Eine Ausstellung und ein Buch:
Jüdische Berliner - Leben nach der Schoa
Von Gudrun Wilhelmy
"Wo waren Sie am 8. Mai 1945?" ist die Ausgangsfrage
eines Interviewbandes mit jüdischen Berlinern. Für die Interview-Partner
beginnt die Antwort auf diese Frage mit einer Schilderung, wie es dazu kam,
dass sie überhaupt den 8. Mai 1945 erlebten. Diese Antworten implizieren
auch die im Vorwort aufgeworfene Frage, wie Berlin nach der Befreiung von
nationalsozialistischer Terrorherrschaft wieder zur Heimatstadt für Juden
hat werden können. Niemand hatte sie jemals gebeten zurückzukehren.
Normal war es nach 1945 nicht als Jude in Berlin oder
Deutschland zu leben. Insbesondere unter Juden im Ausland rief dies massive
Reaktionen hervor, die von demonstrativer Abkehr bis Misstrauen geprägt
waren, wie Andreas Nachama aus eigenem Erleben noch in den 70er Jahren
berichtete. Dieses Verhalten und diese Einstellungen änderten sich in einem
über Jahrzehnte andauernden Prozess. Deutschland, und damit Berlin, war zum
"Unland" für Juden geworden. Die, die geblieben oder zurückgekehrt waren,
fanden sich in einem "unsichtbaren Netz aus Lügen, Verschweigen, Verdrängen,
Entschuldigungen und Reinwaschungen" wieder. Es war für viele von ihnen
dieses "Trotz alledem", das sie veranlasste in Berlin zu bleiben und hier zu
leben.
Die vierzehn Interview-Partner sind ein Bruchteil der rund
1.500 Juden, die sich für Berlin als Lebensort nach der Schoa entschieden
hatten. Die Tonband-Interviews mit Portrait-Fotografien von Elke Nord, sind
für viele eine Erinnerung an erlittenes Leid, aber auch an erfahrene
Solidarität. Das Zitat von Milan Kundera trifft für alle zu, die sich für
Berlin als Lebensmittelpunkt entschlossen hatten: "Der Kampf des Menschen
gegen die Macht ist der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen." Teil
dieses Kampfes ist das vorliegende Buch und die Ausstellung.
In Selbstreflexionen über das eigene Leben als Teil einer
geschichtlichen Epoche zu sprechen, und was dieses im privaten,
individuellen Bereich bedeutete und bedeutet, machen die unterschiedlichen
Motivationen der Interviewten wie beispielsweise Manfred Alpern, Ernst
Carmer oder Jerzy Kanal deutlich. Da ist als erstes Politik zu nennen. Die
Wachsamkeit politischen Ereignissen und Entwicklungen gegenüber, aber auch
die Motivation politisch mitzugestalten und zu entscheiden, zieht sich durch
alle Biografien und ist für die meisten besondere Triebfeder, sich damit
auseinander zu setzen und die eigene Entscheidung für Berlin als Lebensort
als eine politische zu verstehen. Der nächste wichtige Punkt ist
Antisemitismus innerhalb der Gesellschaft. Dieser ist nicht im politischen
allein zu sehen - in den letzten Jahren schmerzlich mehr als in vergangenen
Jahrzehnten nach 1945 -, sondern in gleichem Maße im Alltag, im Privaten, im
gesellschaftlichen Kontext. Er zeigt sich überall und es gilt, ihn überall
wo er auftaucht entschlossen entgegenzutreten.
Das Leben jedes Einzelnen verlief in ganz
unterschiedlichen Schwerpunkten. Für den einen, war und ist das Leben um die
Synagoge, also im religiösen Kontext, der entscheidende Mittelpunkt, für
andere war und ist es die Kunst, für wieder andere die Politik. "Trotz" war
und ist für alle Bereiche die entscheidende Triebfeder ihres Bleibens und
ihres Widerstanden gegen alle Formen von Antisemitismus und
Judenfeindschaft. Diese Frauen und Männer sind und waren es, die jüdisches
Leben in Berlin nach der Schoa lebten und ermöglichten, wie es heute in
Berlin zum selbstverständlichen und selbstbehaupteten Teil des Stadtlebens
geworden ist. Ob diese Entscheidung richtig war, und zwar nicht nur in der
persönlichen Dimension, diese Frage bleibt auch heute weiter offen und
unbeantwortet.
Die Ausstellung ist beachtenswert konzipiert. Die Farben
des Buchumschlages sind dabei aufgegriffen worden und selbstverständlich die
einfühlsamen Portraitfotografien von Elke Nord. Im Eingangsbereich sind auf
Pulten zusätzlich drei kleinere Fotografien der Interviewten zu sehen,
daneben ein charakterisierendes Zitat und – sehr schön – das gesamte
Interview als Abdruck zum Lesen ausgelegt.
Auf diese Weise können Besucher die Persönlichkeiten recht
schnell erfassen. Die Interviews verleiten zum Lesen und wer nur schnell
einen Einblick gewinnen will, findet sich fast ungewollt plötzlich mitten im
Interviewtext – oder bereits an dessen Ende. Die Texte sind so redigiert und
den Prämissen einer schriftlichen Veröffentlichung angepasst, doch genau
dass, was den einzelnen Menschen besonders macht, spricht aus den Sätzen.
Im wenig tiefergelegenen Ausstellungsraum sind auf den
Stellwänden, die den Blick nach Außen offen lassen, die schwarz-weiß
Fotoportraits angebracht mit Namen versehen und einem einzigen
charakterisierendem Lebens-Satz. Und so sieht man schon von oben
beispielsweise: "Ich war nie weg" (Inge Borck), oder "In der Arche Noah"
(Lilli Nachama), oder "Marx und Michelangelo" (Ingeborg Hunzinger, von der
auch Skulpturen zu sehen sind), "Wir Juden gehören dazu" (Susanne Thaler).
Sätze die neugierig machen, die verblüffen, die zum Dialog mit den
Portraitierten einladen.
Überraschend ist jedoch eine technische Raffinesse in der
Ausstellung. Mit Hilfe einer Software ist in den einzelnen Ausstellungskojen
immer wieder ein Teil des Original-Interviews eines der Portraitierten zu
hören. Oder ist es zu sehen, weil es möglich ist, der sprechenden Person
zugleich ins Gesicht zu sehen? Um einer Übertönung vorzubeugen, sind nicht
immer in allen Kojen gleichzeitig Stimmen zu hören. Denn dass, was zu hören
ist – oder zu lesen – verwickelt diejenigen miteinander ins Gespräch, die
dort stehen und zuhören.
Zur Ausstellung zeitgleich erschienen ist der
Begleitband "Berliner Juden - Leben nach der Schoa" von Ulrich Eckhardt und
Andreas Nachama. Die Ausstellung ist bis 29. Juni 2003 im Centrum Judaicum,
Oranienburger Strasse 28 -30 zu besichtigen.
Öffnungszeiten: So - Do 10.00 - 18.00 h und Fr 10.00 - 14.00 h; ab Mai
gelten die verlängerten Öffnungszeiten Di und Do bis 20.00 h
hagalil.com
27-04-03
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