Die deutsche
Hauptstadt muss sparen:
Renten für Verfolgte des
NS-Regimes sollen gestrichen werden
Oktober 2001 -
Der Senat von Berlin hat eine
Sparliste vorgelegt, nach der u.a. auch das Gesetz zur Zahlung von
Renten für politisch, rassisch und religiös Verfolgte aufgehoben werden
soll. Die Medien in Berlin berichten darüber, wenn überhaupt,
fußnotenartig.
Schreiben des Jüdischen Kulturvereins
Berlin, 28. Oktober 2001
An die Fraktionen des
Berliner Abgeordnetenhauses
CDU, Bündnis 90/Grüne, SPD, PDS, FDP
Sehr geehrte Damen und Herren
der im Abgeordnetenhaus vertretenen Fraktionen!
Wir, die Mitglieder des Jüdischen Kulturvereins Berlin
e.V., übermitteln Ihnen von unserer heutigen Jahresversammlung aus
unsere Empörung über die bekannt gewordenen Vorschläge für eine neue
Sparliste des Senats.
Es beunruhigt uns, dass in den Amtsstuben der Berliner
Finanzsenatorin rücksichtslos Vorschläge erarbeitet worden sind, die das
Leid der Verfolgten des Naziregimes nicht in Betracht ziehen. Angesichts
der Bemühungen des Berliner Senats um ein Denkmal für die ermordeten
Juden, angesichts der endlich begonnenen Entschädigungszahlungen für
Zwangsarbeiter, angesichts der schönen Worte, die bei der Eröffnung des
Jüdischen Museums gemacht wurden, erscheint uns dies als ein Irrweg, den
Berlin nicht gehen darf. Wir finden es skandalös, wie
verwaltungsbürokratisch über Kürzungen nachgedacht wird, und dass die
Finanzsenatorin diese politisch mehr als inkorrekte Herangehensweise
nicht einmal zu bemerken scheint.
Wer heute eine Streichung der PrVG-Renten für die
letzten politisch, rassisch und religiös Verfolgten ohne Bestandsschutz
in Erwägung zieht, verdrängt erneut das Wissen um die Lebensumstände
seiner meist hochbetagten, oft kranken Opfer und die Tatsache, dass
diese Rente nur aufgrund des Nachweises von persönlicher Verfolgung in
den Jahren 1933 – 1945 beansprucht werden kann. Voraussetzung ist
weiterhin die soziale Situation der Antragsteller, die über keine andere
Verfolgtenrente verfügen dürfen. Niemand in unseren Kreisen bezieht
zusätzlich eine Rente nach Bundesgesundheitsentschädigungsgesetz, wie
Zeitungen fälschlich berichtet haben.
Wir sind diese Verfolgten des Naziregimes, wir sind
Kinder und Enkelkinder, Familienangehörige von Deportierten, Illegalen,
Ermordeten, wir waren Widerstandskämpfer und Emigranten. Wir sprechen
auch für jene jüdischen Kontingentflüchtlinge aus der früheren
Sowjetunion, die trotz Ghetto oder KZ, trotz Flucht oder Zwangsarbeit
überlebt haben und heute durch diese Zusatzrente ihre ansonsten sehr
kleine Rente aufbessern. Wir sehen uns als Vertreter von
Anspruchsberechtigten, die wegen Inhaftierung ihrer Mütter in deutschen
Konzentrations- oder Internierungslagern geboren worden sind oder dort
Monate der frühen Kindheit verbringen mussten, und derer, die als Kinder
Zeugen der Deportation ihrer Familien wurden und folglich keine heitere
Kindheit oder Jugend in Deutschland verlebten.
Wir wissen wie Sie, dass 21 Millionen Euro viel Geld für
den Haushalt einer Stadt sind, die über Jahre einen riesigen
Schuldenberg angehäuft hat. Doch nichts auf der Welt darf Sie dazu
veranlassen, dieses Problem auf Kosten von Holocaustüberlebenden lösen
zu wollen. Das sollten menschlicher Anstand und politischer Sachverstand
gleichermaßen verhindern.
Vielleicht ist es erforderlich, mit Mitarbeitern, die
solche Entscheidungen vorbereiten, vertiefende Gespräche zu jenem
Abschnitt deutscher Geschichte zu führen. Wir bieten dem Senat unsere
Erfahrungen und unser Wissen für eine solche Weiterbildung unentgeltlich
an.
Abschließend möchten wir auch daran erinnern, dass
Nazijuristen und SS-Angehörige in der Bundesrepublik (und in den
baltischen Staaten) und deren Witwen - soweit wir wissen - in der BRD
niemals Sorge um ihre im Vergleich mit den Opfern des Faschismus
erheblich höheren Bezüge und Renten für die Jahre zwischen 1933 und 1945
haben mussten.
Das sollte nicht nur uns sehr nachdenklich machen.
Im Namen der Mitglieder des Jüdischen Kulturvereins
Der Geschäftsführende Vorstand
Dr. Irene Runge Marlies Mahlert
Andreas Poetke
1. Vorsitzende
2. Vorsitzende Schatzmeister
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