurück in sein Häuschen." (E., Rentner, 76)

"Viel Kontakt mit den neuen Einwanderern haben wir nicht. Das sind ganz andere Leute als wir damals. Heute kann jeder fahren, wer will. Die wollen sofort alles haben, wofür wir zwanzig Jahre gebraucht haben. [..] Die Gemeinde soll sich um die kümmern, die wirklich Hilfe brauchen, aber nicht einfach so: Ich bin Jude, also gib! Du gehst in die Gemeinde, bekommst deine Mazze oder Gutscheine, man hilft dir mit der Wohnung. Das wird alles wie selbstverständlich angenommen, ob von der Gemeinde oder vom Staat." (N., Arzt, 28)

Aus der großen Zahl der Zuwanderer und der Konzentrierung der Gemeindearbeit auf ihre Probleme und Bedürfnisse resultiert, daß sich ein Teil der Alteingesessenen vernachlässigt und benachteiligt fühlt (bzw. es ist). Der Gemeinde wird vorgeworfen, man "kämpfe" nur noch für und um die Zuwanderer, Russisch sei die neue und einzige Amts- und Umgangssprache, Arbeitsplätze würden an (weniger qualifizierte) Migranten vergeben, man kümmere sich zu wenig um hilfsbedürftige Altmitglieder (denen vorher die ganze Aufmerksamkeit galt) und um die alteingesessenen, faktisch ebenfalls "neuen" Mitglieder der seit 1991 angeschlossenen Ostberliner Gemeinde. Die Vorwürfe sind berechtigt, soweit, wie die plötzliche Zuwanderung mehrerer Tausend Personen Erfordernisse und Tatsachen schafft, die nicht ignoriert oder verhindert werden können.

Obwohl die Gemeinde bereits vor 1990 eine Einwanderergemeinde war und die Mitglieder historisch wie individuell eine gewisse "Fremdheitskompetenz" und Flexibilität gegenüber Veränderungen aufweisen, scheint die Toleranzgrenze bei einigen Altmitgliedern überschritten zu sein. Es fällt ihnen schwer, zu akzeptieren, daß "ihre" Gemeinde keine "deutsche" Gemeinde bleiben wird, daß sie Konzessionen machen müssen, die "Neuen" im besonderen Umfang Hilfe benötigen und andererseits nur durch die Zuwanderung weitere jüdische Einrichtungen (z.B. die Schulen) und Projekte entstehen konnten (überhaupt einen Sinn machen), die letztlich auch ihnen zugute kommen. Vielen Zuwanderern wiederum reicht die gebotene Hilfe nicht aus. Bei ihrer Ankunft waren sie nicht objektiv informiert und (in Berlin auch angesichts eindrucksvoller, historischer und neuer jüdischer Stätten) davon überzeugt, daß sie nicht nur in ein reiches Land, sondern auch in eine reiche jüdische Gemeinschaft kommen, die sie bereitwillig und allumfassend für ihr bisheriges Leben entschädigen wird. Zuvor als Juden stigmatisiert, erwarten sie nun als Juden besondere, ja die größte Unterstützung gerade von den Jüdischen Gemeinden, was schlicht an deren Möglichkeiten scheitert.

Falsche Vorstellungen und Erwartungsenttäuschungen bestehen jedoch ebenso auf der Seite der Einheimischen. Sie gehen davon aus, daß die Zuwanderer aus einem großen Gefängnis kommen, wo die Unterdrückung alle Aspekte des Alltags betroffen haben muß und daß sie eine Partizipation an der jüdischen Gemeinschaft ersehnen, die ihnen bisher versagt war. Dementsprechend zufrieden und "dankbar" für alles, was ihnen hier geboten wird, sollen sie sein und dementsprechend aktiv müßten sie nun hier werden. Der Wunsch nach (nicht-erwerbstätigkeitsschaffender) Teilhabe an der Gestaltung der Gemeinde ist bei den Neuzuwanderern bislang jedoch wenig ausgeprägt. Bei den Wahlen zu den Vorständen der einzelnen Berliner Synagogen kandidierte bezeichnenderweise lediglich ein Zuwanderer der "Vierten Welle", drei aus früheren russischen Einwanderungen. Alle anderen 16 Kandidaten waren polnisch- oder deutschstämmige Juden (Berlin-Umschau Nr.9/1995). Bisher gab es auch keine Bewerbungen von Neuzuwanderern zu einem Sitz in der Repräsentantenversammlung der Gemeinde, anders als z.B. in der Gemeinde Hannover, wo über die Hälfte der Kandidaten bei der letzten Wahl Neuzuwanderer waren. Ihre Beteiligung in Berlin und in den meisten anderen Gemeinden beschränkt sich derzeit im besten Fall auf die Stimmabgabe für konkurrierende Gemeinde-Parteien. Bei deren Konflikten geht es dennoch bislang weniger um die Neuzuwanderer selbst oder um Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den Alteingesessenen (auch wenn die wenigen aktiven Neueinwanderer zu monieren beginnen, daß ihre Gruppe, als inzwischen quantitative Majorität, in den Entscheidungsgremien der Gemeinden noch kaum vertreten ist); sie geraten vielmehr in das Kreuzfeuer eines allgemeinen Generationswechsels bzw. das Bestreben jüngerer Altmitglieder nach Veränderungen.

Bislang ist es den Gemeinden bundesweit nur unzureichend gelungen, über ihre neue Rolle als "Dienst-leistungsgroßunternehmen" hinaus auch die Notwendigkeit gemeindegestalterischer Aktivitäten oder Pflichten an ihre neuen Mitglieder zu vermitteln. Und ihr eigentliches Anliegen, Judentum weiterzugeben und zu binden, gelingt ihnen bis dato allenfalls bei der jüngsten Generation und den ganz Alten. Mehr zu wollen, ist auch unrealistisch. Die altansässigen Juden erwarten etwas, was sie selbst in der Mehrzahl kaum noch haben: Religions- und Traditionsbewußtsein, und monieren an den "Neuen", was sie noch nicht haben: ein weniger ideologisiertes/politisiertes Verhältnis zur Umgebungsgesellschaft bzw. ein weniger schlechtes Gewissen bei der Symbiose mit ihr.

Zu hoffen bleibt trotz allem, daß zukünftig noch mehr Alteingesessene und alle Gemeinden beginnen, die Unterstützung der Neuzuwanderer bei ihrer Annäherung an das Judentum als positive Herausforderung zu betrachten und andererseits (auch auf die Gefahr einer noch stärkeren Verwässerung der jüdischen Kultur, ihre Veränderung in eine "jüdisch-russische" Variante oder eine Spaltung der Gemeinden hin) von ihnen zu lernen und ihre Offenheit, Flexibilität und brachliegende Potentiale zu nutzen.

6. Resümee und Ausblick

Von fast einer Million Juden, die zwischen 1945 und 1995 die UdSSR und ihre Nachfolgestaaten verlassen haben, ist erst seit 1990 und im Zuge einer gesetzlichen Aufnahmeregelung eine größere Gruppe von inzwischen etwa 40.000 Personen auch nach Deutschland eingewandert. Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Daten über die Zusammensetzung dieser Gruppe, ihre Migrations- und Lebensumstände zu gewinnen.

Die Betrachtung ergab, daß eine Palette von Gründen - bei denen Antisemitismus eher als latente, u.U. Panik erzeugende Größe mitwirkt - sowjetische Juden zum Auswandern veranlaßt (hat): Nationalitätenkonflikte, Umweltkatastrophen, Perspektivlosigkeit für die nachwachsende Generation, fehlende soziale Absicherung der Älteren, berufliche Beschränkungen oder die instabile wirtschaftliche und politische Lage, und auf der anderen Seite hohe Erwartungen an Deutschland und die Zuversicht auf eine sichere Zukunft. Der bleibende Zustrom ist daneben der Sogwirkung durch bereits migrierte Angehörige und Freunde bzw. dem Wunsch, in ihrer Nähe zu leben, zu verdanken.

Die Entscheidung der Bundesrepublik, ihre Einreise zu gestatten, verfestigt die mehrheitliche Ansicht der Migranten, die Deutschen hätten aus der Vergangenheit gelernt, obwohl sie die politische Situation nach längerem Aufenthalt als bedenklich einschätzen und antisemitische bzw. fremdenfeindliche Vorfälle im Zeitverlauf zunehmen. Da die USA, das Traumland sowjetischer Juden, die Einwanderung stark beschränkt hat und Israel von vielen als politisch/wirtschaftlich zu unsicher oder als zu fremd/orientalisch angesehen wird, bleibt Deutschland in der Wahrnehmung (bzw. Erwartung) der Zuwanderer die günstigste Alternative: reich, weltoffen, europäisch, ähnlich.

Über 90 % der (4.006 erfaßten) Migranten sind so auch im europäischen Teil der früheren UdSSR und über die Hälfte in den Großstädten Moskau, Dnepropetrowsk, Odessa, Kiew, Riga und Leningrad/St. Petersburg geboren. Doch kommen nur 34 % der "russischen" Juden aus Rußland; 39 % sind aus der Ukraine, 13,5 % aus den baltischen Republiken, 6 % aus Weißrußland und Moldawien, 5 % aus den Kaukasus-Republiken und 2,5 % aus Mittel-asien.

In der 1.Phase der Einwanderungswelle bis Anfang 1991 reisten jüngere, aber nicht ausgesprochen junge Leute ein; die stärkste Gruppe war die der 30 - 40jährigen. Es überwogen Einzelpersonen und Kleinfamilien. Sie kamen spontan mit einem Koffer in der Bundesrepublik an, wirkten risikofreudig und gleichzeitig unsicher. Nach der Änderung der Einreisemodi und ausgestattet mit Informationen bereits Ausgereister kommen besser vorbereitete, vollständige Familien, aber auch alleinerziehende Mütter und betagte Menschen.

Durch die stufenweise Migration gesamter Verbände familiär, sozial und örtlich verbundener Personen ist die Altersstruktur der jüdischen Migrantengruppe ein Spiegelbild des zurückgebliebenen Teils der Ethnie, der durch Überalterung und geringe Geburtenraten gekennzeichnet ist. 14,5 % der Berliner Gruppe sind zwischen 0 und 18 Jahre alt, 58,5 % zwischen 19 und 60 Jahre und 27 % über 60 Jahre alt. Die einzelnen Altersjahrgänge der derzeit 35 - 50jährigen und 55 - 69jährigen Migranten sind am stärksten besetzt, die der 0 -10jährigen am schwächsten und noch um 1/3 kleiner als die der 70 - 80jährigen. In Berlin führt eine Sonderregelung zur Familienzusammenführung zum verstärkten Zuzug Älterer außerhalb des langwierigen offiziellen Aufnahmeverfahrens, so daß sich die Altersstruktur für die Gesamtbundesrepublik bislang noch etwas günstiger darstellt: die Gruppe der über 60jährigen macht hier "nur" etwa 23 % aus, dies zugunsten der etwa 18 % bis 18jährigen. Da sich die Berliner Migranten im Durchschnitt am längsten in der Bundesrepublik aufhalten und sich zeigt, daß Eltern meist dann nachziehen, wenn sich ihre Kinder einigermaßen "eingerichtet" haben, ist anzunehmen, daß auch in andere Bundesländer zukünftig mehr Ältere nachreisen werden und sich die Altersstruktur der Gesamtgruppe, die für eine Zuwanderergruppe bereits jetzt extrem "alt" zu nennen ist, den Berliner Proportionen angleichen wird.

Die Geschlechterverteilung ist mit 49 % Männern und 51 % Frauen recht ausgeglichen, wobei Männer bei den 30 - 50jährigen leicht und Frauen bei den über 60jährigen deutlich dominieren; die alleinstehenden Männer reisten hauptsächlich zu Beginn der "Vierten Welle" ein, während später überproportional viele ältere Frauen folgten. Diese älteren Migrantinnen machen einen erheblichen Teil der 12 % verwitweten Zuwanderer aus; abzüglich der Minderjährigen waren ferner 58 % der Berliner Migranten bei der Einreise verheiratet, 12 % waren geschieden und 18 % ledig.

Bei den jüdischen Zuwanderern überwiegt die Ein-Kind-Familie; diejenigen mit mehr als zwei Kindern stammen in den meisten Fällen aus dem asiatischen Teil der UdSSR bzw. aus orientalischen Familien. So machen die Haushalte mit 4 und mehr Personen nur 11 % der Berliner Gruppe aus; 2-Personen-Haushalte liegen mit 33 % an der Spitze, gefolgt von Single-Haushalten mit 29 % und 3-Personen-Haushalten mit 27 %. In anderen Bundesländern dürften Haushalte mit mehr als 3 Personen aufgrund der zeitgleichen Einreise vollständiger Mehr-Generationen-Familien im geregelten Verfahren bislang noch stärker vertreten sein. Ein weiteres Spezifikum der jüdischen Zuwanderer ist ihre überdurchschnittlich gute Ausbildung: Über 2/3 aller Männer und Frauen sind Akademiker, lediglich 2 % der Gruppe verfügen über keinen Berufsabschluß. Ingenieure bilden die größte Einzelgruppe, gefolgt von Lehrern, Ärzten, Ökonomen und Musikern. Insgesamt waren die meisten Migranten in der Sowjetunion im Bereich Technik, Industrie und Bau (29 %), den kaufmännischen, Handwerks- und Dienstleistungsbereichen (27 %), den Sektoren Bildung, Kunst und Medien (20 %) sowie Medizin/Pharmazie (15 %) beschäftigt. Zuwanderer im erwerbsfähigen Alter waren in der früheren UdSSR durchgängig beschäftigt, häufig auch über das reguläre Rentenalter hinaus, bezogen ihre gesellschaftliche Akzeptanz aus meist guten beruflichen Positionen und waren vergleichsweise materiell privilegiert.

Die Mehrheit der Migranten hatte unrealistische Erwartungen an ihr Leben in der Bundesrepublik, an deren Stelle zunächst eine Art Bittstellerposition tritt, Arbeitslosigkeit, das Leben in einem Wohnheim auf engstem Raum und eine staatlich verordnete Wohnsitzbeschränkung auf einen bestimmten, i.d.R. nicht selbst gewählten Ort. Die damit verbundenen Erwartungsenttäuschungen, die für den "homo sovieticus" ungewohnte Eigenverantwortlichkeit, das Bewußtwerden des Heimatverlustes, die Begegnung mit einer fremden Sprache und Kultur führten bei einem Teil der Migranten zu psychischen Problemen und Sinnkrisen, die von den isolierten Betagten, den arbeitslosen "jungen Älteren" und den vielfach überforderten Kindern besonders schwer bewältigt werden.

Kinder und Jugendliche sind in aller Regel fast ganztägig mit dem regulären Schulbesuch und Förderunterricht beschäftigt. Junge Migranten setzen häufig ihr Studium fort bzw. haben ein neues begonnen. Etwa Dreiviertel der 20 - 60jährigen Zuwanderer sind nach eigenen Angaben beschäftigungslos. Die Mehrzahl der Erwerbstätigen arbeitet aufgrund nichtanerkannter Berufsabschlüsse, fehlender Zugänge zu qualifizierten Arbeitsbereichen oder mangelnder Sprach- bzw. beruflicher Kompetenzen in einem anderen als dem erlernten Beruf, wobei Frauen eher als Männer bereit sind, Arbeiten zu übernehmen, die nicht ihrer Qualifikation entsprechen oder sich umschulen zu lassen. Technischen Spezialisten und Personen aus künstlerischen Bereichen (Maler, Musiker, z.T. Schauspieler) gelingt der Wiedereinstieg am häufigsten; Gesellschaftswissenschaftler und über 50-jährigen am seltensten. Besonders Lehrer, Ärzte und Wissenschaftler sind bereit, langwierige kostenlose Praktika und Hilfsdienste zu übernehmen, in der Hoffnung, daß sich diese Investition in der Zukunft auszahlen wird. Ein Teil der Zuwanderer hat sich - meist innerhalb des russischsprachigen Umfeldes - mit handwerklichen und gastronomischen Dienstleistungsunternehmen oder Handelsfirmen selbständig gemacht. Migranten, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt keine Arbeit gefunden haben, üben teilweise informelle Erwerbstätigkeiten aus bzw. pendeln zu diesem Zweck zwischen der Bundesrepublik und der Ex-Sowjetunion.

Die Situation im Wohnbereich stellt sich günstiger dar, wird von dem Migranten selbst am besten beurteilt und verweist auf ihr hohes Mobilitätspotential. Trotz Sprachproblemen, eines überlasteten Marktes und bürokratischer Hürden ist es einem Großteil der Zuwanderer gelungen, ihren Vorstellungen entsprechende Wohnungen zu finden, sich regionalen (auch vermeintlichen) Disparitäten durch Abwanderung zu entziehen, den Wohnsitz in die gewünschte Großstadt zu verlegen und Familienangehörige nachziehen zu lassen: In Berlin verbrachte der überwiegende Teil kleinerer Familien unter einem Jahr und der größerer Familien zwischen ein und zwei Jahren in einem Übergangswohnheim. Über die Hälfte aller Migranten hat mehrfache Umzüge unternommen; in peripheren Neubausiedlungen und Gebieten mit schlechter Altbausubstanz leben nur noch etwa ein Viertel der Zuwanderer, doppelt so viele wohnen inzwischen im Stadtzentrum und häufig in gewünschter, unmittelbarer Nähe von Angehörigen. Die Fluktuation aus dem Ostteil Berlins und aus den neuen Bundesländern ist besonders groß: über die Hälfte der Ostberliner Migranten ist in den Westteil der Stadt gezogen und etwa 2/3 der im geregelten Verfahren eingereisten Mitglieder der Berliner Jüdischen Gemeinde kommen aus den neuen Bundesländern, in denen - wie auch in westdeutschen Kleinstädten - die Arbeits- und Wohnungsmarktlage für die Zuwanderer deutlich schlechter als in Berlin und in westdeutschen Großstädten zu beurteilen ist.

Mit bzw. nach der Lösung ihres Wohnungsproblems konnte die Mehrheit der etwas länger ansässigen Migranten den aus der Heimat gewohnten Lebensstandard und -stil wiedererlangen bzw. verbessern; dennoch lebt ein erheblicher Teil (nach eigenen Angaben etwa 2/3) noch von Transferleistungen, Erwerbsersatzeinkommen oder Kleinverdiensten und reichen die finanziellen Mittel bei kinderreichen Familien und alten Menschen oft nicht aus.

Anzeichen eines allmählichen "Sich-Einrichtens" sind Eheschließungen und sukzessiv steigende Geburtenzahlen innerhalb der russischsprachigen Gruppe, aber auch Um- und Neuorientierungen, besonders bei der jüngeren Generation. Dazu gehört u.a., daß Kinder ihre Eltern mit der Übernahme hiesiger "Normen" und Möglichkeiten in Seniorenheimen "abgeben" und die sprichwörtliche Solidarität abhanden gekommen ist, die wohl nur innerhalb der Notgemeinschaft des Sozialismus funktioniert hat und nun teilweise durch Konkurrenzdenken ersetzt wird. Ältere Migranten und orientalische Juden bewältigen die Anforderungen der neuen Umgebung (z.B. den Spracherwerb) und den Verlust ihrer gesellschaftlichen Positionen und sozialen Beziehungen am schlechtesten und leben am häufigsten isoliert. Intensivere Kontakte zu Deutschen sind bei ihnen noch seltener als bei den jüngeren Migranten, von denen ein Teil die deutsche Sprache bislang ebenso unzulänglich beherrscht oder "unter sich" bleiben und die bisherige Lebensweise beibehalten möchte. Die Migranten weisen starke Bindungen an ihre Heimat, deren Kultur und an die eigene(n) Gruppe(n) auf. Die relative Vollständigkeit der ethnischen Einrichtungen und die Größe der Gruppe bildet - vor allem in Berlin und einigen westdeutschen Großstädten - eine tragfähige Basis für Eigenabgrenzungen oder den Erhalt und Ausbau gewohnter Kultur- und Beziehungsmuster.

Kinder, junge und "außenorientierte", meist höhergebildete Zuwanderer haben die häufigsten Beziehungen zur deutschen Umgebung und orientieren sich an ihr ebenso wie an der russischsprachigen Gruppe. Kontakte zur einheimischen Bevölkerung scheitern jedoch oft an wahrgenommenen Mentalitäts- oder Kulturunterschieden und an der Konfrontation mit negativen Vorurteilen und Diskriminierung auf formeller wie informeller Ebene. Gleichfalls erleben die Migranten als Juden und Ausländer positive Vor-Urteile bzw. eine partielle Subventionierung. Beides steht einer "Normalität" im Umgang entgegen und bedient gegenseitige Unsicherheiten und Mißtrauen.

Auch zwischen Migranten und einheimischen Juden waren gegenseitige Abgrenzungen und Erwartungsenttäuschungen festzustellen: Zum einen reicht vielen Neuzuwanderern die Hilfe der Jüdischen Gemeinden - die im Sinne der jüdischen Sozialprinzipien eigentlich Hilfe zur Selbsthilfe sein sollte - nicht weit genug und sind sie in gemeindepolitischen Repräsentanzorganen noch kaum vertreten; andererseits fühlt sich ein Teil der alteingesessenen Mitglieder, deren Problemen zuvor die gesamte Aufmerksamkeit galt, vernachlässigt und benachteiligt bzw. infolge der Sprach- und Kulturdominanz der Migranten im Abseits, da diese in etlichen Gemeinden inzwischen die quantitative Majorität stellen und mit der Verschiebung des Fokus der Gemeinden auf ihre Bedürfnisse in Kinder- und Senioreneinrichtungen, bei Reisen, Seminaren, Wohnungsvergaben usw. den Vorrang haben. Zum anderen strebt ein kleinerer Teil der Zuwanderer den Kontakt zu einheimischen Juden oder Jüdischen Gemeinden nicht an oder kann nach jüdischem Recht nicht Mitglied einer Gemeinde werden; für einen Teil der einheimischen Juden sind die Migranten wiederum homogen "Russen" oder "zu wenig jüdisch". Deren Selbstdefinition ist ähnlich indifferent: in über 70 Jahre Sowjetmacht größtenteils abgeschnitten vom Judentum, bewahrten sie ihre jüdische Identität mehr oder weniger nur durch den Paßeintrag "Jude" und die Reaktionen ihrer Umwelt, wurden zugleich aber durch heterogene regionale, soziale und kulturelle Herkunftskontexte geprägt. Interethnische Familien machen zwischen 30 und 50 % der Gesamtgruppe aus, jiddischsprachige Personen sind in der Minderheit und das kulturelle und religiöse Wissen über das Judentum und entsprechende Bindungen sind insgesamt gering. Nach der schwierigen Anfangszeit in der Migration entdecken und entwickeln jedoch besonders Kinder und Jugendliche erste und Ältere wieder Verbindungen zum Judentum, gefördert durch die massive Intervention jüdischer Gemeinden, Vereine und Einzelpersonen.

Durch die Zuwanderung haben sich die Mitgliedszahlen der Jüdischen Gemeinden fast verdoppelt und wurden Gemeinden an Orten gegründet, wo es nach 1945 keine Juden mehr gab. Von einer Erneuerung im Sinne genuin jüdischen Lebens kann bislang jedoch noch kaum die Rede sein und auch die Hoffnungen auf eine Verjüngung haben sich nur teilweise erfüllt; die Gemeinden sind nach wie vor überaltert, die Sterberate noch über fünfmal so hoch wie die Geburtenziffer. Gesamtgesellschaftlich haben die 40.000 jüdischen Migranten - gegenüber 1.120.000 im gleichen Zeitraum aus der früheren Sowjetunion eingereisten deutschen Aussiedlern - kaum mehr als symbolische Bedeutung; die jüdische Gemeinschaft und ihr Bild in der Öffentlichkeit werden sie - u.a. mit ihrer Innovationsfähigkeit und ihren kulturellen Impulsen, die bereits jetzt auch das Kulturleben deutscher Großstädte sichtbar beeinflussen und zum Verständnis zwischen Nichtjuden und Juden beitragen - über kurz oder lang nachhaltig verändern.

Die weitere Migration der, in ihren Herkunftsregionen bereits stark reduzierten und geschwächten jüdischen Ethnie wird vor allem von der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in der früheren Sowjetunion abhängen. Zur Zeit sieht es jedoch nicht danach aus, daß sich die Prognose über eine flutartige Auswanderungswelle, wie sie noch Anfang der 90er Jahre für die sowjetische Gesamtbevölkerung gestellt wurde, bestätigen würde. Auch die "Vierte Welle" scheint allmählich wieder abzuflauen.

Für diejenigen, die zukünftig in die Bundesrepublik einwandern wollen oder werden, sollten sich hiesige Institutionen in Zusammenarbeit mit jüdischen Gemeinden, wie sie bislang noch selten stattfindet, bereits im Vorfeld zuständig zeigen, um Entscheidungsfindungen bzw. die Migration selbst zu erleichtern: durch gezielte Informationen z.B. der Botschaften über Bedingungen, die die Migranten in Deutschland erwarten (Wohnungs- und Arbeitsmarkt, nachgefragte Berufe, Rechts- und Versorgungssystem usw.) oder durch die Erleichterung von Besuchs- und Informationsreisen.

Ghetto- und KZ-Opfern sollte die Bundesrepublik auch in der GUS Unterstützung gewähren, so daß sie nicht aus finanziellen Gründen gezwungen sind, auszureisen. Bei der Erteilung der Aufnahmezusage und des Aufenthaltsortes wäre wünschenswert, daß mehr als bisher darauf Rücksicht genommen wird, wo die Verwandten der Einreisenden leben. Die Wohnsitzbindung ist als wenig sinnvoll anzusehen (Abhilfe würde eine nicht-kommunale Aufenthaltsfinanzierung schaffen), ebenso wie die Unterbringung in ländlichen Regionen ohne notwendige Infrastrukturmerkmale.

Bei der Eingliederung der Migranten sind - auch im Interesse des deutschen Arbeitsmarktes - Angebote zur Berufsanpassung und zum qualifizierten Spracherwerb notwendig, ferner solche zur Defizitkompensation im Umgang mit Heimat- und Statusverlusten, mit der hiesigen Kultur und dem unterschiedlich schnellen Wertewandel einzelner Generationen. Diese können wiederum nur greifen, wenn die spezifische, "andersartige" und zudem unterschiedliche Sozialisation und Sozialstruktur der Migranten in den Konzepten akzeptiert und berücksichtigt wird und Varianten für verschiedene Gruppen (je nach Beruf, Alter, regionaler Herkunft usw.) erstellt werden.

Die Aufgabe der Jüdischen Gemeinden wird es vor allem sein, die Migranten in ihrer Identitätsfindung als Juden zu bestärken, sie ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft zu vergewissern, Vorurteile bei den eigenen Mitgliedern abzubauen und stark hilfsbedürftige Gruppen wie Kinder und alte Migranten in besonderem Maße zu unterstützen und einzubinden.

 

ANHANG

Erhebungsbogen:

 

Tabelle A:

 

Tabelle B: Alter und Geschlecht der Zuwanderer 3.950 Pers./31.12.1995 (ohne Geburten nach Einreise)

 

 

Jüdische Migranten und deutsche Aussiedler im Vergleich (zu 3.)

 

 

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Anmerkungen:
(108) Von den 2.020 in Berlin geborenen Gemeindemitgliedern sind 665 Personen vor 1945 geboren, 1.178 Personen zwischen 1945 und 1989 und 177 Personen seit 1990. Von letzteren haben 110 Kinder Eltern, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen.
(109)
Eine Abweichung zu den anderen Bundesländern betrifft die unter 2.2 erwähnte kleinere Einwanderungsbewegung sowjetischer Juden in den 70/80er Jahren, die ausschließlich nach Berlin kamen (soweit bekannt ca. 2.500 Personen).
(110)
Der Ausländeranteil (gemessen an der Staatsbürgerschaft) läßt sich nicht genau feststellen. Der Geburtsort allein kann nicht als Indikator gelten: Ein Teil der Mitglieder verfügt über die deutsche (und u.U. auch noch eine zweite) Staatsbürgerschaft – seit Geburt, erworben durch Daueraufenthalt oder Wiedereinbürgerung. Umgekehrt sind viele der in Deutschland geborenen Mitglieder nicht deutsche Staatsbürger und ein recht hoher Anteil älterer Personen mit langjähriger Aufenthaltsdauer ist weiterhin staatenlos. Schmelz gibt für die 70er Jahre einen Anteil von 35,7 % Ausländer ("aliens") in der jüdischen Population der BRD an (1983,S.84). Trotz einiger zwischenzeitlicher Einbürgerungen, eingedenk der niedrigen Fertilität der ansässigen Juden und der starken GUS-Immigration dürfte sich diese Zahl bis heute auf weit über 50 % erhöht haben. (Damit ist die häufige Zuschreibung "Jude = Ausländer", die in anderen Kontexten zu monieren wäre, statistisch gesehen sogar berechtigt.)
(111)
Die jüdische Nachkriegsgeneration ist i.d.R. mehrsprachig aufgewachsen, gut ausgebildet und in allen Berufssparten vertreten; oft auch in selbständigen Berufen. Ausgenommen die neuen GUS-Migranten, ist die Arbeitslosenquote relativ niedrig (gemessen am Anteil der Gemeindesteuer-Zahler und ddf Klientel der Gemeinde-Sozialabteilungen).
(112)
Wie erwähnt, ist das Diaspora-Judentum generell durch Überalterung und geringe Geburtsraten geprägt. Stellt man z.B. Wiener und Berliner Juden gegenüber, ergibt sich ein ähnliches Bild: In Wien teilte sich in den 70er Jahren - bei gleichbleibendem Trend bis heute - die jüdische Bevölkerung in drei große Altersgruppen auf, von der fast die Hälfte über 60jährige waren, mehr als _ zur mittleren Generation gehörten (41 - 60jährige) und knapp _ die Gruppe der unter 40jährigen ausmachten (vgl. Schmelz 1993,S.78f).
(113)
Mitglieder aus dem Migrantenkreis in den Neubundesländern (Nord/Süd) - Quelle: ZWST-Statistik 1989-1996; eigene Berechnungen:
  1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995
Norden / Personen unter 50 113 165 152 366 572 749
Süden / Personen unter 50 105 232 287 432 412 420
Während der Norden (Gemeinden Rostock, Schwerin, Magdeburg, Potsdam) sukzessiv steigende Zahlen neuzugewanderter Gemeinde-mitglieder aufzuweisen hat, ist die Zahl der Mitglieder im Süden (Gemeinden Erfurt, Chemnitz, Leipzig, Dresden) zunächst gestiegen, stagniert jedoch seit 1993, da es mehr Ab- als Zugänge gibt (insbesondere wegen der stadtfernen Unterbringung der Zuwanderer).
(114)
Wachstumsrate lt. ZWST-Statistik (1995):
Alter 0-3 4-6 7-11 12-16 17-21 22-30 31-40 41-50 51-60 61-70 71-80 >80
Wachstum 11% 65% 101% 119% 82% 61% 53% 113% 58% 34% 58% 49%
Die errechnete Rate bezieht sich auf das Wachstum zwischen 1989 (= 100%) und 1994.
(115)
Dazu Schmelz: "In all the Jewish communities recently reserearched, fertility is lower than that of the corresponding general population. [..] Mainly due to their prolonged low fertility Diaspora populations have a very small percentage of children but relatively high percentages of persons in the age brackets 46-64, 65 and above" (1983, S.3f).
(116) Die Tora - das Alte Testament - bildet Gesetz und Grundlage des Judentums. Sie wurde und wird im Talmud unter Anerkennung der Unvollkommenheit und ständigen Veränderungsbedürftigkeit der Welt kommentiert und überdacht. Ihre Gesetze, die soziale, rechtliche und psychische Belange vereinen und ihre Auslegung orientieren sich am Einzelfall und dem Grundsatz: die Gebote sind gegeben, damit "der Mensch in ihnen lebe und nicht, daß er an ihnen zugrunde gehe"(Joma 85b), vgl. "Einst wird der Mensch Rechenschaft ablegen müssen, über jeden rechtmäßigen Genuß, den er sich versagt hat (Gidduschim 4,12). Anders als in der christlichen Erlösungsreligion mit ihrer auf das Jenseits bezogenen Weltsicht und einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber "irdischen Zuständen" entspricht das Verhältnis des Menschen zur Gemeinschaft, zum Mitmenschen im Judentum einer "Ethik des Diesseits", die in zentralen sozialen Prinzipien festgeschrieben ist: Neben Mizwa ("Gebot"), der Pflicht des Helfens sind dies Zedaka ("Gerechtigkeit") und die ihr übergeordneteG'miluth Chassadim ("Barmherzigkeit"). Armut gilt nicht als gottgewollt, sondern als "Riß in der Gerechtigkeit"; Wohltätigkeit ist somit Akt ausgleichender Gerechtigkeit und impliziert ein Recht auf Hilfe (Hilfe zur Selbsthilfe gilt als höchste Stufe der Wohltätigkeit). In der christlich geprägten Gesellschaft, in der soziale Not lange "gottgewollt" bzw. das Individuum schuldig an seinem "Versagen" war, kam die Anerkennung der "Machbarkeit der Verhältnisse", die soziale Frage als Strukturfrage erst mit den negativen Auswirkungen von Industrialisierung und kapitalistischem Wachstum in Leistungsansprüchen zum Tragen (vgl. Flierl 1992).
(117)
Der Aufbau der deutschen Einheitsgemeinden geht auf die preußisch-deutsche Gesetzgebung zurück, die mit der Erhebung der Gemeinden aus der Sphäre des privaten in die des öffentlichen Rechts im 18.Jahrhundert den Parochialzwang wieder einführte und erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts Juden ermöglichte, aus einer Gemeinde auszutreten, ohne damit auch aus dem Judentum auszuscheiden. Daraufhin setzte eine Austritts- und Neugründungsbewegung ein, in der viele eine Gefahr der Zersplitterung des Judentums sahen. Nach 1945 hielt man aufgrund der wenigen Überlebenden am Konzept der Einheitsgemeinde fest (die orthodoxes, liberales und Reformjudentum unter einem Dach vereinigt), aus der sich seit Ende der 80er Jahre jedoch einzelne Gruppen abzuspalten beginnen.
(118) Die Großgemeinden verfügen über koschere Restaurants und Lebensmittelläden (Berlin, München, Frankfurt), Alten- und Pflegeheime (10 Einrichtungen bundesweit), Jüdische Kindergärten (in 9 Gemeinden), Grundschulen (Berlin, Frankfurt, München, Düsseldorf), Jüdisches Gymnasium (Berlin), Erziehungsberatungsstellen (Berlin, Frankfurt/M.), Jüdische Volkshochschulen (Berlin, München) sowie Bibliotheken, Logen, Seniorenklubs, Frauen-, Wohltätigkeits- und Ehrenamtlichenvereine und andere Selbsthilfeinitiativen und jüdische Gruppen (vgl.auch ZWST 1995, S.7ff).
(119)
Die Jüdische Oberschule unterscheidet sich von anderen Gymnasien durch die Unterrichtung in Fächern der Judaistik (Hebräisch, Bibel- und Religionslehre), durch koscheres Mittagessen und jüdische Rituale (B'rachot usw.). Für die Zuwanderer wird daneben Deutsch-Förderunterricht und ein Schülerklub angeboten. 1994, zur Eröffnung der Schule, entstammten 40 % der Schülerschaft dem sowjetischen Zuwandererkreis; 2/3 aller Schüler gehörten der Jüdischen Gemeinde an, 35 % hatten vorher die Jüdische Grundschule besucht. Von den 17 Lehrern waren 7 jüdischer Herkunft, davon 3 aus Israel, 2 aus der ehemaligen UdSSR (vgl. Mull 1994).
(120)
Mit der Förderung dieser Theaterarbeit konnte einer relativ großen Gruppe geholfen werden: das erste "Zuwanderer-Theater" in der Bundesrepublik beschäftigt Schauspieler, Sänger, Tänzer, Bühnenbildner, Regisseure, Kameraleute, Tontechniker, Choreographen. Es spielte zunächst in russischer Sprache, begann dann mit Märchenstücken u.a. in Berliner Schulen in deutscher Sprache zu spielen, erhielt 1995 eine EU-Förderung für jiddische Stücke und arbeitet inzwischen selbständig.
(121)
Dem Konzept des Seniorenzentrums (getrenntes Appartement-Wohnhaus, Wohnheim und Pflegeheim für chronisch Kranke) liegt die Idee zugrunde, den Bewohnern den Wechsel von häuslicher in Heim-Umgebung zu erleichtern, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich in einem vertrauten und jüdischen Umfeld zunächst weiter selbst zu versorgen, und später, wenn nötig, nahtlos das Seniorenheim mit Vollbetreuung bzw. das Pflegeheim in Anspruch nehmen zu können. Derzeit ist es zu etwa 70 % von Neuzuwanderern bewohnt.
(122) Ein Interviewausschnitt zeigt, wie sich dies aus Sicht einer alteingesessenen Mutter auswirkt: "Ich überlege mir ernsthaft, ob ich meine Tochter in eine andere Schule gebe. [..] Das ist doch keine jüdische Schule mehr, hat doch kein Niveau mehr. In der Klasse wird fast nur Russisch gesprochen, sie kann inzwischen bald besser Russisch als Deutsch. Der Unterricht tritt dafür auf der Stelle. [..] Ich bringe meinen Kinder bei, daß wir kein Schweinefleisch essen und zum Kindergeburtstag gibt's das dann bei den Russen."

hagalil.com 28-02-03

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