4. JKV-Workshop:
"Interkulturelles Altern – eine Herausforderung der Zukunft"
Charlottengrad oder Scheunenviertel - Zum (räumlichen)
Lebensumfeld älterer jüdischer Migranten in Berlin...
Von Judith Kessler
Da ich nur 20 Minuten Zeit habe, beschränke ich mich auf eine
Zusammenfassung einiger Erhebungen in Bezug auf die räumliche Mobilität und
Wohnsituation älterer jüdischer Migranten in Berlin.
Die Jüdische
Gemeinde hat in Berlin über ein Drittel Mitglieder, die über 60 sind, und ist
damit noch älter als der Bevölkerungsdurchschnitt. Die meisten dieser älteren
Mitglieder sind Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion, die direkt oder über
andere Bundesländer nach Berlin gekommen sind. Denn einem Großteil der
Zuwanderer ist es gelungen (das ist ein Indiz für ihr hohes
Mobilitätspotential), sich regionalen Disparitäten durch Abwanderung zu
entziehen (also z.B. aus Sachsen nach Berlin umzuziehen) und/oder ihren
Vorstellungen entsprechende Wohnungen zu finden.
Weil es ja hier um ältere Menschen geht, haben wir
uns mögliche Zusammenhänge von Mobilität und Sozialstruktur angeschaut, und in
Bezug auf das Alter festgestellt, dass sich – anders als bei anderen
Migrantengruppen – bei den jüdischen Migranten alle Altersstufen gleichermaßen
aktiv an diese Umzügen beteiligen, möglicherweise auch, weil sie alle noch kaum
emotionale Bezüge zum Wohnumfeld aufgebaut haben. Bei alten Menschen spielt
jedoch der Gesundheitszustand eine wesentliche Rolle – d.h. dass kranke oder
behinderte Ältere besonders lange im Wohnheim oder in schlechten Wohnungen
sitzen und ihre Situation häufig nur durch massive Fremdintervention ändern
können.
Insgesamt haben zwei Drittel der Migranten weniger
als ein Jahr in einem Übergangswohnheim verbracht. Und weit über die Hälfte der
Berliner jüdischen Zuwanderer ist nach dem ersten Bezug einer Wohnung noch
einmal (37 %) oder sogar mehrmals (24 %) umgezogen, um sich weiter zu
"verbessern". Als Gründe für einen wiederholten Umzug wurden von den Älteren vor
allem genannt: die Entfernung zu Verwandten, dann: ein fehlender Aufzug, der
Auszug eines Familienmitgliedes, der Zustand und die Lage der Wohnung.
Nach mehr als einem Jahrzehnt der Zuwanderung sieht
es also folgendermaßen aus: Wie in den 20er Jahren ist der Westberliner Bezirk
Charlottenburg ("Charlottengrad") nun wieder einer der Hauptansiedelungsorte der
"Russen" in Berlin. Laut meiner letzten Erhebung (2003) leben 16 % aller aus der
GUS zugewanderten Gemeindemitglieder inzwischen in Charlottenburg, 18 % leben in
Wilmersdorf und 15 % in Schöneberg. Große Teile dieser drei Bezirke zählen zu
den mittleren bis guten Wohngegenden. In Kreuzberg, Wedding und Neukölln, wo
über Dreiviertel aller Berliner Ausländer leben, wohnen hingegen nur noch unter
10 % der GUS-Juden. Noch weniger sind es im gesamten Osten der Stadt: nämlich 7
% der Mitglieder (davon die Hälfte Russischsprachige), und zwar meist in Mitte
und Prenzlauer Berg.
Von den Wohnlagen abgesehen, ist zu erkennen, dass
es eine Häufung in bestimmten Gegenden gibt, teilweise auch bedingt druch die
Verteilungspolitik einiger Wohnungsbaugesellschaften und der Jüdischen Gemeinde.
Ob dies ein wirkliches Hindernis für eine Eingliederung ist, bleibt abzuwarten;
enge Kontakte zwischen den Migranten können ebenso ihre Voraussetzung sein und
räumliche Segregation kann durchaus auch unabhängig von sozialer oder
kultureller Segregation bestehen. Amerikanische Studien zeigen, daß
ex-sowjetische Juden auch dort vorzugsweise "unter sich" wohnen, andererseits
aber deutlich höhere Positionen als andere Einwanderergruppen auf der
Ressourcendimension einnehmen (betr. Einkommen, berufliche Position, Bildung,
Wohnen).
Anhand der o.g. Wohnkarrieren und Gegenden, in
denen die jüdischen Migranten letzlich gelandet sind, können wir jedenfalls
davon ausgehen, dass kaum noch jemand von ihnen Substandard-Wohnungen lebt (bei
der übrigen ausländischen Bevölkerung sind es immer noch 17 %, die kein Bad, WC
oder Fernheizung haben). Die nach der großen "Welle" 1990/1991 gekommenen
Zuwanderer ziehen es auch vor, länger in Provisorien zu leben, als Wohnungen in
schlechtem Zustand oder schlechter Lage zu beziehen; und besonders Ältere äußern
nun häufiger, die Wohnung, in die sie ziehen, solle "für immer reichen".
Ein großer Vorteil ist hierbei, daß sie dann häufig
altengerechte Wohnungen anmieten können. Im Durchschnitt haben sie somit bessere
Wohnverhältnisse als einheimische alte Menschen, die sich oft nicht entschließen
können, aus mängelbehafteten Wohnungen auszuziehen, in denen sie jahrzehntelang
gelebt haben. Laut Studien wohnen nämlich fast 2/3 der Älteren in Deutschland
länger als 20 Jahre in der selben Wohnung oder im selben Kiez; und es gibt es
immer noch 4 Millionen Alte, die in Substandard-Wohnungen leben, also u.a. ohne
Lift, Dusche oder notwendige Infrastruktur in der Nähe (Parks,
Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte, Ämter, öffentliche Verkehrsmittel usw.). Wie
wichtig für das Wohlbefinden älterer Menschen jedoch die eigene Wohnung ist,
wissen wir unter anderem von Zeitbudget-Erhebungen, nach denen sich auch rüstige
Ältere nur durchschnittlich zwei Stunden täglich außerhalb der Wohnung aufhalten
- d.h., daß sich der Aktionsradius reduziert und das Wohnen an sich wichtiger
wird.
Dabei gibt es Parameter und Anforderungen, die für
alle ähnlich sind, und solche, die von unterschiedlichen kulturellen Herkünften
geprägt sind. So zeigen sich die geronnenen Erfahrungen der jüdischen Zuwanderer
in Bezug auf ihre frühere sozial-räumliche Umwelt auch in ihren hiesigen
Wohnpräferenzen. Für Einheimische erstaunlich, ziehen die meisten
innerstädtische Ballungsgebiete, Neubauwohnungen etc. grünen Stadtrandgebieten
oder den hohen Berliner Altbauwohnungen vor (die nach ihrer Meinung u.a. eher
desolat sind). Anders auch als die eher ländlich geprägten Aussiedler, die
großen Wert auf das "eigene Häuschen" legen (was in Berlin ohnehin kaum
realisierbar wäre), bevorzugen die jüdischen Zuwanderer zentrale Orte und
Hauptstraßen. Auch für Israel bemerkte eine Studie, daß Wohnungen in
"Prestige-Vororten" von Großstädten abgelehnt werden, so als wären die
Zuwanderer damit wie in der Sowjetunion von der Versorgung abgeschnitten. Neben
der vermeintlich nicht vorhandenen Infrastruktur mag eine Rolle spielen, daß der
neue Ortsbezug zunächst nicht an vertraute Bauten und Plätze gebunden ist, aber
an die Nähe von Personen und Institutionen. Es verbinden sich keine „Gefühle"
mit einem bestimmten Kiez, sondern es wird, besonders von Älteren, rational nach
einer Überschaubarkeit des Lebensumfeldes entschieden: die Nähe zu Ämtern, die
U-Bahn vor der Tür, die Tochter in der Nebenstraße usw. vermitteln eine gewisse
Sicherheit. Zudem beschränkt sich der soziale und räumliche Aktionsradius häufig
auf die Achsen Supermarkt - Sozialamt - Arzt - Wohnung der Kinder. Dabei ist oft
entscheidend, welche Ziele zu Fuß erreichbar sind.
Da die jüdischen Migranten zu 90 % aus europäischen
Großstädten kommen, die meist sogar größer als Berlin sind, ist davon
auszugehen, dass sie gewohnt sind, jederzeit kulturelle Angebote wahrnehmen zu
können, sich also nicht zu hause verschließen und auch an ihrer hiesigen Umwelt
teilhaben wollen, ins Theater gehen möchten usw. Das sind natürlich Dinge, die
zu Fuß meist nicht realisierbar sind. Wobei das Jüdische Gemeindehaus für die
meisten Mitglieder näher ist als die Oranienburger Straße, so dass an solchen
entfernteren Orten Veranstaltungen z.B. deutlich früher stattfinden müssen,
damit Ältere noch bei Tageslicht nach hause kommen.
Insgesamt gibt es natürlich mehr russischsprachige
als explizit jüdische Angebote. Die Berliner Minderheiten sind insofern auch
schwer zu vergleichen, weil sie von sehr verschiedener Größe sind. Die türkische
Community konzentriert sich zudem regional auf bestimmte Orte. Die jüdische
Community ist eher eine virtuelle. Dennoch ist sie bereits in der Lage, sich
weitgehend selbst und unabhängig von außen zu organisieren – vor allem durch das
Potential von bald 200.000 Russischsprachigen in der Stadt (jüdisch sind davon
maximal 10 %). Diese Community, die sich also nicht regional oder örtlich
organisiert, sondern punktuell, vermag es dennoch die Bedürfnisse der Zuwanderer
nach Bindung und Reorganisation ohne Neuanpassung zu bedienen oder zu
kompensieren. Mit Zeitungen, Fernsehen, Restaurants, Läden, Auftritten
russischer Künstler usw.
Es gibt also keinen "Kiez" für die jüdischen
Migranten aber einige Seniorenklubs oder Treffpunkte, in denen vor allem ältere
Zuwanderer verkehren (Achva, Massoret, Hatikwa). Aufgrund der Undurchlässigkeit
des deutschen Arbeitsmarktes, mangelnder Sprachkenntnisse usw. haben sich
jüdische Zuwanderer in diversen Vereinen zusammengeschlossen, die sich dann
"Verein der jüdischen Erfinder" oder "Literaturklub" o.ä. nennen. Defacto sind
es Selbsthilfeinitiativen, die zu 90 % aus älteren Menschen mit ähnlichem
Schiksal bestehen. Menschen, die keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben und in
der deutschen Gesellschaft "nicht ankommen". Die Kontakte mit Deutschen nehmen
ja auch bei steigender Aufenthaltsdauer zumindest bei der älteren Generation
kaum zu. Die häufigsten und oft einzigen Kontakte sind formeller Art und werden
als unbefriedigend wahrgenommen (unfreundlich, bürokratisch, restriktiv).
Das "unter sich bleiben", dort, wo man verstanden
wird, mag dem Wohlbefinden dienlich sein, dem Spracherwerb dient es sicher
nicht. Die fehlenden Sprachkenntnisse beschränken den Aktivitätsrahmen. Es
können weder intensivere Kontakte zur deutschen Bevölkerung hergestellt, noch
passive Kommunikationsangebote wie deutschsprachige. Zeitungen oder
Fernsehprogramme ausreichend genutzt werden (in Seniorenhäusern wird der Einbau
von Satellitenantennen teilweise auch verweigert). Wenn dazu noch Krankheit oder
Immobiltät kommt, ensteht schnell Isolation.
Noch wichtiger als
Bezugs-Orte sind für das soziale Wohlbefinden Älterer natürlich Bezugs-Personen,
gerade, wenn man sich in der Fremde befindet. Es ist auch empirisch
nachgewiesen, dass die Entfernung zu Bezugspersonen eine der wichtigsten
negativen Faktoren ist, die das Wohlbefinden im Alter beeinflussen, was
natürlich noch von Person zu Person variiert. Wir haben einerseits die
Situation, dass infolge der Kettenwanderung die „Verwandtschaftsdichte" der
Zuwanderer in Berlin enorm gestiegen ist und zudem Beziehungen (auch von
ehemaligen Nachbarn, Kollegen, Freunden) aus dem Herkunftskontext nach Berlin
"verpflanzt" wurden. (Einige Familien verfügen über Netzwerke mit jeweils mehr
als 50 Personen.) Und wir wissen, dass auf soziale Beziehungen innerhalb der
eigenen Familie/Gruppe viel Wert gelegt wird, selbst wenn das einhergeht mit der
Distanzierung gegenüber Teilen der Gesamtmigrantengruppe und das Sozialverhalten
dem in der Heimat ähnelt, d.h.daß Beziehungen nach regionaler Herkunft,
politischer Anschauung und gesellschaftlicher Position aufgebaut oder
weitergeführ werden. Diese Kontaktpflege erfordert natürlich auch eine gewisse
Mobilität.
Andererseits lebt ein erheblicher Teil der Älteren inzwischen
in 1-Personen-Haushalten, selbst wenn die Familie noch "komplett" war, als sie
eingereist ist. Ein Teil der Älteren ist nun verwitwet (hier zu 70 % Frauen) und
auch 2- oder 3-Generationen-Konstellation finden sich nur noch bei einem Viertel
der Mehrpersonenhaushalte, Tendenz ebenfalls weiter fallend. Für die
"Schrumpfung" der Haushaltsgrößen spielt auch eine Rolle, daß die Großfamilien
in der GUS oft nur Notgemeinschaften waren, in denen mehrere Generationen wegen
Wohnraummangels zusammen lebten. Hier nun wächst der Wunsch nach einer
räumlichen Trennung, meist der Kinder von den Eltern, die versuchen, die Eltern
in Seniorenwohnungen oder -heimen unterzubringen. Familiensolidarität ist keine
notwendige Verpflichtung mehr - wohlfahrtsstaatliche Leistungen wie
Heimunterbringung, Pflegeversicherung etc. greifen ja auch für die älteren
Migranten.
Während die Kinder außerfamiliäre Möglichkeiten schnell
annehmen, ist das für viele Eltern problematisch. Häufig sind sie ja nur wegen
der Kinder nachgezogen und um nicht allein zu sein. Ähnlich wie es einen
scharfen Bruch und eine Degradierung bei der Beendigung des Berufslebens für die
Älteren gibt, gibt es für sie kaum gleitende Übergänge, wenn es um eine
räumliche Trennung von der Familie geht. Häufig trennt sich zeitgleich mit dem
Auszug aus dem Wohnheim (oder spätestens beim 2. Umzug) auch die Familie.
Dieser an sich wünschenswerte Umzug in die eigene Wohnung bedeutet für viele
noch mehr Einsamkeit und neben der Trennung von den Kindern u.U. auch den
Verlust der Restkontakte zu anderen Bewohnern, die in der selben Lage waren. Die
eigene Wohnung bringt neue Probleme in bezug auf die nötige Selbständigkeit mit
sich: wie macht man einen Mietvertrag, meldet das Telefon an oder redet mit dem
Hauswart, ohne Deutsch zu können. Aus unserer Praxis kennen wir viele Fälle, in
denen Versicherungen, Kautionen, Haustürgeschäfte, und das berühmte
"Kleingedruckte", sich zu Riesenproblemen ausgewachsen haben.
Nichts
desto trotz ist diese eigene Wohnung, vor allem die, die den eigenen
Vorstellungen enspricht, hilfreich, um Defizite zu kompensieren. Schließlich
genießt der Wohnbereich eine außerordentlich hohe Wertschätzung als Nische, für
die Kommunikation mit anderen und als einer der wenigen wirklich
selbstbestimmten Bereiche in der neuen Umgebung.
Programm des Workshops
Jüdischer Kulturverein
Russische Juden in Berlin und Deutschland
al /
hagalil.com / 2004-12-13
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