

An-Sichten eines Rabbiners:
BLUT AUF DER
STRASSE
Rabbiner Walter Rothschild
Wie empfindlich muss man in
Berlin sein? Wie empfindlich darf man sein, in Berlin? Ist normales
Leben möglich? Wenn ja, kann ich dann bitte einen Teil davon haben? Und
wenn nicht - wie lang muss man warten, bis man nicht mehr so empfindlich
ist?
Ich besuche regelmäßig Kreuzberg,
und eines Tages lief ich das Paul-Linke-Ufer entlang, und bemerkte -
irgendwie - eine kleine viereckige Bronze- oder Messingtafel im
Straßenpflaster, auf dem Bürgersteig, bei Nr. 41. Es sah aus wie ein
ganz normaler Wasserhahn-, Gasleitungs-, Strom- oder
Telefonkabel-Zugangsdeckel. Aus irgendetwas - Neugier? Langeweile? - las
ich was darauf stand. Es stand nicht "Eisengießerei Spandau" oder
"BEWAG" - es war:
Hier
wohnte HORST LOTHAR KOPPEL
Jahrgang 1924 Deportiert 1943
29. Osttransport |
Die Sonne schämte sich; die Vögel
hörten auf mit ihrem Singen; der ganze Straßenverkehr war plötzlich
nicht mehr zu hören.
Wer hat dieses bescheidene
Täfelchen dort hingelegt, und warum? Ich meine - das Schicksal dieses
armen jungen Manns ist klar. Mit 18 Jahren wurde er - wahrscheinlich aus
diesen Haus - verschleppt und eventuell ermordet, vielleicht langsam,
vielleicht schnell. Ich habe keine Forschung in alten Archiven gemacht -
war er Mitglied der berühmten Ingenieursfamilie Koppel, von der es noch
heute "Orenstein und Koppel"- Lokomotiven auf der ganzen Welt zu sehen
gibt? (Später wurde diese Fabrik zu einem Volkseigenen Betrieb Karl Marx
in Babelsberg, obwohl die Firma O&K noch heute existiert und in Spandau
Baumaschinen baut - in den fünfziger Jahren haben sie sogar
Reisezugwagen für die Israelische Staatseisenbahn hier in Berlin
gebaut!) Oder - hat eine andere Familie Koppel hier auf den gleichen
Kanal jeden Morgen geschaut, um die Ecke hier ihre Brötchen gekauft?
War dieser Horst ein Student? Hat
er hier allein gewohnt, oder in einer Wohngemeinschaft? Warum sollte
hier sein Name und nicht auch die Namen seiner Familie liegen? Was hat
er aus seinem kurzen Leben gemacht? Es gab keine Zeit, ein großer
Dichter oder Maler oder Komponist zu werden. Viel zu viele Fragen für
einen kleinen Spaziergang neben dem Kanal und unter den Bäumen. Ich
weiss nur dass er mit 18 oder 19 Jahren diese Welt verlassen musste, und
dass irgendjemand an ihn erinnert hat - mit Liebe, mit Trauer, mit Wut.
Und eine kleines Zeichen seines Existierens machen wollte.
Also, pass auf! Wenn man die
Strassen Berlins entlang läuft, muss man vorsichtig sein. Es ist nicht
nur eine Frage von Hundekot, oder Schlamm, oder anderen ‘normalen’
Risiken. Hier kann man - auf jeder Strasse, auf Menschenleben, auf
Menschenschicksale treten. Es gibt Gespenster hinter jedem Fenster - und
noch immer - Blut auf der Strasse.


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Grunewaldrampe Gleis 17
Grunewald hat zwei
Bahnhöfe. Der eine hat vier Bahnsteige, davon sind zwei in Betrieb. Alle
zehn Minuten fährt ein Zug Richtung Potsdam oder Westkreuz. Moderne
Züge, sanierte Gleise, modernisierte Bahnhöfe...
An-Sichten eines Rabbiners:
Ein
Zug in die Vergangenheit Alle paar Wochen im Sommer, und auch zu anderen
Gelegenheiten, macht ein ganz besonderer Dampfnostalgiezug eine Fahrt
durch oder rund um Berlin...
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