Berlinale
2004:
Der Preis des Überlebens
Von Gudrun Wilhelmy
Der ehemalige Häftling im
Konzentrationslager Sachsenhausen, dessen eintätowierte Häftlings-Nummer
42392 sein Leben lang sichtbar blieb, starb im Oktober 2000. Ebenso
lebenslang wie die Häftlingsnummer blieben seine Erinnerung an vier Jahre
KZ-Haft, die nicht allein sein Weiterleben bestimmte sondern auch das seiner
Frau und seiner Kinder.

Bänder eines Grabkranzes mit der
Häftlingsnummer von Joop
Vor 30 Jahren hatte der Niederländer Louis
van Gasteren bereits einen Dokumentarfilm (Verstehst du jetzt, warum ich
weine?) über Joop und seine Familie gedreht und war mit der Familie in
Kontakt geblieben. Die Erziehung der Kinder und ihr Heranwachsen waren von
den KZ-Erfahrungen ihres Vaters begleitet, medizinisch ausgedrückt: seinem
posttraumatischen Stress-Syndrom.
Zur bedrückenden und geradezu zerstörenden
Familiensituation kommt seine Bindung an das Lager, das er, wie viele andere
Überlebende auch, regelmäßig besucht. Darüber hinaus pflegt er einen
intensiven Kontakt zu anderen Überlebenden. Seine Erzählungen über das
Lagerleben begleiten Abendbrot und Frühstück, jedes Erlebnis der Kinder ob
Schule oder Freizeit wird mit Zuständen im Lager verglichen. "Über nichts
konnte man reden" schildert der jüngste Sohn diese Situation. Zwei seiner
Kinder verlassen das Zuhause und kehren nicht mehr zurück. Ihre erdrückenden
Äußerungen, in schriftlichen Zitaten weiß auf schwarz im Film dargestellt,
bezeugen, dass ihr Vater seine Lehren aus dem Lagerleben zum bestimmenden
Verhalten innerhalb der Familie gemacht hat.

Denkstätte-Sachsenhausen
Die Tochter, die den Namen Rudi nach dem
Mitgefangenen Rudi Larsch erhielt, sagt dazu: "Ich war Expertin für Zyklon
B, ich war Modellgefangene". Alle Gräuel eines vierjährigen Aufenthaltes in
einem Konzentrationslager kannten seine Frau und seine drei Kinder, hörten
davon Tag für Tag und die Frau sogar nachts, wenn er träumte. Der ältere
Sohn erinnert sich an väterlichen Warnungen "Der Verräter schläft nie" und
"Traue keinem", was bis heute sein Leben prägt. Die Tochter und er entziehen
sich dem Vater und der Familie, sie halten diese Situation nicht mehr aus.
Die Ehefrau bleibt und auch der jüngere Sohn.
Der jüngere Sohn, Geschichtslehrer an einer
Schule und mit einer Kollegin verheiratet, berichtet von Alpträumen, in
denen er Situationen in einem Konzentrationslager durchleidet, die er selbst
niemals erlebt hat. Die Erfahrungen des Vaters sind auf diese Weise zu
seinen eigenen geworden. Weil er auf keinem Fall diese Traumata an eigene
Kinder weitergeben will und nicht sicher ist, ob er das wirklich schaffen
kann, bleibt seine Ehe gewollt kinderlos.

Die Ehefrau
Das Porträt der Frau, die diesen Mann
niemals verlassen hat, ist mit besonderer Feinfühligkeit gezeichnet und
erschüttert. Ihre Aussage, dass sie sich nicht vorstellen konnte, mit
"diesem Mann", den sie kaum als den ihren wieder erkannte, wieder ins Bett
gehen zu müssen, zeigt auch sie als Opfer des Naziterrors. Sie hat den Mann,
den man ihr nahm, "nicht wieder zurückerhalten" wiederholt sie immer wieder.
Sie lebt an der Seite eines Menschen, der nie wieder gesund wird.
Und wie weit dieser Terror gehen kann, auch
wenn er anscheinend vorüber ist, wird klar, als der jüngste Sohn die letzten
Jahre seines Vaters schildert. Der Vater erinnert sich weder an seine
Kinder, noch an seine Frau, er scheint alles vergessen zu haben, außer
seinen Erinnerungen an das Leben in einem Konzentrationslager. Selbst in der
Demenz assoziiert er immer wieder KZ-Erlebnisse mit Dingen aus seiner
Gegenwart, mit Worten, mit Gesten, mit Geschehnissen. Aus dieser
Vergangenheit gibt es für ihn kein Entrinnen – bis zu seinem letzten
Atemzug.
Sein größter Wunsch war, auf dem
Lagergelände beerdigt zu werden, bei all denen, die anders als er, nicht
überlebt haben. Er fühlte sich schuldig überlebt zu haben. Er konnte die
entmenschlichenden Erlebnisse nicht vergessen. Er blieb für den Rest seines
Lebens KZ-Häftling Nr. 42392.
Der 56minütige Dokumentarfilm wurde im
September 2003 uraufgeführt. Er ist ein eindringliches Dokument, dass diese
Vergangenheit überall weiterlebt und weiterleben wird, auch wenn es keine
Überlebende mehr geben wird. Dieser Film führt alle Schluss-Strich-Debatten
ab adsurdum durch die Schilderung der Realität. Ein Film, den man sich
ansehen sollte.
Auf der Berlinale 2004 wird er im
Internationalen Forum zu sehen sein am 6.2. im Arsenal 1 um 19:30, 7.2. um
12:00 im Delphi-Filmpalast.
Regie und Buch: Louis van Gasteren
Kamera: Gregor Meerman
Schnitt: Daphne Rosenthal
Ton: Jacqueline van Vught
De Prijs van Overleben, The Price of Survival
Filme zu jüdischen Themen, Israel / Nahost
und Minderheiten finden Sie
hier, Filmkritiken während der Berlinale auf der Startseite von
haGalil online.
hagalil.com
01-02-04
|