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Hartz IV:
"Jähe Wendungen sind nicht ausgeschlossen"

Jetzt hat Hartz IV meinen dialektischen Verstand aufs Neue geweckt...

Von Irene Runge

Als Erich Honecker diesen Satz von sich gab, hatte er natürlich nicht die Wende vom Herbst 1989 im Sinn. Das Verkennen der Wirklichkeit war damals Staatsprinzip, bei solcher Weltsicht erübrigten sich Reformen. Als das Volk auf die Straße ging, zog sich die Führung zurück. Damit hatte niemand gerechnet, auch nicht damit, dass es kein politisches Konzept für den Erhalt der Macht zu geben schien. Die obersten Funktionäre hatten sich auf die unveränderbare Ewigkeit eingerichtet und die Wirtschaft einem reformfeindlichen ideologischen Bann unterworfen. Das eigentliche Problem aber lag tiefer: Dieses System war nicht reformierbar. Das zu begreifen hat seine Zeit gedauert. Bei mir jedenfalls.

Jetzt hat Hartz IV meinen dialektischen Verstand aufs Neue geweckt. Das heutige Problem scheint zu sein, dass trotz aller Träume vom kapitalistischen System keine grundsätzlichen sozialistischen Alternativen zu erwarten sind. Nur wenn die-da-unten nicht mehr wollten, selbst wenn die-da-oben noch könnten, erst dann würden Veränderungen in der Luft liegen. Es fragt sich nur, welche.

Beim Versuch, einem Antragsteller den ALG-II-Fragebogen zu erklären, nutzten mir weder mein gutes Deutsch noch meine relativ gediegene Universitätsausbildung im Fach Ökonomie. Hier ist der Eifer von Verwaltungsangestellten gefragt, es geht um Kleingedrucktes, um Dokumente und die Fähigkeit, sich datenkonform selektieren zu können. Mein Antragsteller hatte Probleme damit, ich bekam schon vom Hinsehen Kopfschmerzen. Als wir die Arbeitsagentur um Hilfe baten, wurden wir zum schnellen Besuch aufgefordert: Der Ansturm hatte noch nicht begonnen, noch war viel Zeit, Ratsuchenden ausführlich zur Seite zu stehen. Damit ließ sich das formale Problem lösen, auch wenn einige Detailfragen vom freundlichen Herrn der Telekom anfangs nicht beantwortet werden konnten. Die 55 qm große Wohnung im Genossenschaftseigentum gilt als angemessen, unklar bleibt, was aus den Versicherungen werden soll. Ab Januar 2005 wird mein Antragsteller seinen Alltag mit über 350 Euro minus gestalten müssen. Er wird nicht nur die Tageszeitung abbestellen müssen und die Fernsehgebühr einsparen. Restaurantbesuche entfallen von allein, das Fahrrad ersetzt die BVG. Nein, Theater muss auch nicht mehr sein und Kino ganz selten. Ihm, dem Ingenieur aus Schottland, der sich noch unlängst für voll integriert, weil sehr gut bezahlt hielt, geht es dennoch vergleichsweise gut. In zwei Jahren wird er verfrüht in eine angenehme Rente gehen.

Genaugenommen ist diese Erfahrung ein sozialer Abstieg. Als der Mann noch Arbeit hatte, wollte er von Politik wenig wissen. Neuerdings zweifelt er an seinen zurückliegenden Wahlentscheidungen und mehrmals war er bei frühherbstlichen Montagsdemonstration zu sehen.

Hartz IV ist noch immer ein Reizbegriff. Dabei wird geschickt ausgeblendet, dass und warum Deutschland seit langem über seine sozialen Verhältnisse lebt. Verschwiegen wird, dass der Zweck des Kapitals Mehrwert hecken heißt (sagt Marx), also Profit. Es kennt dabei keine Grenzen, sondern fließt geschwinde dorthin, wo die Verwertungsbedingungen am profitabelsten sind. Das ist zwar kein Naturgesetz, aber ein ökonomisches, und es setzt sich notfalls auch mit Gewalt und vor allem global durch, es sei denn, eine Gegenmacht verbaut diesem Fluss die Richtung. Früher galt eine organisierte Arbeiterklasse als ein solches nationales Hemmnis. Aber im globalisierten Heute? Was von der Arbeiterklasse geblieben ist – wenn überhaupt – regional, bestenfalls national organisiert. Die Klasse der Kapitalisten hingegen hat sich international vernetzt und konkurriert mit allen Mitteln um die Macht auf dem Globus. Es wird wohl dauern, bevor globale Gegenstrategien wirkungsvoll ihre Kraft entfalten. Attac könnte so ein Anfang sein, aber ganz sicherlich ist das nicht der Weisheit letzter Schluss.

Die DDR wurde fast von einem Tag auf den anderen weggefegt. Diese ungewöhnliche Ausnahme von Machtaufgabe ohne Kampf wurde 15 Jahre lang hin-, aber analytisch nicht ernst genommen. So einfach wird sich der moderne Kapitalismus, der hierzulande Sozialstaat heißt, nicht abspeisen lassen. In seiner über 200–jährigen Geschichte hatte er weit tiefere Konflikte als Straßendemos und Hartz IV zu überstehen. Er rettet sich seither durch Reformen, Kompromisse, Konterrevolutionen, subtile und brutale Gewalt, durch Manipulation und - wenn’s nicht anders geht – auch durch Kriege.

Harzt IV ist – auch wenn die Wahrheit lästig fällt – ein so dumm wie hochnäsig, also zunächst überhaupt nicht kommuniziertes – und doch ein kapitales Erfordernis, das bei Strafe des partiellen Untergangs des Vertrauten, also der heutigen politischen Saturiertheit, energisch um- und durchgesetzt werden wird. Kein Wunder, dass es so viele Einwände gibt.

Doch Europas Einheit auch angesichts von Asiens wirtschaftlichem Vormarsch wollen zu müssen, das hat seinen Preis. Die Einheit der Deutschen ist auch noch nicht abgezahlt. Allerorten werden Rechnungen aufgemacht, aber welche von den Völkern werden sie womit bezahlen? Die Vermögenderen bevorzugen als nationale Bevölkerungsgruppen, ihre Zuständigkeit zu leugnen. Nutzen wird ihnen dieser Trick langfristig dennoch nicht.

Als ich 1990 mit Millionen anderen in die Bundesrepublik aufgenommen wurde, wunderte ich mich, in welchem Ausmaß auch hier Ideologie der Wirtschaftsrationalität vorangestellt war. Theoretisch verstand ich, dass dies mit der Gier nach Macht im Staat zu tun hatte. Alle vier Jahre wollen Politiker ihrem Volke gefallen, dabei vergessen sie, dass Volkswirtschaften einen anderen Rhythmus haben und die langen Wellen der Konjunktur jenseits von Wählergunst brodeln. Was jetzt unter dem Stichwort Hartz IV geschieht, ist die logische und historische Konsequenz bundesdeutscher Vergangenheit. Jähe Wendungen sind wieder einmal nicht ausgeschlossen. Eine neue Wende aber wird sehr anders ausfallen als damals, wo sich die Regierung ohne nennenswerten Widerstand ihrer Macht entledigen ließ. Die Wut der kurzzeitig vereinten Straße wird das System nicht umstürzen, aber kleine Änderungen der Reform erstreiten.

Was mich am meisten beunruhigt, sind die straff organisierten Rechtsextremen, die sich in die Hoffnung gehüllt haben, dem Volkszorn ihre trügerische Stimme zu leihen. Mangels größeren politischen Sachverstands scheint diese simple Rechnung mancherorts zu funktionieren. In der DDR gab es bei Konflikten Bananen fürs Volk. Heute wird das Volk von den Regierenden vor allem unterschätzt. Und genau das wird sich rächen

Irene Runge ist Vorsitzende des Jüdischen Kulturvereins Berlin

Jüdischer Kulturverein
Juden in Berlin

al / hagalil.com / 2004-12-08

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