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Beispiel Berlin:
Jüdische Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990

Von Judith Kessler

Im folgenden geht es zunächst um faktische Neukonstellationen bzw. Bedingungen in Bereichen, die für die Migranten Priorität in der neuen Umgebung haben: Arbeit und Wohnen, materielle Existenzsicherung, Konsum, familiäre und soziale Beziehungen sowie die Aktivitäten im Umfeld der Migranten. Die mentale Verarbeitung der neuen Situation wird Thema des zweiten Teils dieses Kapitels sein.

4.1. Lebensbedingungen und Alltagsbewältigung

4.1.1 Arbeit und Beruf

Sichere Daten über die Beschäftigungssituation der Neuzuwanderer liegen nicht vor. Die bundesweite Studie von Steinheim-Institut/Mendelsohn-Zentrum kommt u.a. zu dem Ergebnis, daß 40 % der Personen mit drei- oder mehrjähriger Aufenthaltsdauer einer beruflichen Tätigkeit nachgehen und folgert, daß die "erwartete vergleichsweise schnelle Integration" vorliege (Schoeps 1993, S.13). Die Prozentangabe basiert allerdings auf einer Stichprobe bzw. der Aussage von 144 Befragten und scheint deutlich zu hoch gegriffen.

Nach unseren Erkenntnissen geht derzeit höchstens ein Viertel derer, die sich länger als drei Jahre in Berlin aufhalten, einer beruflichen Tätigkeit nach (informelle Erwerbstätigkeiten nicht berücksichtigt); insgesamt sind etwa 80 % der nach Berlin eingereisten sowjetischen Juden mit abgeschlossener Berufsausbildung im juristisch arbeitsfähigen Alter noch oder wieder erwerbslos gemeldet; dieser Wert schließt auch die Teilnahme an Deutschkursen (z.Zt. etwa 6 %) sowie Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen (ca. 8 %) ein, die keine Erwerbstätigkeit darstellen.

Auch wenn die Werte für die Beschäftigungslosen und die Personen mit bezahlter Tätigkeit auf einer Hochrechnung beruhen (53), scheint die Fehlerquote relativ klein zu sein: der Anteil regulär Berufstätiger im arbeitsfähigen Alter wird von der Berufsberatungsstelle der ZWST Berlin ebenfalls mit etwa 20 % angegeben (vgl.Basse 1995); in der Stuttgarter Untersuchung sind es sogar nur 14 %, bei jedoch durchschnittlich kürzerer Aufenthaltsdauer als in Berlin und kleinerer Stichprobe (IRG 1994,S.23).

Die Mehrzahl der - nach eigenen Angaben - inzwischen Erwerbstätigen arbeitet häufig lediglich teilzeitbeschäftigt. Von den Sozialarbeitern der Jüdischen Gemeinden wird einstimmig berichtet, daß ein Teil der Zuwanderer darüberhinaus angibt, geringfügig beschäftigt zu sein, und zwar im Rahmen einer Einkommenshöhe, die den Bezug der Sozialhilfe weiter gestattet. Während die Zahl der "Umschüler" bei den bis 40jährigen am höchsten ist, überwiegen erwerbstätig Beschäftigte in der Gruppe der 35 - 50jährigen; die über 60jährigen sind mit wenigen Ausnahmen arbeitslos. Bei den jungen Zuwanderern stellt sich die Situation etwas günstiger dar. In der ehemaligen UdSSR gab es kein Abitur im deutschen Rechtssinn. Schulabgänger mit entsprechenden Leistungen konnten nach einer 10jährigen Schulausbildung direkt an einer Hochschule studieren (54). Durch Gleichsetzung mit deutschen Aussiedlern in dieser Frage ist es jüdischen Zuwanderern erlaubt, in der Bundesrepublik nach Besuch eines vorbereitenden sog. Studien-Collegs ein Hochschulstudium zu beginnen bzw. fortzusetzen, wenn sie in der Sowjetunion bereits mindestens zwei Semester studiert haben. Diese Konstellation wird wie ein Abitur anerkannt, nicht jedoch, wenn die Jugendlichen direkt von der Schule kommen bzw. ihr Studium in der Sowjetunion bereits abgeschlossen haben. In diesem Fall müssen sie das deutsche Abitur nachmachen, um hier studieren zu können.

Von den 17 - 25jährigen Zuwanderern mit abgeschlossener Schulbildung und ohne abgeschlossene Berufsausbildung waren bei der Voruntersuchung 1993 64 % beschäftigungslos, 28 % Studienanfänger bzw. -fortsetzer (meist Musik, Ökonomie, Zahnmedizin) und 8 % hatten eine Berufsausbildung (z.B. Zahntechniker, Reisekauffrau) begonnen. Dieser proportionale Trend setzt sich fort, wobei im Zeitverlauf die Zahl der beschäftigungslosen Jugendlichen um ein Drittel abgenommen hat: Bei noch schulpflichtigen Jugendlichen wird von den Eltern sehr häufig darauf gedrungen, daß sie das Abitur erwerben, was zunächst einen längeren Schulbesuch bedeutet; einigen jungen Migranten ist es ferner gelungen, einen Platz in einem berufsvorbereitenden Lehrgang zu erhalten.

Auf die gesamte, untersuchte Berliner Gruppe bezogen, ergibt sich derzeit für die Beschäftigungssituation etwa nebenstehendes Bild: Über die Art der Tätigkeit der Erwerbstätigen sind ebenfalls nur Daten von einem Teil der Zuwanderer verfügbar. Lediglich 25 % der Berufstätigen arbeiten - nach ihren Angaben - im eigenen, 75 % in einem fremden Beruf bzw. einer fremden Branche, in fast allen Fällen unter ihrer Qualifikation. Eine Ursache dafür ist der hohe Anteil der "Intelligenzia", der Akademiker unter den Migranten, deren sowjetische Ausbildung hier häufig nicht anerkannt wird oder die keine Erlaubnis zur Ausübung ihres Berufes erhalten (z.B. Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte) (55). Vereinzelte Anerkennungen sind im medizinischen Bereich über komplizierte langwierige Verfahren erreicht worden, die mehrjährige Berufspraktika und unbezahlte Gastarzttätigkeiten erfordern, jedoch keine Garantie für eine tatsächliche Berufsanerkennung darstellen. Eine Praxiseröffnung setzt wiederum die deutsche Staatsbürgerschaft voraus. Israelische Studien stellten jedoch fest, daß es gerade die eingewanderten Lehrer, Ärzte und Wissenschaftler sind, die eine ausgeprägte Berufsauffassung haben, ihren Beruf als Berufung verstehen und nicht geneigt sind, ihn aufzugeben. Vielmehr würden sie sogar bereit sein, ein Sinken ihres Lebensstandards hinzunehmen, um auf ihrem Gebiet weiterhin tätig sein zu können (Bade 1993 S.177). Für Mediziner und in der Forschung tätige Wissenschaftler zeigt sich dies auch in Berlin. Selbst die geringste, schlechtbezahlteste Chance, die Berufsanerkennung künftig doch noch zu bekommen oder wenigstens im weitesten Sinne im eigenen Bereich arbeiten zu können, wird genutzt. So gibt es etliche Ärzte, die als Krankenschwester/Hilfspfleger arbeiten und Wissenschaftler, die Hilfsdienste in diversen Forschungsinstituten ausüben. Technischen Spezialisten und Naturwissenschaftlern (z.B. Programmierer, Mathematiker, Raumfahrttechniker) gelingt der Wiedereinstieg hingegen oft relativ gut, ebenso wie Positionsinhabern unstandardisierter Berufe (Musiker, Maler). Für darstellende Künstler oder Journalisten ist die fehlende Sprachkompetenz jedoch häufig ein besonders großes Handicap. Insgesamt ist eine akademische Ausbildung bei der Arbeitsuche selten von Vorteil. Migranten mit Handwerks- und Dienstleistungsberufen haben bessere Einstiegschancen, jedoch selten bei deutschen Firmen (außer im Baugewerbe). Proportional mehr Zuwanderer arbeiten bei "russischen" Arbeitgebern (in Spielhallen, Läden, Arztpraxen, Reinigungsfirmen) oder versuchen sich selbständig zu machen, z.B. als Schuhmacher, Schneider, Gastronom (oft Personen aus dem asiatischen Teil der UdSSR).

Hoch ist auch die Zahl der "Umsteiger", die als frühere Ingenieure z.B. nun Handelsfirmen eröffnen. ">Business< ist für die Russen das Zauberwort. [..] Ärzte schlossen ihre Praxen, Wissenschaftler wechselten in die boomende Im- und Exportbranche" - schreibt DER SPIEGEL (35/1995,S.62). Auch das Statistische Landesamt Berlin (1994) zählte die meisten beschäftigten Staatsbürger der ehemaligen Sowjetunion im Bereich Dienstleistungen, gefolgt von den Sparten Handel und Verarbeitendes Gewerbe. Wie die Praxis der Sozialberatung zeigt, müssen viele dieser Kleinunternehmen jedoch nach kurzer Zeit hochverschuldet wieder schließen, da der Verbraucherbedarf und die Verdienstmöglichkeiten überschätzt oder  notwendige Steuerzahlungen unterschätzt wurden und häufig nur mangelhafte Kenntnisse über Management, Rechnungswesen und hiesige Marktmechanismen bestanden.

Viele Zuwanderer haben daneben bestimmte Spezialausbildungen (z.B. ein Biologe, der auf die sibirische Botanik spezialisiert ist), unvermittelbare Berufe (z.B. Dozent für Marxismus-Leninismus) oder Qualifikationen, die den Anforderungen in der Bundesrepublik nicht genügen (z.B. Bautechniker) und eine Umschulung bzw. Fortbildung dringend erfordern würden (auch wenn die Ausbildung formal anerkannt wurde). Wie in Berlin stellen jedoch auch die westdeutschen Gemeinden fest (vgl. IRG,1994,S.15), daß die Arbeitsämter Umschulungen und Anpassungsqualifikationen mit der häufigen Begründung verweigern, daß eine Qualifikation bereits vorhanden sei und somit kein Handlungsbedarf bestehe. Andere Migranten lehnen Qualifizierungen wiederum ab, meist solche, die sie nicht selbst ausgesucht haben, sondern die z.B. über Träger von Fortbildungmaßnahmen angeboten werden oder sie haben sich mit ihrem "Arbeitslosenschicksal" abgefunden. Die Motivation, durch berufliche Qualifizierung die eigenen Arbeitsmarktchancen zu verbessern, stagniert durch die erzwungene Untätigkeit und nicht erkennbare Zukunftsperspektiven. Ferner fehlen Kenntnisse und Erfahrungen bei der Suche nach Arbeitsstellen und bei Bewerbungsstrategien.

Durch die autoritären und entmündigenden gesellschaftlichen Verhältnisse in der früheren Sowjetunion haben sich Verhaltensweisen entwickelt, die die berufliche Integration zusätzlich erschweren: mangelnde Flexibilität, Eigeninitiative, individuelle Planung und Selbständigkeit (vgl. Basse 1995). Hinzu kommen die häufigen Ablehnungen auf Arbeitsgesuche (ungeachtet auch anerkannter Berufsabschlüsse) und Kündigungen nach der Probezeit. So sinkt mit zunehmender Aufenthaltsdauer für viele das Sicherheitsgefühl. Offenbar recht viele Miranten, die keinen ihrer Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz finden, wechseln so zum "grauen"/"schwarzen" Markt über, vor allem um die Situation ihrer Familie zu konsolidieren.

Aber auch mangelhafte Sprachkenntnisse sind (noch) Ursache für die geringe Beschäftigungsquote. Die Zuwanderer, über die hier die Rede ist, sind längstens seit sechs Jahren (seit 1990) in Deutschland. Nur wenige verfügten bei ihrer Einreise über Deutsch-Kenntnisse und nur wenige waren zuvor jemals in der Bundesrepublik oder einem anderen westlichen Land gewesen. Die Deutsch-Kurse der Arbeitsämter (nach § 62 AFG) sind jedoch - für jüdische Migranten und deutsche Aussiedler - von zunächt 12, dann 10 auf inzwischen 6 Monate gekürzt worden. Neben Sprachkompetenzen zur Alltagsbewältigung, die in dieser Zeit nur unzureichend erlernt werden können, fehlen besonders Sprachfähigkeiten, die für den jeweiligen Beruf wichtig wären. In Berlin wird erst allmählich damit begonnen, spezielle Aufbaukurse für bestimmte Berufsgruppen einzurichten; in anderen Bundesländern fehlen derartige Kurse - ebenso wie systematische Ansätze zur Berufsintegration - noch völlig.

Die Sprachkenntnisse (v.a. das aktive Sprechen) verschlechtern sich zudem nach Abschluß der Deutsch-Kurse rapide, da sich die arbeitslosen Migranten fast ausschließlich in einer russischsprachigen Umgebung aufhalten und Kontakte außerhalb der eigenen Gruppe selten sind. Jugendliche und junge Erwachsene lernen die Sprache hingegen oft schnell, besonders wenn sie eine realistische Chance haben, hier zu studieren oder eine Ausbildung zu beginnen. Diese Altersgruppen sind zudem aufnahmefähig und befinden sich zumindest einen Teil des Tages durch den Besuch von Schulen oder Studien-Collegs in einem deutschsprachigen Umfeld. Bei erwachsenen Migranten, d.h. bei Personen, die etwa zwischen 25 und 60 Jahre alt sind, ist der Spracherwerb bzw. die Motivation dazu u.a. davon abhängig, ob die Personen allein oder mit Familie einreisen und wo sie herkommen. Ledige jüngere Männer und alleinstehende Frauen der "Zwischengeneration" aus dem europäischen Raum fallen durch schnelleren Spracherwerb auf als Verheiratete und Frauen mit Kindern bzw. Personen aus dem asiatischen Teil der Sowjetunion (sie leben meist noch isolierter vom deutschsprachigen Umfeld bzw. konzentrieren sich auf die Familie). Insgesamt nehmen ältere Personen (etwa zwischen 45 und 60 Jahren), oft gemeinsam mit dem Ehepartner, proportional häufiger Deutsch-Kursangebote wahr als Jüngere, die z.B. angeben, "keine Zeit dafür" oder "andere Probleme" zu haben. Der Spracherwerb der Migranten im arbeitsfähigen Alter korreliert relativ schwach mit dem Bildungsniveau, aber stark mit den wahrgenommenen Chancen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt. Besonders bei Migranten aus Berufen mit hohem Sozialprestige führt die Unsicherheit darüber, ob sie ihren Beruf jemals wieder ausüben können zu einer sinkenden Motivation, Deutsch zu lernen (56).

Grob zusammengefaßt, sind drei "aktive" Gruppen erkennbar, die im Zeitverlauf gleichbleibend stark motiviert sind, Arbeit oder Beschäftigung zu finden: die erste Gruppe beschränkt sich auf Bemühungen im selben Beruf wie in der Sowjetunion weiterzuarbeiten (was einen Spracherwerb meist impliziert); die zweite Gruppe ist bereit jede Arbeit anzunehmen oder umzulernen, der dritte Teil der Aktiven (meist Männer) möchte "egal wie" materiellen Wohlstand erreichen (pendelt z.B. zu Erwerbszwecken zwischen der alten und neuen Heimat oder arbeitet illegal). Jüdische Zuwanderer und deutsche Aussiedler sind in bezug auf ihre Arbeitsmarktsituation schwer vergleichbar, da letztere häufig schon länger in der Bundesrepublik leben und exakte Angaben zur Arbeitslosigkeit/Beschäftigung auch für sie nicht vorliegen. Nach verschiedenen Quellen ist ihre Arbeitslosenquote ähnlich hoch wie bei den jüdischen Neuzuwanderern und nimmt der Sozialhilfebezug ständig zu (Diakonie-Korrespondenz 10/95). Trotz unterschiedlicher Bildungs- und Berufsstruktur drängen beide Gruppen auf einen zunehmend überlasteten Arbeitsmarkt, deckt sich bei Aussiedlern die mitgebrachte Qualifikation noch seltener mit den nachgefragten Anforderungen (nur knapp 1/3 konnte langfristig im alten Beruf weiterarbeiten) und sind mangelnde Deutsch-Kenntnisse oft ebenso Ursache für Arbeitslosigkeit (57). In größerem Maße als die jüdischen Zuwanderer der "Vierten Welle" brachten sie jedoch gesuchte handwerkliche Berufe mit und konnten sich z.T. recht gut etablieren; Männern aus manuellen und Gewerbeberufen gelang der berufliche Wiedereinstieg am besten (Koller 1993). Die deutsche Minderheit in der UdSSR war für ihre strenge Arbeitsmoral und Disziplin bekannt und zieht auch hier eine z.B. berufsfremde Fließbandarbeit der Arbeitslosigkeit o. zeitraubenden Umschulung vor; anders als bei den jüdischen Migranten setzt auch kaum jemand die in der Sowjetunion begonnene Ausbildung fort (Dietz 1990). Die aus der Ober- und Mittelschicht stammenden jüdischen Migranten haben hingegen ein hohes und z.T. unrealistisches Anspruchsniveau an ihre Arbeit/Ausbildung bzw. sind seltener gewillt, unterhalb ihres Ausbildungsniveaus zu arbeiten. Auffällig ist jedoch, daß Frauen häufiger als Männer (und häufiger als Aussiedler-Frauen) an Sprachkursen, Umschulungen und Fortbildungen teilnehmen. Bei den Erwerbstätigen sind sie zwar im eigenen Beruf seltener vertreten als Männer, jedoch in fremden Berufen bzw. unterhalb ihrer Qualifikation öfter als diese. Gegenüber Aussiedler-Frauen, denen ein beruflicher Wiedereinstieg besonders selten gelingt (Koller 1993), sind sie proportional häufiger und schneller wieder erwerbstätig. Auch Mertens bemerkt für Israel, daß sich sowjetische Migrantinnen eher beruflich eingliedern lassen und bereiter sind, Arbeiten unter ihrem Ausbildungsniveau anzunehmen als Männer (1993,S.170). Möglicherweise tragen ein niedrigeres Anspruchsniveau oder höhere Toleranzschwellen dazu bei, daß sie sich dabei zufriedener und optimistischer über ihre Arbeit äußern als Männer in vergleichbaren Tätigkeiten. Jedoch haben auch sie das Gefühl, als Ausländer unterbezahlt und von deutschen Kollegen nicht angenommen zu werden und schlechtere Arbeit zugewiesen zu bekommen (siehe 4.1.4; 4.2.1).

Für Prognosen der Beschäftigungsentwicklung der Zuwanderer ist es insgesamt noch zu früh. Die Einwanderer der 70er Jahren hatten gezeigt (damals ohne nennenswerte staatliche Unterstützung), daß sie sich längerfristig auf dem Arbeitsmarkt behaupten konnten und dabei letztlich flexibler waren (sind) als andere Migrantengruppen; d.h. die Zahl der langansässigen arbeitslosen sowjetischen Juden ist proportional deutlich kleiner als die langansässiger Aussiedler oder z.B. der türkischen Bevölkerung in Berlin (vgl. Infratest 1995). Allerdings war die frühere jüdische Einwanderungsbewegung bedeutend kleiner und "jünger", der Arbeitsmarkt weniger überlastet und es konkurrierten weniger Personen mit anderen Ausländern sowie den nun ebenfalls verstärkt arbeitslosen deutschen Akademikern um Arbeitsplätze (58). Das bislang noch weitgehend brachliegende Bildungs- und Qualifikationspotential der neuzugewanderten Gruppe könnte jedoch – bei entsprechender Intervention in bezug auf Anpassungsqualifikationen und Ressourcenzugänge – auch dem deutschen Arbeitsmarkt zugute kommen.

4.1.2 Lebensunterhalt und Konsum

Ähnlich wie zu der Berufs- und Ausbildungssituation sind auch zu Einkommensarten und -höhen der Neuzuwanderer lediglich Angaben zu Teilaspekten verfügbar, da Veränderungen der Arbeits- und Einkommenssituation unvollständig erfaßt sind resp. von den Zuwanderern häufig nicht gemeldet werden.

Ein Teil der Kontingentflüchtlinge im arbeitsfähigen Alter besucht z.Zt. noch Deutschkurse und bezieht Eingliederungsgeld. Personen, die den Kurs vor weniger als einem Jahr beendet haben, erhalten Arbeitslosenhilfe, solche in Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen sowie Ausbildung und Studium bekommen u.U. Ausbildungsbeihilfen bzw. Lafög/Bafög. Alle anderen nicht erwerbstätigen oder geringfügig beschäftigten Migranten mit Kontingentstatus haben Anspruch auf Sozialhilfe, gegebenenfalls zusätzlich auf Kinder- und Erziehungsgeld sowie Unterhaltsvorschuß. Der Lebensunterhalt der älteren Zuwanderer, die auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Chancen haben, wird ebenfalls hauptsächlich über die Sozialhilfe abgesichert. Darüberhinaus bestehen folgende Regelungen der Rentenversicherungsträger: Im Gegensatz zu Aussiedlern können eine Rente nur Personen erhalten, die bis Ende 1992 im Rentenalter in das "Beitrittsgebiet" eingereist sind und auch da bleiben (in diesem Fall gilt das Sozialversicherungsabkommen der DDR mit der UdSSR weiter). Juden, die sich als Deutsche verstehen - und wie z.B. die Rußlanddeutschen ursprünglich aus Deutschland kamen - müssen, um nach dem Bundesvertriebenengesetz (christlichen) Vertriebenen und Spätaussiedlern gleichgestellt zu werden, ihre Zugehörigkeit zum "deutschen Sprach- und Kulturkreis" nachweisen, womit sie einen Rentenanspruch nach dem Fremdrentengesetz erwerben. In Einzelfällen können seit kurzem auch ehemalige Soldaten der Roten Armee, die durch Kriegseinwirkung invalidisiert wurden, Leistungen bei der Kriegsopferversorgung beantragen. Für Zuwanderer, die sich unter dem Naziregime im Ghetto, KZ oder auf der Flucht befanden, gibt es je nach Bundesland verschiedene Möglichkeiten, zusätzliche Beihilfen zu beantragen, wie z.B. beim Hardship-Fund der Jewish Claims Conference (vgl. auch Saathoff,G./Schlegel,S. 1993).

Über den Umweg der Erfassung von Beiträgen zur Gemeindesteuer läßt sich sagen, daß nach Abzug von Rentnern, Minderjährigen und Auszubildenden/Studenten etwa 2.300 Neuzuwanderer mit steuerpflichtigem Status verbleiben, von denen weniger als ein Viertel Gemeindesteuern zahlt. Somit kann vermutet werden, daß über Dreiviertel der Zuwanderer von geringfügigen Einkommen oder Erwerbsersatzeinkommen/Transferleistungen leben, sofern korrekt angegeben. Neben den im vorherigen Abschnitt genannten Gründen haben Nebenerwerbsmöglichkeiten sowie das gebotene soziale Netz in der Bundesrepublik sicher ihren Anteil an dieser Situation. Man kann von Sozialhilfe leben, wenn auch nicht besonders gut. Ein Zuwanderer:

"In der Sowjetunion mußte man nur für's tägliche Brot sorgen, alles andere übernahm der Staat. Hier ist es umgekehrt." (J., Ökonom, 44)

Obwohl keine repräsentativen Angaben zur Selbstwahrnehmung des Lebensstandards und der Lebensverhältnisse der Zuwanderer in der Bundesrepublik vorliegen, wird dennoch fast einhellig von ihnen berichtet, daß sich ihr Lebensstandard und oft auch die finanzielle Sicherheit durch die Emigration verbessert haben, dies jedoch zulasten des gesellschaftlichen Status. Der Konsens verwundert nicht, eingedenk der maroden und defizitären Situation in der früheren Sowjetunion in allen Bereichen vom Wohnungsbau bis zur Konsummittelproduktion einerseits und andererseits der u.a. hohen Anzahl von Akademikern, die nun nicht mehr in ihrem angestammten Berufsfeld tätig sein können. Damit korrespondierend zeigen sich die Migranten in Bereichen, die in der UdSSR unterversorgt waren, hier am zufriedensten: Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung sowie Konsummöglichkeiten und am unzufriedensten in Bereichen, mit denen sie in der Sowjetunion eher zufrieden waren: berufliche Anerkennung, Schulsystem, Arbeitsathmosphäre ("Kollektivität") und Sozialbeziehungen (siehe 4.1.4; 4.2).

Deutlich positiver als in der Sowjetunion werden die Konsummöglichkeiten eingeschätzt. Nach unserer Erfahrung sind besonders die jüngeren Zuwanderer ausgesprochen "konsumfreudig". Vor allem zu Beginn des Aufenthalts führen die bisherigen Konsumdefizite, die gewohnte Notwendigkeit schneller Kaufentscheidungen und eines einheitlichen Preisniveaus zu "Hamsterkäufen" und Verschuldung. Eingedenk dieser Erfahrung warnt die neue ZWST-Broschüre "Leitfaden für jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion" ausdrücklich vor dem Abschluß von Verträgen, Versicherungen und Ratenkäufen und weist darauf hin, daß Konsumwaren keine Mangelwaren sind und Kaufentscheidungen in Ruhe überdacht werden könnten (1995, S.35).

Auch wenn dies nicht quantifiziert werden kann, fallen im täglichen beruflichen und privaten Kontakt mit Zuwanderern einige Konsumbesonderheiten auf: Die Ausgaben für Nahrungsmittel sind bei vielen relativ niedrig, da ein Großteil der Frauen täglich kocht/bäckt (d.h.keine teureren Fertiggerichte kauft) und z.T. ähnliche Zutaten wie in der alten Heimat benutzt, die vergleichsweise preiswert sind (Mehl, Grieß, Graupen, Tee etc.). Etliche Migranten kaufen Lebensmittel auch in Polen, in türkischen Discount-Märkten oder bringen sie aus der GUS mit bzw. lassen sie mitbringen.

Die Ausgaben für Kleidung scheinen zumindest kurz nach der Einreise recht hoch zu sein: die mitgebrachte Bekleidung wird meist sehr schnell durch den Kauf neuer Kleidung und Accessoires ausgetauscht, wobei viele dabei weiterhin "russischem Geschmack" folgen. Dies fällt auch Zuwanderern auf, die bereits länger hier leben:

"Ich erkenne sie sofort. Moschino-Täschchen, Schmuck, egal ob echt oder nicht, Hauptsache viel und kitschig. Viel Farbe, unmöglich geschminkt. [..] Pelze - wer trägt denn so etwas heute noch? Die hängen sich ihren ganzen Besitz um den Hals und glauben, daß sie dann besser angesehen werden. Die Männer sehen dafür richtig schäbig aus.." (O., Studentin, 28)

Mag die Realität auch etwas weniger kraß aussehen und auf junge Migrantinnen auch nicht zutreffen, die sich sehr schnell "westeuropäisch" kleiden, scheint es in der Tat so zu sein, daß Frauen positive Ausdrucksmöglichkeiten/Anerkennung über ihr Äußeres suchen, während männliche Zuwanderer weniger Wert auf ihr Outfit legen, dafür aber auf andere Statussymbole (z.B. auffällige Autos). Daneben scheint der Kauf technischer Geräte für sie wichtiger zu sein. Waren sie bereits in der UdSSR aufgrund fehlender Dienstleistungsstrukturen auf handwerkliche Fähigkeiten angewiesen, so verdienen sich viele mit diesem Können und den dazugehörigen Arbeitsmitteln (z.B. Bohrmaschinen) hier etwas dazu bzw. nutzen es im eigenen Haushalt. Kühlschrank und Waschmaschine haben - nach dem Auszug aus dem Wohnheim - ebenfalls hohe Priorität, rangieren jedoch (zeitlich) hinter der Anschaffung von Telefon (in Westberlin verfügen 98 % der Zuwanderer-Haushalte über ein Telefon) und Fernsehgerät (mit "Satellitenschüssel" zum Empfang russischsprachiger TV-Programme). Aufgrund von Sprachproblemen, Isolation oder erzwungener Untätigkeit beschränken sich soziale Kontakte meist auf das russischsprachige Umfeld und/oder auf den häuslichen Bereich und werden u.a. durch Fernsehen und Telefonate mit der Heimat kompensiert. Daneben verfügen etliche Privat-Haushalte über Anrufbeantworter und Fax-Geräte, die auch für geschäftliche Kommunikation genutzt werden.

Wenn eine Wohnung gefunden und eingerichtet worden ist, werden verfügbare Einkommen häufig für Reisen - hauptsächlich in die Ex-UdSSR und nach Israel - eingesetzt. Die Kosten, die hierbei durch die Unterbringung bei Verwandten und Bekannten gespart werden, werden durch (von letzteren auch erwartete) Geschenke und Zuwendungen allerdings wieder aufgehoben. Einige - meist ältere kulturell interessierte - Migranten unternehmen auch (Billig-)Bus-Reisen durch Europa.

Von Personen, die ausschließlich auf die Sozialhilfe oder geringe Einkommen angewiesen sind, wird jedoch häufig erwähnt, daß sie sich über den täglichen Bedarf hinausgehende Ausgaben nicht leisten können. Im besonderen betrifft dies Rentner und kinderreiche Familien:

"In Moskau sind wir oft ins Theater und ins Konzert gegangen. Jetzt geht das nicht mehr. Wir wollten so gern zu Barenboim, aber 100 Mark für die Karten können wir nicht bezahlen. Wir gehen eigentlich nur zu den Veranstaltungen in der Gemeinde, da ist es billig oder wir bekommen Ermäßigung." (F., Rentnerin, 63)

"Ich wünschte, wir könnten alle mal zusammen wegfahren, Urlaub machen. Ich bin noch nie aus Berlin rausgekommen und mein Mann auch nicht. Die Kinder müssen immer einzeln ins Ferienlager, für alle reicht es nicht." (T., Geologin, 35, 3 Kinder)

An den Konsumgewohnheiten der Umgebungsgesellschaft orientiert, wird sich jedoch bei der Masse der Migranten die Tendenz zu einem erhöhten Konsum vermutlich fortsetzen, wobei sich die Schere zwischen den weiterhin von Sozialhilfe oder Kleinstverdiensten abhängigen Zuwanderern und denjenigen weiter öffnen wird, die sich hier beruflich etablieren können oder aber andere Einkommensquellen zu nutzen verstehen. Daß diese Entwicklung bereits begonnen hat, bemerkt auch die Stuttgarter Studie und stellt fest: "Es entwickelt sich ein privater Arbeitsmarkt mit der alten Heimat. Gebrauchte Autos, Fernseher, Videorecorder, Lebensmittel u.ä. werden in privaten Reisen in die Heimat mitgenommen und verkauft. Die Erlöse sind noch sporadisch und bescheiden [..], sie verweisen aber auf eine mögliche 'Perspektive' in der Zukunft: einen nicht zu kontrollierenden Graumarkt am Rande der legalen Gesellschaft" (IRG 1994,S.25). Die zunächst schlechten gesellschaftlichen Chancen für die Einwanderer, ihre zweckrationale Orientierung und ein beschleunigter Lebensrhythmus tun ihr übriges zu derartigen Unternehmungen. Dabei entstehen unvermeidlich Konflikte, wenn Zuwanderer ihre eingeübten "Überlebens-techniken" anwenden, die aus einem System stammen, in dem informelle "Umverteilungen" nach wie vor selbstverständlich sind, man mit Geld buchstäblich jede Entscheidung revidieren und jede "Ware" erhalten kann.

Es sind eher jüngere Leute, die an der Konsumgesellschaft teilhaben wollen und anfällig sind für die Verlockungen, die sich daraus ergeben, daß sie sich relativ frei zwischen den Ländern bewegen können, auch die abziehenden sowjetischen Streitkräfte und Vertragsarbeiter gerade in Berlin noch schnell das "große Geschäft" machen wollten, die Situation in den ehemaligen Ostblockländern chaotisch ist, es korrupte Grenzbeamte gibt und Warennachfragen aller Art dort und hier bestehen. In Extremfällen gehen diese Konflikte bis in den illegalen oder kriminellen Bereich (z.B. in Form von "Schiebergeschäften") (59).

Ohne solche Tendenzen unterschätzen zu wollen, nutzt der absolut überwiegende Teil der Migranten die Möglichkeiten der neuen Umgebung jedoch legal und sind Generalisierungen über eine "moralische Bedenkenlosigkeit", wie sie den jüdischen Zuwanderern in einer Berliner Studie bescheinigt wird, ebenso wie die dort vorgenommene (einzige) Kategorisierung in "Gesetzesbrecher" und "immer mehr unter ihren Einfluß geratende Gesetzesbeachter" (Freinkman 1992, u.a. S.30) falsch und gefährlich (60).

4.1.3 Räumliche Mobilität und Wohnsituation

Soziale Differenzierung führt nach Friedrichs zu räumlicher Ungleichheit , wobei der wichtigste Prozeß, der soziale und räumliche Ungleichheit verbinde, die Mobilität sei (in Bertels 1991, S.16). Das "biographische Kapital" der Migranten ließ eine gewisse vertikale und horizontale Mobilität auch nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik vermuten. Die Lage im Arbeitsbereich - wie die Erfahrung mit ausländischen Migranten im allgemeinen - zeigte jedoch, daß die Zuwanderer in ihrer sozialen Mobilität (noch) relativ gehemmt sind bzw. gehemmt werden. Andererseits kann ihre räumliche Mobilität dazu beitragen, Disparitäten und Defizite auszugleichen. Den Ort (die Stadt, die Wohnung) zu finden, an dem sie sich wohlfühlen und wo ihre beruflichen und gesellschaftlichen Chancen am größten sind, ist zudem meist der erste Schritt vor der eigentlichen Suche nach einer Arbeit.

Berlin hat für Migranten eine starke Anziehungskraft. Einem großen Teil der Zuwanderer, die nach Inkrafttreten der Kontingentflüchtlingsregelung im Rahmen dieses Verfahrens in einen anderen Ort der Bundesrepublik eingereist sind, ist es gelungen, seinen Wohnsitz nach Berlin zu verlegen und das sog. "geregelte" Verfahren, das ihren Wohnsitz festlegt, zu umgehen (61).

Die Auszählung einer Stichprobe (Juni 1994 bis Juni 1995) neu registrierter Mitglieder der Berliner Jüdischen Gemeinde zeigt, daß von 500 Personen mit Kontingentstatus 359 aus anderen Bundesländern "ungeregelt" nach Berlin gekommen waren (62). Aus der Graphik wird ersichtlich, daß die Fluktuation aus den neuen Bundesländern dabei besonders stark ist (63).

2/3 aller in der Berliner Gemeinde registrierten ungeregelten Zuzüge aus der ehemaligen DDR kommen aus dem angrenzenden Land Brandenburg. (Nach Angaben des Landkreises Barnim z.B. hatten allein im 1.Halbjahr 1995 mehr als über 150 Personen das Aufnahmeheim Ahrensfelde in Richtung Berlin verlassen.) Aus Sicht der Zuwanderer macht die bestehende Verteilungspolitik keinerlei Sinn. Besonders im Süden der früheren DDR (aus dem die Fluktuation insgesamt auch am stärksten ist - siehe 5.1) werden sie in Dörfern und Kleinstädten untergebracht, in denen es an Arbeits- und Ausbildungsplätzen, Wohnungen, sozialen Kontakten und Hilfseinrichtungen mangelt und wo - so die Berichte Betroffener - Übergriffe auf Wohnheime und Personen konzentriert sind. Zudem sind sie das Leben in der Großstadt gewöhnt, haben Verwandte u.a. in Berlin und einen Wohnberechtigungsschein, der paradoxerweise für die gesamte Bundesrepublik gilt. So ist das Ziel der meisten, trotz aller Hürden in Städte und Bundesländer mit günstigeren Bedingungen umzuziehen:

"Wir haben eine Odyssee hinter uns. Vom ersten Tag an wollten wir nach Berlin. Die Zusage haben wir aber für Sachsen-Anhalt bekommen. Wir waren erst in einem Wohnheim auf dem Land, dann wurden wir umgesiedelt. Das zweite Wohnheim wurde geschlossen und wir haben 20 km entfernt eine Wohnung auf dem Dorf bekommen. Das gehörte schon zu Niedersachsen. Die Leute waren sehr nett, eine hat sogar geweint, als wir weggezogen sind. Aber was sollten wir da. 140 km bis Hannover, da war die nächste [jüdische] Gemeinde, keine Arbeit, keine Kultur, kein Theater. Wir sind doch aus Leningrad. Die Bekannten haben am meisten gefehlt. Wir hatten doch kaum Kontakte. Nach drei Jahren haben wir es endlich geschafft, nach Berlin. Ich hab schon geglaubt, ich werde sterben in diesem Dorf. Arbeit werden wir wohl nicht mehr finden in unserem Alter, aber wenigstens sind alle Freunde in der Nähe." (K., Krankenschwester, 50)

Wie diesem Ehepaar ist es vielen anderen gelungen, nach Berlin umzuziehen, wobei nur teilweise bekannt ist, auf welchem Weg, da es immer schwieriger wird, die Wohnsitzbeschränkungen streichen zu lassen, Wohnungen am neuen Wohnort zu finden, und Sozialämter, die bereit sind, die Kosten zu tragen (64). Schnelligkeit, Ausdauer, Hartnäckigkeit, gut funktionierende Informationskanäle gehören mit Gewißheit dazu wie auch die Mithilfe von Verwandten/Freunden, ein gewisser "Ideenreichtum" und einige Umwege (65).

Die Zahl der Wegzüge aus Berlin ist hingegen bisher außerordentlich gering und betrifft fast nur jüngere Menschen. Von den Pendlern abgesehen, sind seit 1990 unter 1 % der Neuzuwanderer zurück in die frühere Sowjetunion gegangen, ca. 1 % in andere Staaten (USA, Israel) und etwa 2 % in andere Bundesländer - dies ausschließlich berufsbedingt, d.h. wenn ein Familienmitglied Arbeit in einem anderen Ort gefunden hat. Berlin hat so fast ausschließlich Wanderungsgewinne zu verzeichnen.

Ebenso wie die Migranten, die über "Umwege" nach Berlin gekommen sind, müssen die direkt nach Berlin eingereisten Personen Wohnungen hier finden, denn auch sie werden i.d.R. zunächst in ein Übergangswohnheim eingewiesen. Durch die Registrierung des Auszugs aus dem Wohnheim in eine Wohnung läßt sich die Aufenthaltsdauer der Zuwanderer in Übergangsheimen feststellen. Das Diagramm zeigt, daß das Gros der Zuwanderer (41 %) 6-12 Monate in einem Wohnheim verbracht hat, 20 % sogar weniger.

Meist handelt es sich dabei um 1- bzw. 2-Personen-Haushalte. 39 % aller wohnten länger als ein Jahr im Heim, davon aber nur 4 % über zwei Jahre. Die Gruppe der lange im Heim Wohnenden setzt sich wegen fehlender bzw. nicht bezahlbarer großer Wohnungen hauptsächlich aus Familien mit vier und mehr Personen zusammen. Ein Zuwanderer:

"Ich habe 170 Bewerbungen geschickt. Entweder haben sie gar nicht reagiert oder abgelehnt. Ich habe es durch Makler versucht. Aber die deutschen Makler wollen keine Ausländer. Sie haben mich erst gar nicht angehört und die russischen nehmen 15 bis 20.000 Mark für eine 3- oder 4-Zimmerwohnung. Das Geld habe ich nicht. Wir wohnen zu viert in einem Zimmer. Seit anderthalb Jahren. Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen soll. Am liebsten würde ich zurückgehen, aber da haben wir keine Wohnung mehr." (A., 43)

Von Problemen mit der Wohnraumbeschaffung für große Familien berichtet auch die Stuttgarter Untersuchung, zugleich ist die Verweildauer im Wohnheim dort im Durchschnitt etwas länger (IRG 1994, S.19f). Neben größeren Familien sind es meist alleinstehende Männern zwischen 40 und 60 Jahren, die längere Zeit im Wohnheim verbringen (oft bemühen sich letztere erst intensiv um eine Wohnung, wenn fast alle russischsprachigen Mitbewohner aus dem Wohnheim ausgezogen sind, denn so lange ist das Wohnheim ein Mikrokosmos "russischen" Lebens; darüberhinaus muß sich der Einzelne nicht um das Bezahlen von Strom-Rechnungen kümmern, keine Möbel und Einrichtungsgegenstände kaufen usw.).

Im übrigen hat sich das Auszugstempo aus den Wohnheimen seit Beginn der Einwanderungswelle beschleunigt. Bei der Voruntersuchung 1993 waren es noch 70 %, die länger als ein Jahr im Heim gewohnt hatten, davon 15 % über 2 Jahre. Zum einen war die Zuzugswelle anfangs viel kompakter (d.h. es kamen bedeutend mehr Zuwanderer gleichzeitig), zum anderen haben die Migranten inzwischen mehr Erfahrungen und Beziehungen auf dem Wohnungsmarkt und sind in der Lage, nachziehenden Verwandten und Bekannten bei der Wohnungsbeschaffung zu helfen. Für die zuletzt (1995) Eingereisten beginnt sich die Situation jedoch allmählich wieder zu verschlechtern, da sich die Sozialämter zu weigern beginnen, die sprunghaft gestiegenen Mieten des Berliner Wohnungsmarkts, auch für Sozialwohnungen, zu übernehmen (66).

Insgesamt ziehen die Zuwanderer doch inzwischen im Schnitt recht schnell aus dem Wohnheim aus. Sie haben keine gute, aber insgesamt eine bessere Ausgangsposition auf dem Wohnungsmarkt als andere Migranten. Im Vergleich wieder zu den Spätaussiedlern, deren Verweildauer in Wohnheimen im Schnitt zwischen 2 und 4 Jahren liegt (Diakonie-Korrespondenz 10/1995), haben sie vor allem weniger Kinder und reisen weniger häufig als diese in ganzen Familienverbänden ein, die dann auch meist geschlossen leben bleiben wollen (Bade/Troen 1995,S.79).

Angemerkt sei jedoch nochmals, daß die Wohnsituation auch der jüdischen Zuwanderer in anderen Bundesländern (insbesondere in den neuen Ländern) gänzlich anders aussieht. Die Zuwanderer leben meist massiert in kleinen Ortschaften, die nicht einmal den eigenen Wohnungsbedarf annähernd decken können. Die Entfernung zu größeren Städten bzw. die schlechte Anbindung führt zudem dazu, daß Informationsdefizite bestehen und Wohnungsbewerbungen lediglich schriftlich abgegeben werden können. Daß wiederholte, persönliche Vorsprachen jedoch fast eine Bedingung für den Erhalt einer Wohnung sind, zeigte sich bei den Berliner Migranten.

Der Auszug aus dem Übergangsheim bedeutet jedoch noch nicht unbedingt eine zufriedenstellende Veränderung der Wohnsituation. So wie die residentielle Mobilität der Zuwanderer zwischen den Städten der Bundesrepublik hoch ist, zieht auch ein Teil innerhalb Berlins mehrfach um, um sich weiter zu "verbessern". Die folgende Graphik erfaßt die Umzüge der Migranten im Zeitraum 1.1.1990 bis 31.10.1995, die sich aus dem Eintrag im Datenfeld "Umzüge nach der Einreise" ergeben (67). Sie kann lediglich einen Trend zeigen, da Personen mit kürzerer Aufenthaltsdauer nicht getrennt von denen erfaßt sind, die bereits länger (längstens seit 1990) in der Bundesrepublik leben. Deutlich wird zumindest, daß über die Hälfte der Zuwanderer nach ihrem Auszug aus dem Heim bzw. nach Bezug der ersten eigenen Wohnung bereits noch einmal oder sogar mehrmals umgezogen ist (68).

Auch wenn dies nicht näher quantifiziert werden kann, sind häufige Umzüge eher ein Merkmal der Zuwanderer der Jahre 1990/1991, die mit den Strukturen des Wohnungsmarktes selten gut vertraut waren und kaum soziale Netzwerke zur Verfügung hatten und zunächst meist jedes, auch schlechte Wohnungsangebot annahmen, um dem Wohnheim zu entfliehen (69).

Beinahe "klassische" Wohnkarrieren sind der Umzug vom Ostberliner Wohnheim in eine Ostberliner Wohnung und danach in eine Westberliner Wohnung bzw. der Wechsel aus einem Wohnheim anderer Bundesländer in ein Untermietsverhältnis in Berlin und dann in die eigene Wohnung.

Gründe für einen wiederholten Umzug, wenn sie genannt wurden, waren: Entfernung zu Verwandten, Nachzug von Verwandten, Mietpreiserhöhung, Ofenheizung, fehlender Aufzug, Heirat, Geburt eines Kindes, Trennung und Auszug eines Familienmitgliedes, Probleme mit Haushaltsangehörigen, vor allem aber der Zustand und die Lage der Wohnung. Der letztgenannte Punkt betrifft besonders Zuwanderer, die zuvor im Ostteil der Stadt wohnten. Von den 1991 über 1.200 dort lebenden sowjetischen Juden mit ihren Familien, ist über die Hälfte in den Westteil der Stadt gezogen. Einen Umzug in umgekehrter Richtung haben lediglich 1% der Zuwanderer gemeldet, von denen die Hälfte später jedoch wieder nach Westberlin zurückgezogen ist. Auf der Grundlage von 3.500 auf die Berliner Stadtbezirke zuordbaren Adressen ergibt sich somit folgende Verteilung: Am 31.12.1995 wohnten 2.728 der neuen Gemeindemitglieder im Westteil der Stadt und 772 im Ostteil. Neben mangelhaften Wohnungsaustattungen, fehlenden Telefonen oder Infrastrukturmerkmalen wird von sowjetischen Zuwanderern häufig eine vorgefaßte Abneigung gegen den Ostteil der Stadt geäußert, der häufig mit "DDR" oder "wie in der Sowjetunion" gleichgesetzt und negativ bewertet wird.

Einen - allerdings sehr groben - Aufschluß über die Wohnqualität gibt die Verteilung der Zuwanderer auf die einzelnen Berliner Stadtbezirke. Die folgenden zwei Abbildungen zeigen den derzeitigen Anteil der Migranten in den einzelnen Bezirken - zunächst getrennt nach Ost- und Westteil der Stadt:

Auf Gesamtberlin bezogen sieht die Verteilung der Zuwanderer auf die Bezirke wie folgt aus:

In der Presse ist - wie schon einmal in den 20er Jahren - die Rede vom Westberliner Bezirk Charlottenburg als "Charlottengrad" (DER SPIEGEL 35/1995), dem Hauptansiedelungsort der "Russen" in Berlin. In der Tat hat dieser Bezirk den stärksten Anteil an neuzugewanderten sowjetischen Juden aufzuweisen, gefolgt von Schöneberg. Große Teile beider Bezirke zählen, ebenso wie die stark von Zuwanderern bewohnten Bezirke Wilmersdorf, Steglitz und Spandau, zu den mittleren bis guten Wohngegenden. Wohngebiete des gehobenen Mittelstandes, in denen jedoch relativ wenige Zuwanderer leben, wären in Westberlin z.B. Zehlendorf, in Ostberlin Treptow, Pankow und Köpenick. Die Bezirke mit der höchsten Konzentration an Ausländern in Berlin sind Kreuzberg (33 %), Neukölln (19 %) und Wedding (27 %); hier wohnen zusammen aber nur 20 % aller sowjetischen Juden. 6 % der Migranten haben Wohnungen in Marzahn, Hohenschönhausen und Hellersdorf, den ehemaligen Stadtrandbezirken, in denen zur DDR-Zeit weitläufige Plattenbausiedlungen entstanden (70).

Anders als in Westberlin, wo sich die Zuwanderer auf das gesamte (Kern-)Stadtgebiet verteilen, leben sie im Ostberlin entweder in diesen Neubaugebieten oder im östlichen Stadtzentrum – in Mitte und Prenzlauer Berg. Beide Bezirke waren schon zu DDR-Zeiten außerordentlich gemischte Wohngebiete mit einem hohen Anteil an Arbeitern, Künstlern und "Aussteigern" sowie einem besonderen Stellenwert von Nachbarschaft und Solidarisierung. Möglicherweise ist das höhere Toleranzpotential ein Grund dafür, daß sich nach der Vereinigung hier nicht nur sowjetische Juden, sondern Vertreter diverser Ethnien und Interessen ansiedel(te)n. Während die jüdischen Migranten aus den Neubaugebieten mit ihrem sozialen Konfliktpotential wieder abwandern, verändert sich das Stadtbild im östlichen Zentrum (besonders in Mitte) durch ihre Anwesenheit deutlich, in Form von Bistros, Galerien oder Läden. Inwieweit der für den Osten ungewohnt hohe Ausländeranteil, die soziale Polarisierung der Bevölkerung, die geplante Ansiedlung von Einrichtungen der Bundesregierung und die Aufwertung des östlichen Stadtzentrums durch den Bau von Geschäftsstraßen diese Situation wieder verändern wird, bleibt abzuwarten. Nach der jeweiligen örtlichen Lage und unter Hinzuziehung des Berliner Mietspiegels ergibt sich grob etwa folgendes Bild (Abb. nächste Seite), das den jeweiligen Wohnungszustand und die Belegung der Wohnung allerdings nicht berücksichtigt (siehe 4.1.4). Fast 2/3 der Zuwanderer ist es gelungen, Wohnungen in relativ beliebten Wohngegenden zu finden. Wie oben ersichtlich, war dazu häufig ein wiederholter Umzug notwendig, der meist ebenfalls innerhalb recht kurzer Zeit bewerkstelligt wurde. Für den Westteil der Stadt kann davon ausgegangen werden, daß kaum jemand in Substandard-Wohnungen lebt (unter der übrigen ausländischen Bevölkerung leben 17 % ohne Bad, WC oder Sammelheizung; vgl. Infratest 1995). Die nach der großen "Welle" 1990/1991 gekommenen Migranten ziehen es auch vor, länger in Provisorien zu leben,als Wohnungen in schlechtem Zustand oder schlechter Lage zu beziehen; besonders Ältere äußern nun häufiger den Wunsch, die Wohnung solle "für immer reichen" (71).

Über die Techniken der Wohnungsbeschaffung ist (besonders in bezug auf Mehrfachumzüge) wenig bekannt. Ihre erste Wohnung erhielten etwa 20 % der Zuwanderer von der Jüdischen Gemeinde bzw. über deren Verrmittlung. Nach eigenen Angaben bezogen ca. 30 % die erste Wohnung durch direkte eigene Bewerbungen bei Wohnungsgesellschaften, 5 % über Annoncen und 35 % durch Bekannte, Verwandte und Makler. Unter 10 % der Wohnungen wurden vom Wohnungsamt oder der Abteilung für Seniorenwohnungen angeboten. Für den Erstumzug war i.d.R. ein Wohnberechtigungsschein vorhanden. Der Bezug von Sozialhilfe ist für die Wohnungssuche zumindest bei gemeinnützigen Unternehmen kein Hindernis, u.a. weil die Mietzahlung relativ garantiert ist. So waren es auch meist Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus, die nach dem Heimaufenthalt bezogen wurden. Sie gelten unter den Zuwanderern zudem als kündigungssicher, anders als Wohnungen privater Träger, denen Willkür unterstellt wird. Die geronnenen Erfahrungen der Migranten in Bezug auf die bisherige sozial-räumliche Umwelt zeigen sich besonders in ihren Wohnpräferenzen. Für Einheimische erstaunlich, ziehen die meisten Zuwanderer innerstädtische Ballungsgebiete, Neubauwohnungen etc. begrünten ruhigen Stadtrandgebieten oder den meist großzügig geschnittenen, hohen Berliner Altbauwohnungen vor (die nach ihrer Meinung u.a. eher desolat sind). Anders auch als die eher ländlich geprägten Aussiedler, die - so berichten Studien einhellig - großen Wert auf das "eigene Häuschen" legen (was in Berlin ohnehin kaum realisierbar wäre), bevorzugen die jüdischen Migranten zentrale Orte und Hauptstraßen. Auch für Israel bemerkt Mertens (1993,S.165), daß Wohnungen in "Prestige-Vororten" von Großstädten abgelehnt werden, so als wären die Zuwanderer damit wie in der Sowjetunion von der Versorgung abgeschnitten. Neben der vermeintlich nicht vorhandenen Infrastruktur mag eine Rolle spielen, daß der neue Ortsbezug zunächst nicht an vertraute Bauten und Plätze gebunden ist, aber an die Nähe von Personen und Institutionen. Es verbinden sich keine "Gefühle" mit einem bestimmten Kiez, sondern es wird, besonders von Älteren, rational nach einer Überschaubarkeit des (auch räumlichen) Lebensumfeldes entschieden: Kurze Wege zum Sozialamt, die U-Bahn in unmittelbarer Nähe, die Tochter in der Nebenstraße usw. vermitteln eine gewisse Sicherheit. Zudem beschränkt sich ihr sozialer und räumlicher Aktionsradius sehr häufig auf die Achsen Supermarkt – Sozialbehörde – Arzt – Wohnung der Kinder (wenn vorhanden). Dabei entstehen freilich neue Raumbezüge, die sich bei älteren Zuwandern vorzugsweise an markanten räumlichen Punkten orientieren, u.a.weil viele weder deutsch sprechen noch lateinische Buchstaben lesen können. Die Frage "Wo wohnen sie?" wird sehr häufig ähnlich beantwortet, wie von der 70jährigen Soja:

"Wie die Straße heißt, kann ich mir nicht merken. Ich erkläre es, dann wissen Sie schon: Ich muß mit der grünen Linie [U-Bahn] fahren, bis zu der Station, wo der Blumenladen auf dem Bahnsteig steht. Dann gehe ich an dem großen Turm vorbei, dann an dem roten Haus um die Ecke und bei der Tankstelle links..".

Einige Zusammenhänge von Mobilität und Sozialstruktur, die oben (3.Kapitel) nicht nachweisbar waren, da u.a. Daten über eine geeignete seßhafte Vergleichsgruppe fehlten, zeigen sich bei Umzügen innerhalb der BRD bzw. Berlins: 1- bis 3-Personen-Haushalte wandern häufiger als jene mit mehr Mitgliedern, deren Immobilität oft durch den Mangel an großen Wohnungen diktiert wird. Migranten aus der europäischen UdSSR und Großstädten sind mobiler als jene aus dem asiatischen Teil (die gleichzeitig mehr Kinder haben) und aus weniger großen Städten. Eine Korrespondenz der Umzugshäufigkeit mit dem Beruf ist kaum erkennbar – Personen aller Berufsgruppen zeigen sich mobil. Allerdings ziehen Erwerbstätige bis jetzt proportional seltener um als Sozialhilfeempfänger (u.U. weil die mehr Zeit haben, sich mit dem Wohnungsmarkt zu befassen). Ein Zusammenhang zwischen Mobilität und Alter ist ebenfalls kaum erkennbar, es beteiligen sich Migranten aller Altersstufen an den Umzügen. Bei alten Menschen spielt jedoch der Gesundheitszustand eine wesentliche Rolle; behinderte Ältere "sitzen" besonders lange im Wohnheim und können ihre Situation häufig nur durch massive Fremdintervention ändern. In der Kombination mit dem Geschlecht sind es geringfügig weniger jüngere Frauen als jüngere Männer und ältere Frauen als ältere Männer, die wiederholt umziehen. Lediglich in der Verbindung Alter – Familienzyklusereignis zeigt sich ein enger Zusammenhang bei lokalen Umzügen: mit der Veränderung des Raumbedarfs durch Heirat, Geburt oder Scheidung wurde häufiger die Wohnung gewechselt.

Der Zusammenhang mit der Stärke des Bezugs zur jüdischen Kultur/Religion ist ebenfalls schwach. Bei interregionalen Umzugswünschen wird häufig die Nichtexistenz einer Jüdischen Gemeinde/ am bisherigen Wohnort moniert (i.d.R., wenn die Betreffenden sich bei der Gemeinde als wohnungssuchend vorstellen), was sich nach erfolgtem Umzug jedoch selten in verstärkter Teilhabe am Gemeindeleben widerspiegelt. Die Wanderungen nach Berlin erfolgen wegen der gesuchten Nähe zu Bezugspersonen, der vorhandenen Infrastruktur/Netzwerke sowie in Erwartung besserer Chancen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, weniger infolge der Unterordnung unter tatsächliche Erfordernisse des Arbeitsmarktes, wie es bei anderen Ausländern meist der Fall ist (de Riz 1979). Die Umzüge im kleinräumlichen Bereich dien(t)en dann der (u.U. weiteren) Verkürzung der räumlichen Distanz zu Angehörigen und dem Bezug einer besseren, größeren oder zentraler gelegenen Wohnung (und partiell bereits der "äußeren" Statuserhöhung). Mit dem Finden einer den eigenen Vorstellungen entsprechenden Wohnung steigt bei vielen die Zufriedenheit insgesamt. Der Wohnbereich genießt außerordentlich hohe Wertschätzung als Nische, für die Kommunikation mit anderen und als einer der wenigen wirklich selbstbestimmten Bereiche in der neuen Umgebung.

4.1.4 Familie, Sozialbeziehungen und das "russische" Berlin

Für das Einleben der Migranten in der neuen Umgebung ist nicht unwesentlich, ob sie allein oder mit Familie gekommen sind, mit wem sie zusammen wohnen, ob sich in ihrem Zusammenleben Veränderungen ergeben haben und über welche sozialen Beziehungsnetze sie verfügen. Die Auswertung der Datensätze ergab für den formellen Familienstand der Zuwanderer zum Zeitpunkt ihrer jeweiligen Einreise zunächst folgende Anteile:

Familienstand bei der Einreise

Personenzahl
(v.4.006 /1.12.95)

von 100 %
aller ca:

von 100% der
Volljährigen c

Verheiratet 1.990 50 % 58 %
ledig 1.212  30 % 18 %
geschieden 406  10 % 12 %
verwitwet 398 10 % 12 %

Etwa die Hälfte der gesamten Zuwanderergruppe war bei der Einreise verheiratet (ca.10 % davon in einer 2.Ehe). Abzüglich der Minderjährigen liegt der Anteil Verheirateter bei 58 %, der Lediger bei 18 % und der Geschiedener und Verwitweter jeweils bei ungefähr 12 % aller volljährigen Personen (72). Verwitwete Zuwanderer sind hauptsächlich in der Altersgruppe der über 65-jährigen zu finden und hier zu etwa 70 % Frauen. Ein Teil dieser Frauen hat ihren Partner bereits während des 2. Weltkrieges verloren und danach nicht wieder geheiratet. Geschiedene Migranten überwiegen in der Gruppe der 30 - 50jährigen. Die Zahl ist angesichts der hohen Scheidungsrate in der Sowjetunion noch relativ niedrig, erhöht sich aber entsprechend, werden die Wiederverheirateten dazugerechnet.

Interessanterweise reiste ein Teil der Zuwanderer mit seinem geschiedenen Partner ein. Daneben ziehen verstärkt Personen zu, die nach einer Scheidung oder dem Tod eines nahen Familienmitglieds in der GUS allein geblieben sind und hier bereits Angehörige haben. Die jeweilige Gesamtgröße der eingereisten Familien - gemessen an miteinander verwandten Personen - ist quantitativ nicht genau feststellbar, da einzelne Familienmitglieder zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingereist sind und häufig nicht zusammen wohnen. Während in andere Bundesländer im Rahmen des geregelten Verfahrens sehr oft ganze Familienverbände zusammen einreisen und untergebracht werden, erfolgte der Zuzug nach Berlin oft stufenweise: zunächst reisten Alleinstehende oder Ehepaare mit Kindern ein und verbliebene Familienmitglieder ("alte" Eltern, Geschwister) kamen später nach.

Die Stuttgarter Untersuchung (IRG 1994, S.12), die auf den Zahlen der dort in Wohnheime eingewiesenen Familien beruht, errechnete 29 % Alleinstehende, 17 % 2-Personen-Familien (i.d.R. Ehepaare), 30 % Familien mit 3 Personen (hier meist die typische 1-Kind-Familie, die auch in Berlin überwiegt) und 24 % Familien mit 4 - 7 Personen (vorrangig 3-Generationen-Konstellationen) (73). Für die Berliner Zuwanderer näher feststellbar sind die Größen ihrer Privathaushalte - gemeint sind hier alle Personen, die zusammen in einer Wohnung leben. Für sie ergibt sich derzeit folgende Verteilung:

Die Haushalte mit nur einer Person (29 %) setzen sich bei den Zuwanderern zu einem erheblichen Teil aus älteren verwitweten Frauen und jüngeren alleinstehenden Männern zusammen. Einen Teil dieser Gruppe machen auch geschiedene und getrennt lebende Zuwanderer aus sowie Personen, deren Partner noch nicht eingereist ist. Migranten aus dem asiatischen Teil der Sowjetunion wohnen dabei signifikant seltener allein, als solche aus dem europäischen Teil. Ähnliche Beobachtungen wurden in Österreich gemacht, wo bedeutend mehr orientalische Juden leben als in Deutschland (Friedmann 1993, S.78). Die 2-Personen-Haushalte - mit 33 % anteilig die größte Gruppe - bestehen nicht nur aus Ehepaaren, sondern auch aus alleinerziehenden Müttern, Vätern und Großelternteilen (ca. 15 % aller Haushalte mit Kindern), Geschwistern oder anders miteinander verwandten Personen. In den 3-bis über 6-Personen-Haushalten wohnen neben minderjährigen Kindern bei ihren Eltern ebenso Eltern bei ihren volljährigen Kindern. Diese 2- oder 3-Generationen-Situation betrifft z.Zt. etwa 25 % aller Mehrpersonenhaushalte. Es sind meist orientalische Familien oder Personen, die über die Berliner Sonderregelung für Verwandte (siehe 2.2.) nach Berlin gekommen sind (zur Jahresmitte 1995 waren dies bereits 23 % aller direkt eingereisten Zuwanderer seit 1990); da sie einen schlechteren Aufenthaltsstatus und keinen Anspruch auf einen Wohnheimplatz haben, wohnen sie zunächst bei Verwandten.

Die Angaben zu den Haushaltsgrößen beruhen auf der bei der Jüdischen Gemeinde jeweils gemeldeten Zahl der Haushaltsmitglieder, die nicht immer korrekt angegeben wird. Zweckwohngemeinschaften von nicht miteinander verwandten Personen und Lebensgemeinschaften machen in der Statistik beispielsweise lediglich 2 % aus. In der Praxis leben z.T. erheblich mehr Personen in den einzelnen Haushalten - neben Verwandten sind dies häufig auch Bekannte/Freunde, die sich mit verlängerten Touristenvisa, ohne Zuzugsgenehmigung oder "nichtoffiziell" in Berlin aufhalten.

Insgesamt haben sich die Haushaltsgrößen der zu Beginn der Migrationswelle Eingereisten jedoch gegenüber dem Pretest 1993 bereits verkleinert.74 Kinder sind aus der elterlichen Wohnung ausgezogen und Verwandte mit vorher unsicherem Aufenthaltsstatus konnten eigene Wohnungen beziehen. Die Migration war für viele Familien eine zu starke Belastung, häufig wollte auch nur einer der Ehepartner ausreisen (siehe 2.3, 4.2.3); mit längerer Aufenthaltsdauer und zunehmender Orientierung und materieller Sicherheit steigt nun auch die Zahl derer, die sich hier - z.T. nach einer langen Ehe - trennen:

"Ich bin vor fünf Jahren gekommen, mit Frau und Tochter. Wir waren lange im Wohnheim. Es war verrückt, wir haben uns gestritten, ich hab auch etwas getrunken. Da bin ich abends immer in diese Kneipen gegangen, wo alle möglichen Russen sitzen. Wir haben uns scheiden lassen. Ich bin ausgezogen." (A., Ingenieur, 44)

Häufig kommt es bislang aber nicht zu einer Scheidung, u.a. aufgrund des hier langwierigeren und kostspieligeren Scheidungsverfahrens. Um dieses zu vermeiden, lassen sich einige Zuwanderer in der ehemaligen UdSSR scheiden. Dabei fällt auf, daß nach der Einreise Geschiedene z.T. weiter zusammen wohnen. Drei Hauptgründe werden dafür genannt: Kostenersparnis, weil keine alternative Wohnung gefunden wurde oder weil man zwar nicht mehr miteinander verheiratet sein will, jedoch in der fremden Umgebung zunächst die weitere Nähe zum vertrauten früheren Partner einer räumlichen Trennung und der Isolation vorzieht.

Eheschließungen nach der Einreise sind noch relativ selten und finden dann meist in der Gruppe der etwa 18 - 30jährigen statt, aber auch bei einigen Migranten mit bereits erwachsenen Kindern (75). Geheiratet wird bis jetzt ausschließlich zwischen Zuwanderern, die nicht unbedingt der jüdischen Gruppe, wohl aber der russischsprachigen angehören.

Es existiert neben einer offiziellen Single-Gruppe in der Jüdischen Gemeinde (die hauptsächlich aus älteren alleinstehenden Migranten-Frauen besteht) ein informeller "Heiratsmarkt". Bei den Migranten aus dem asiatischen Teil der ehemaligen Sowjetunion ist es daneben durchaus üblich, eine (meist jüdische) Frau dort oder in Israel zu suchen, zu heiraten und nachträglich einreisen zu lassen. Sie sind es auch hauptsächlich, denen die in der Jüdischen Gemeinde registrierten Geburten von Neuzuwanderern seit 1990 zu verdanken sind: Soweit von den Eltern gemeldet, erhöhte sich die Geburtenzahl von 5 Geburten 1990 sukzessive auf 21 Geburten im Jahre 1995 (siehe 5.1).

Diese jungen Familien bemühen sich ebenfalls, aus dann meist überbelegten Wohnungen auszuziehen. Daneben spielt für die "Schrumpfung" der Haushaltsgrößen eine Rolle, daß die Großfamilien in der Sowjetunion häufig Notgemeinschaften waren, in denen mehrere Generationen wegen Wohnraummangels in einem Haushalt lebten (vgl. Mertens 1993,S.86) (76). Hier nun zeigt sich der Wunsch nach einer räumlichen Trennung hauptsächlich der Kinder von den Eltern. Lebten diese in der Sowjetunion häufig bis zu ihrem Tod bei der Familie, wird hier oft sehr schnell versucht, die Eltern in Seniorenwohnungen oder -heimen unterzubringen (durchgängig ausgenommen die orientalischen Familien). Familiensolidarität ist keine notwendige Verpflichtung mehr, da wohlfahrtsstaatliche Leistungen (Heimunterbringung, Pflegeversicherung etc.) auch für die Älteren greifen.

Während die Kinder außerfamiliäre Möglichkeiten schnell annehmen, ist es für viele Eltern problematisch, sich auf diese neue Situation einzustellen; häufig sind sie ja nur wegen ihrer Kinder nachgezogen und um nicht allein zu sein (siehe 4.2.3). Ähnlich wie es einen scharfen Bruch bei der Beendigung des Berufslebens für die Älteren gibt (der bei Jüngeren u.U. mit einer neuen Arbeit aufgefangen werden kann), gibt es für sie kaum gleitende Übergänge, wenn es um eine (räumliche) Trennung von der Familie geht. Häufig trennt sich zeitgleich mit dem Auszug aus dem Wohnheim auch die Familie - Eltern ziehen in ein Seniorenheim oder eine - wohnung, die Kinder in eine andere Wohnung.

Das unterschiedliche Tempo des Einlebens verändert jedoch auch die Stellung der einzelnen Generationen innerhalb der Familie. Dem beschleunigten Lebensrhythmus der Jüngeren steht ein verlangsamter der Alten gegenüber, der besonders durch ihr kalendarisches Alter, d.h. die Beschränkung ihrer individuellen Möglichkeiten (u.a. in bezug auf Arbeit) in der hiesigen Gesellschaft bestimmt wird. Zudem haben sie häufig massive Sprach- und Orientierungsprobleme, sind isoliert oder werden lediglich als Kinderbetreuer von ihren Familien benutzt. Sie erleiden Autoritätsverluste und können die neuen Normen/Werte, die das Verhalten ihrer Kinder und Enkel z.B. bezüglich Konsum und Erziehung bereits zu bestimmen beginnen, nicht nachvollziehen (siehe auch 4.2.3).

"Es hat sich viel geändert. Tagelang sehen wir hier niemanden. In Moskau hatten wir ein offenes Haus. Man kam einfach so vorbei. [..] Bei den Deutschen muß man sich anmelden, am besten zwei Wochen im voraus. Sie sind anders, nicht so spontan und herzlich. Meine Kinder haben das schon übernommen. Sie haben auch keine Zeit mehr. Sie organisieren und planen und schon ist der Tag um." (M., Rentner, 75)

"Boris [der Enkel] hört mir überhaupt nicht mehr zu. Früher war er immer nett, er war doch ein guter Schüler und es kamen nie Klagen. Er wird immer frecher und kauft sich extra zerrissene Hosen, aber das interessiert die Lehrer gar nicht. Man schämt sich richtig. Bei mir darf er so nicht herumlaufen." (F., Rentnerin, 63)

"Wenn ich diese jungen Stiere sehe, wie sie zum Sozialamt marschieren. Ich sag ihnen: 'Was sitzt ihr herum?' Das Geld [die staatliche Hilfe] macht die Leute kaputt. Und es wird auf uns alle zurückfallen.Wie kann man denn so leben. Das Materielle ist nicht alles.[..] Ich brauche gute Musik, gute Gespräche - das ist es, nicht das materielle. Aber wer redet schon noch mit mir." (G., Rentnerin, 76)

Auch wenn der Wunsch nach einer räumlichen Trennung von den Eltern mit steigender Aufenthaltsdauer immer deutlicher wird - was daneben am mangelnden Angebot großer Wohnungen liegt, in denen mehrere Generationen zusammenleben könnten - ist insgesamt auffällig, daß die Migranten danach streben, dennoch weiterhin in der Nähe von Verwandten und Freunden zu leben. Durch die Verteilungspolitik einiger Berliner Wohnungsbaugesellschaften (etliche neugebaute Häuser sind fast ausschließlich von Zuwanderern bewohnt) sowie die Vergabe von Wohnungen durch die Jüdische Gemeinde (deren Wohnhäuser sich auf bestimmte Straßenzüge beschränken) wird diese partielle Segregation unterstützt.

Ob dies langfristig zum Hindernis für eine Eingliederung wird, bleibt abzuwarten; enge Kontakte zwischen den Migranten können ebenso ihre Voraussetzung sein und räumliche Segregation kann durchaus auch unabhängig von sozialer (kultureller, sprachlicher etc.) Segregation bestehen. Amerikanische Studien zeigen, daß ehemalige sowjetische Juden auch in den USA vorzugsweise distanziert "unter sich" wohnen, andererseits aber deutlich höhere Positionen als andere Einwanderergruppen auf der Ressourcendimension einnehmen (betr. Einkommen, beruflicher Position, Bildung, Wohnen), d.h. sie dringen über ihre spezifischen Handlungsdispositionen leichter als diese in das Statussystem ein und verbleiben als Folge von externen Distanzierungen und internen Bindungen deutlich segregiert (vgl. in Esser 1980,S.167).

Zu diesen internen Bindungen gehört "die ungewöhnliche hohe Bedeutung von Freundschaft und Zuneigung in den persönlichen Beziehungen", die Studien in Israel den ehemaligen Sowjetbürgern attestierten und hierbei zwei Bezugssysteme erkannten: "der innere Kreis mit Familie und Freunden und der äußere Kreis der Bekannten und Arbeitskollegen" (in Mertens 1993,S.135).

Der Telefon- und Briefverkehr der Migranten mit Freunden und Verwandten in der GUS ist stark ausgeprägt; auch Besuche dort sind häufig. Die älteren Migranten möchten vorwiegend die Gräber ihrer Angehörigen besuchen; am meisten reisen jedoch die 40 - 50jährigen (u.U. auch wegen geschäftlicher Interessen); am uninteressiertesten an Besuchen in der früheren Heimat sind die bis etwa 25jährigen. Einige Zuwanderer äußern auch, das Land nie wieder betreten zu wollen.

Für alle spielt jedoch die Kommunikation mit Verwandten und Bekannten innerhalb Berlins eine überragende Rolle - in Form von gegenseitigen Besuchen, Familien- und Geburtstagsfeiern, die meist im häuslichen Bereich stattfinden, in Abhängigkeit vom Einkommen und bei Längeransässigen auch in - z.T. eigens angemieteten - Lokalen (77).

Bei den gegenseitigen Beziehungen unter den Migranten gibt es jedoch recht scharfe Abgrenzungen. DER SPIEGEL schreibt: "Die Nachfahren [der in den 20er Jahren nach Berlin exilierten Russen] haben keine Mission, sie kämpfen um nichts, außer für sich selbst. Entsprechend zersplittert ist die russische Intellektuellen-Szene. Sie zerfällt in Küchenklubs und halböffentliche Zirkel.[..] Untereinander haben die Gruppen keinen Kontakt" (3/1995 S.63f) - nach Meinung der Zeitung, um dem "sowjetischen Geist" zu entgehen, vor dem sie geflohen seien und der sie hier an einigen Orten wieder einzuholen scheine (ebd.). In Berlin hat sich z.B. eine jüdische Gruppe der "Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges" gegründet. Der Initiator - ehemals Parteisekretär eines großen Kombinates - organisiert Ausflüge, Diskussionsabende und will mehr Rechte für sowjetische Kriegsinvaliden in der Bundesrepublik durchsetzen. Andere Migranten beobachten dies skeptisch:

"Da fragst Du Dich, was wollen die hier. Erst haben sie gegen die Deutschen gekämpft und jetzt sitzen sie alle hier, behängt von oben bis unten mit Orden und trinken Wodka. Vom Judentum wollen sie nichts wissen. Die schwärmen von alten Zeiten. Das sind doch alles Kommunisten." (I., Ingenieurin, 41)

Ideologische Differenzen oder Beschuldigungen als einzigen Grund bzw. Hauptgrund für gegenseitige Abgrenzungen anzunehmen, wäre jedoch unkorrekt. Auch in den Schulen bilden die Schüler Leningrader, Moskauer oder Dnepropetrowsker Cliquen und bei Veranstaltungen distanziert sich (z.B.) die intellektuelle Oberschicht deutlich von anderen. Die sowjetischen Juden bestehen aus einer Vielzahl von Gruppen, sie kommen aus verschiedenen regionalen und sozialen Kontexten, haben unterschiedliche Interessen und sehen sich selbst nicht als homogene Gemeinschaft an (wie sie es bereits in der Sowjetunion nicht taten); dies geschieht eher aus der "Außensicht" der Einheimischen).

Intensive Kontakte bestehen in der neuen Umgebung dennoch meist nur zwischen ehemaligen Sowjetbürgern und haben hier häufig Stütz- und Orientierungsfunktionen. Die Kontakte mit Deutschen nehmen hingegen auch bei steigender Aufenthaltsdauer kaum zu. Selbst Migranten, die bereits zehn bis zwanzig Jahre in Berlin leben, haben nur sehr oberflächliche Beziehungen zu ihrer deutschen Umgebung.

Die Kontakthäufigkeit und -intensität zu Deutschen wie die Aktionsräume der Migranten hängen von Sprachkenntnissen, beruflichen Voraussetzungen, Gelegenheiten, Bedürfnissen, vom Alter, dem Vorhandensein von Kindern usw. ab und davon, ob die Umgebungsgesellschaft einer Interaktion positiv gegenübersteht.

"Ich habe eine Umschulung als Kaufmann gemacht. Jetzt bekomme ich wieder Sozialhilfe. Für Russen will ich nicht arbeiten. Der Handel mit Rußland hat doch keine Perspektive. Ich suche etwas, wo ich aufsteigen kann, eine deutsche Firma. Ich glaube, ich bin gut, ja. Aber bisher hat mich keiner genommen." (I., früher Fotograf, 33)

Migranten mit häufigeren Kontakten zu Deutschen sind Personen aus dem Kunst- und Medienbereich, vereinzelt alleinstehende Jüngere, Eltern mit Kindern in deutschen Kindergärten oder Schulen und die betreffenden Kinder selbst sowie die wenigen Zuwanderer, die eine Arbeit bei deutschen Arbeitgebern gefunden haben. Aber auch hier beschränken sich die Beziehungen fast ausschließlich auf den schulischen oder beruflichen Bereich und werden nicht auf die Freizeit ausgeweitet.

Die häufigsten und oft einzigen Kontakte sind formeller Art und bestehen zu deutschen Institutionen, an erster Stelle zum Sozialamt, zur Ausländerbehörde und zum Arbeitsamt. Diese Behördenkontakte sind für die meisten unbefriedigend; die Arbeit der Ämter bzw. die Mitarbeiter werden als unfreundlich, bürokratisch und restriktiv wahrgenommen (ähnlich bei Friedmann für Österreich; 1993, S.127):

"Keiner schaut dich an oder sagt 'Guten Tag', nur: 'Was willst du hier, geh zurück nach Rußland'. Man wartet den ganzen Tag und dann sagen sie, du sollst wieder gehen. Die schicken einen nur hin und her. Wir sind für die Abschaum. Ich schlafe tagelang nicht, wenn ich da hin [Sozialamt] muß."(B., Restauratorin, 45)

Obwohl sich der Eindruck, diskriminiert zu werden, meist auf Behörden oder Arbeitgeber bezieht, und u.a. in 45 Interviews, die für diese Untersuchung geführt wurden, nur zweimal von engeren Beziehungen zu Deutschen berichtet wurde, werden "die Deutschen" insgesamt eher negativ beurteilt. Während (vermeintliche oder tatsächliche) Eigenschaften wie Weltgewandtheit, Disziplin oder "technischer Verstand" bewundert werden, wird ihnen ansonsten am häufigsten Gleichgültigkeit, Arroganz, Egoismus oder Humorlosigkeit zugesprochen.

"Sie sind anders als wir. Sie denken, sie sind besser, dabei fehlt ihnen die Seele. Sie sind verkniffen, kalt. [..] Wenn wir feiern, kommen sie sofort und beschweren sich laut und böse. Sie verstehen unsere Kultur nicht. Das ist für mich das Wichtigste, was ich habe. So wie die sind, will ich nicht sein." (A., Dreher, 52)

Mißverständnisse, Vorurteile und Schwellenängste bestehen auf beiden Seiten (siehe 4.2.2); zur Abgeschlossenheit der Gruppe trägt jedoch maßgeblich bei, daß sich in Berlin inzwischen beinahe eine Art "ethnic community" (u.a.Eisenstadt 1954) oder "ethnische Kolonie" (Heckmann 1992) herausgebildet hat, die selbstorganisiert und weitgehend unabhängig von außen ist. A., Friseuse, 36 Jahre:

"Zeig mir einen [Migranten], der zu einem deutschen Friseur geht. Sie können nicht richtig mit denen reden und außerdem ist es teurer. Ich bin billiger und komme nach hause. [..] Was sollen sie sich mit den Deutschen rumärgern oder mit dem Arbeitsamt. Sie arbeiten bei den Leuten, die vor zwanzig Jahren gekommen sind. Die zahlen nicht gut, aber es funktioniert, man verständigt sich. [..] Das ist doch ganz einfach: Wenn ich Fisch brauche, gehe ich zu Mirkin [jüdischer Fischhändler], wenn ich mich ausheulen will, gehe ich zu Olga, wenn ich Ärger mit der Hausverwaltung habe, komme ich zu Euch [Sozialberatung Jüdische Gemeinde]. [..] Mein Deutsch ist nicht schlecht, aber wann brauche ich das? Politik interessiert mich nicht. Wenn ich Deutsche kennenlerne, gut, wenn nicht, auch gut. Ich habe meinen Kreis. Ich habe russisches Fernsehen, will ich ausgehen, kann ich das jeden Tag. Hier treten alle irgendwann auf, die ich von früher kenne."

Berlin ist die einzige Stadt in der Bundesrepublik mit einer derartig ausgeprägten "Kolonie". DER SPIEGEL zählt 70.000 bis 100.000 ehemalige Sowjetbürger (allerdings mit deutschen Aussiedlern) in der Stadt und konstatiert, die Migranten hätten sich "in der fremden Großstadt ein kleines Rußland aufgebaut" (35/1995,S.61).

Berlin bot dazu ideale Ausgangsbedingungen. In beiden Stadthälften lebten bereits früher viele ehemalige Sowjetbürger; die Migranten konnten in Ostberlin auf weiterbestehende Einrichtungen der DDR zurückgreifen (z.B. Haus der sowjetischen Kultur; Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft, russischsprachige Bibliotheken) und in Westberlin auf informelle Verkehrskreise, auf Angebote etablierter Migranten in bezug auf Dienstleistungen (Ärzte, Dolmetscher, Rechtsanwälte usw.) oder als Arbeitgeber (in Handelsfirmen, Spielhallen, Läden, Arztpraxen). Hinzu kam die institutionell starke Jüdische Gemeinde, die ihre Einrichtungen und Möglichkeiten den neuen Migranten öffnete (Kindergarten, Schule, Seniorenheim, Krankenhaus, Sozialberatung, Wohnungen, Arbeitsplätze usw.).

Im Zuge der Masseneinwanderung seit dem Berliner Mauerfall hat sich nicht nur die Zahl der russischsprachigen Migranten sprunghaft erhöht, sondern vor allem ist die "Verwandtschaftsdichte" (Heckmann 1992) infolge der Kettenwanderung enorm gestiegen und wurden Beziehungen (auch von ehemaligen Nachbarn, Kollegen, Freunden) aus dem Herkunftskontext nach Berlin "verpflanzt" - für einige orientalische "Berliner" Familien sind familiäre Netzwerke mit jeweils mehr als 50 Personen nachweisbar.

Infolgedessen wurden die Formen der Selbstorganisation stark ausgebaut, die für die Migranten nicht nur Selbsthilfe in sozio-ökonomischer Hinsicht und gegenüber der relativ geschlossenen Mehrheitsgesellschaft sind, sondern auch eine Funktion für die Persönlichkeitsstabilisierung und den Vergleich mit anderen haben. Auch wenn das "kleine Rußland" (in dem Nicht-Russen die Majorität sind) nicht an die institutionelle Vollständigkeit des russischen Vorkriegsberlin anknüpfen kann und sich auf bestimmte Gegenden konzentriert, kann es in seiner Gesamtheit inzwischen die meisten Bedürfnisse decken; umso verständlicher wird, daß Migranten gerade nach Berlin zuziehen wollen.

Es existiert bislang keine vollständige ethnische (Dienstleistungs)Ökonomie, jedoch eine "Ergänzungsökonomie" (Heckmann 1992), die auf die spezielle Nachfragen der Migranten reagiert und von einheimischen Anbietern nicht gedeckt wird (z.B. Verleih/Verkauf russischsprachiger Videos, Bücher, Computersoftware; Export/Import, Versicherungen, Makler, Übersetzungsbüros), sowie eine "Nischenökonomie" (Heckmann 1992), die gleichzeitig auf die Nachfrage der Umgebungsgesellschaft zielt, z.B. Lebensmittelhandel, Schuster-, Schneider-, Reparaturwerkstätten, Reisebüros, Galerien, Restaurants und Imbisse.

Den Bedürfnissen in der Migrationssituation und der eigenen Interessenvertretung in der unterlegenen Position der Majorität gegenüber, dienen verschiedene Vereinsgründungen wie der "Club Dialog e.V.", "russki Berlin e.V." oder die "Gesellschaft der Wissenschaftler", die seit Januar 1996 emigrierten sowjetischen Akademikern den Einstieg in die Wissenschaftssphären der Bundesrepublik erleichtern will.

Einrichtungen, die Arbeitsplätze geschaffen haben und denen gleichzeitig für die weitere kulturspezifische und religiöse Sozialisation Bedeutung zukommt, sind bei der Russisch-orthodoxen Kirche z.B. die "Sonntagsschule" (wo Kinder Russisch lernen können) und auf der "jüdischen Seite" ein Jüdisches Migrantentheater und Vereine mit Beteiligung von Migranten wie der Jüdische Kulturverein (dazu weiter siehe 5.Kapitel).

Daneben entstanden seit 1990 in Berlin im Zuge hauptsächlich der jüdischen Migration u.a. das "Russische Kulturprogramm" (2 mal wöchentlich im Lokalfernsehen ausgestrahlt), eine tägliche russischsprachige Radiosendung (SFB-Multikulti-Kanal), die erste russischsprachige Wochenzeitschrift für Emigranten nach dem Krieg ("Evropa-centr") und die Literaturzeitschrift "Ostrov". Neben Büchern auf Russisch existieren inzwischen auch Gemeinschaftsproduktionen wie die in Ludwigshafen von Aussiedlern, Russen, sowjetischen Juden und Deutschen herausgegebene russisch- und deutschsprachige Monatszeitschrift "Neues Leben - JSPZFP".

Besonders diese Zeitungen belegen die Bedürfnisse und Probleme der russischsprachigen Migranten bzw. die Bereiche, auf die sie sich spezialisiert haben: Sie sind zum einen ein "Readers Digest" von Zeitungen aus der Heimat und der Bundesrepublik, befassen sich u.a. mit Fragen des deutschen Rechtssystems (z.B. Versicherungen), dem problematischen Zusammenleben mit Deutschen und von russischsprachigen Ethnien in Deutschland untereinander und haben große Annoncenteile.

Neben der Offerierung von Dienstleistungen und Waren aller Art, fallen die vielen Anzeigen hiesiger russischer Reisebüros (Flugtickets, Visaerledigung in alle Teile der früheren UdSSR etc.) und die Heiratsannoncen besonders auf: meist wird hier entweder allgemein ein(e) russischsprachige(r) Partner(in) gesucht oder es geht recht eindeutig um eine Wohnortverlegung, d.h. eine Person mit Noch-Wohnsitz in der GUS "möchte jemanden mit ständigem Wohnort in Deutschland kennenlernen" (u.a. "Neues Leben - Kurier" 2/96).

4.2 Psychosoziale Aspekte

Die Art der Sozialbeziehungen der Migranten deutet an, daß sich mit dem Wechsel ihrer soziokulturellen Umgebung mehr als nur ihre "objektiven" Lebensumstände geändert haben. So beziehen sich die folgenden Abschnitte auf einige Probleme und Fragen, die im weitesten Sinne den emotionalen, kognitiven, ethnisch-moralischen/religiösen Bereich betreffen - das Verhältnis zwischen Umgebungsgesellschaft und Migranten, den Umgang mit Identitäts- und Biographiebrüchen, neuen Lebenssituationen, Werten und Normen. Die Ausführungen basieren auf Interviews und Einzelaussagen von Zuwanderern, auf Beobachtungen, die in der Sozialarbeit der Jüdischen Gemeinde gemacht wurden und der Auswertung entsprechender Literatur.

4.2.1 Zur Stellung der Migranten als Juden und Ausländer

Der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung in Deutschland beträgt trotz der Zuwanderung bislang nur etwa 0,1 %. Trotz der geringen Zahl in Deutschland lebender Juden und obwohl (oder gerade weil) nur wenige Nichtjuden persönliche Kontakte zu Juden haben, halten sich antisemitische Einstellungen hartnäckig und äußern sich partiell auch in manifester Diskriminierung.(78)

Fünfzig Jahre nach dem Ende des "Dritten Reichs" können sich lt. Forsa nur 54 % der (1.509 befragten) Deutschen einen Juden als Bundeskanzler vorstellen, halten 63 % "Geschäftstüchtigkeit" noch immer für das hervorstechende Merkmal von Juden und sind (neben 15 % Unentschlossenen) 41 % gegen die weitere Aufnahme von Juden aus der Ex-UdSSR (Die Woche 26.1.1996).

Daß über die Hälfte der Befragten der jüdischen Einwanderung ambivalent oder ablehnend gegenüber steht, muß für sich gesehen nicht auf eine judenfeindliche Haltung schließen lassen, wohl aber auf den Wunsch, den Zuzug von Ausländern zu stoppen - ein Konsens, den weite Teile der Bevölkerung teilen.

Die Gleichgültigkeit oder Ablehnung gegenüber "Fremden" ist nicht zuletzt Ergebnis einer politischen Kultur, die sich an unrealistischen Forderungen ("Einwanderung für alle") Linker wie dem "Daueralarm" professioneller Ausländer-/Judenfreunde einerseits und einem enttabuisierten Rechtspopulismus andererseits polarisiert, der vor dem Hintergrund sozialer Krisen und von Überfremdungsangst imaginäre überschrittene Ausländerquantitäten beschwört und "Blut-und- Boden-Logik" propagiert.

Dennoch konnten sich auch die Befürworter einer Abschottungspolitik nicht leisten, die Aufnahme sowjetischer Juden abzulehnen und die - für "unsere jüdischen Mitbürger" - sensibilisierte Öffentlichkeit oder diese selbst zu provozieren. Die Haltung zu Juden wurde in der Bundesrepublik instrumentalisiert und funktionalisiert; das Verhältnis zu ihnen gilt als Gradmesser für "bewältigte" Vergangenheit, politische Seriösität und aufgeklärte, tolerante Einstellungen gegenüber Minoritäten, selbst wenn die Grundlagen von Antisemitismus und Xenophobie nicht prinzipiell in Frage gestellt werden oder Abneigungen gegen Juden/Ausländer weiterbestehen.(79)

Die jüdische Einwanderung wurde so aus einer "Verantwortung der deutschen Geschichte gegenüber" (siehe 2.2) und zeitgleich mit den emotional aufgeheizten Debatten um die Novellierung (Verschärfung) von Ausländer- und Asylgesetz, stillschweigend toleriert und geregelt. Die Aufnahme jüdischer Migranten ist begrüßenswert, jedoch führt sie eine Ausländerpolitik einmal mehr ad absurdum, die mit zweierlei Maß mißt und in diesem Fall die Opfer von einst bzw. deren "Stellvertreter" oder Nachfahren nunmehr besser als andere "Fremde" behandelt (was leicht auch ins Gegenteil umschlagen kann). Aber gleichzeitig verweisen die ausgesprochen schleppende Bearbeitung der Einreiseanträge, die Abweisung von Personen, die außerhalb des offiziellen Verfahrens einreisen (d.h. daß quasi der Antragsweg über Bedrohung/Nichtbedrohung, Aufnahme/Nichtaufnahme entscheidet) und ausländerrechtliche Beschränkungen auf die Halbherzigkeit der Entscheidung und die ethnienübergreifende Abwehrhaltung der aktuellen Migrationspolitik (siehe 2.2).

Für die Migranten selbst sind die Diskrepanzen im Umgang mit Ausländern/Juden in der Bundesrepublik weniger ein politisches als ein praktisches Problem. Ihr gleichzeitiger Status als Juden und Ausländer macht sie in doppelter Weise zum möglichen Zielobjekt von Diskriminierungen. Als Juden äußerlich nicht erkennbar, werden sie zunächst eher als Ausländer mit Ablehnung konfrontiert:

"Daß Deutschland vor allem in den letzten Jahren antisemitisch geworden ist, weiß ich vom Hören. Daß es ausländerfeindlich ist, weiß ich aus eigener Erfahrung, zum Beispiel wenn man in Restaurants anders bedient wird als die Deutschen, weil man nicht so gut Deutsch spricht. [..] Das ging gleich am Anfang los. Kaum war ich angekommen, haben mich irgendwelche Leute abschätzig angesehen und gemeine Bemerkungen gemacht." (G., Lehrerin, 34)

Besonders häufig berichten Migranten, deren Aussehen sich von durchschnittlichen Mitteleuropäern unterscheidet, von verbalen oder tätlichen Angriffen. Der Grad der Sprachbeherrschung scheint relativ unerheblich zu sein, da sowohl Zuwanderer, die schlecht deutsch sprechen, als auch solche, die lediglich noch an einem Akzent als Ausländer zu erkennen sind, Diskriminierungen erfahren.

Mit steigender Aufenthaltsdauer nimmt die Zahl von rassistisch oder antisemitisch motivierten Vorfällen zu. Zunächst sind es häufig Ereignisse, die mit dem Leben im Wohnheim zusammenhängen (Angriffe von Personen aus der Umgebung oder Auseinandersetzungen mit Bewohnern verschiedener Ethnien) (80). Später und mit zunehmender Sprachkompetenz werden vermehrt verbale Vorfälle aus dem Wohn-, Behörden-, Freizeit- und Arbeitsumfeld berichtet:

"Der Mann, der unter uns wohnt, hat mich immer freundlich gegrüßt. Irgendwann hat er mich gefragt, wo ich herkomme. Ich hab ihm gesagt, daß ich aus Riga bin. Er hat dann gefragt, ob ich Deutscher bin - bestimmt, weil ich einen deutschen Namen habe. Als ich ihm gesagt habe: 'Nein, ich bin Jude.' hat er sich einfach umgedreht und ist weggegangen." (W., Jurist, 56)

"Ich bin doch nicht schlechter als die anderen, warum verstehen die das denn nicht. Ich finde es blöd, wenn sie immer 'Russe!' oder 'Jude!' rufen und dabei lachen." (P., Schüler,14)

Meist werden negative Erfahrungen jedoch nicht als gegen die eigene Person gerichtet wahrgenommen, sondern gegen "Juden allgemein" - eine Beobachtung, die auch aus den Zwischenresultaten der Umfrage des Steinheim-Instituts und Mendelsohn-Zentrums hervorgeht (Schoeps 1993) (81). Daneben hatten 68 % der dort Befragten bisher keine direkten antisemitischen oder ausländerfeindlichen Erfahrungen in Deutschland gemacht (82). Die Abwehr von Teilen der Bevölkerung gegen Ausländer/Juden darf nicht hochgespielt werden, dennoch muß bemerkt werden, daß subtilere Formen von Rassismus/Antisemitismus von den Zuwanderern häufig nicht wahrgenommen (vgl. Duwidowitsch 1993,S.8f), nebenbei registriert oder nicht als solche angesehen werden (z.B. wurden Hetzflugblätter, die Migranten in ihren Briefkästen fanden, für Werbung gehalten (83)). In anderen Fällen ist die Jüdische Gemeinde Ersatz-Adressat für Diskriminierungen oder fängt sie auf, ohne daß die Migranten selbst damit konfrontiert werden. In den Gemeinden gehen in erheblichem Umfang Drohanrufe und -briefe ein (immer seltener anonym) und müssen sich Mitarbeiter, die mit Behörden und Einzelpersonen zusammenarbeiten, mit Vorurteilen, Ablehnung oder einfach nur Unwissenheit bzw. Unsensibilität auseinandersetzen: Die Palette reicht von der schriftlich mitgeteilten Entscheidung einer gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft, "für diesen Personenkreis keine Wohnungen zur Verfügung zu stellen", über Neidäußerungen ("wir können auch nicht einfach irgendwo hinkommen und abkassieren"), Beschuldigungen ("die haben sich ihre gute Stellung als Flüchtling erschlichen") bis zu Vorurteilen über ansässige wie neugekommene Juden ("man weiß doch, daß die Juden reich sind, wieso sollen wir da helfen"; "das Betrügen liegt denen so im Blut" usw.).

Auch wenn Migranten selbst nicht mit spektakulären Vorfällen oder den versteckten, impliziten Formen der Ausgrenzung konfrontiert wurden, rufen Übergriffe auf Ausländer, Wohnheime, Friedhöfe oder Synagogen und die Wahrnehmung von wie Hochsicherheitstrakts bewachten jüdischen Einrichtungen bei vielen Verunsicherung hervor und gehören zu einer Realität, die sie nicht erwartet haben (siehe 2.3.).

"Ich dachte, so etwas [Antisemitismus] gibt es nur bei uns. Meine Eltern haben gesagt, wir kommen jetzt in die Freiheit, Deutschland hat uns eingeladen. [..] In der Schule, da stehen immer Polizisten mit Pistolen vor der Tür und überall sind Gitter. Ich glaube, das ist wohl alles wegen dem Haß und weil die Leute das Judentum nicht verstehen." (P., Schüler, 14)

"Als das in Rostock passierte, wo die Faschisten das Wohnheim angezündet haben und die Menschen waren noch alle drin, und keiner hat geholfen, da habe ich Panik bekommen. Ich dachte: das hätte uns auch passieren können. Unser Wohnheim hat so ähnlich ausgesehen und mir sind die Schmierereien eingefallen, die an der Bushaltestelle standen: 'Juden raus'. Ich hab das damals nicht ernst genommen. Jetzt mache ich mir schon Sorgen." (N., Chemikerin, 42)

Zu dieser neuen Realität gehört die Aktualisierung einer internalisierten Vorsicht, ein antizipatives, an die Umwelt angepaßtes Verhalten. In jüdischen Jugend- und Schulberatungsstellen berichten Eltern, daß bereits ihre Kinder an jüdischen Feiertagen (an denen sie schulfrei hätten) zur Schule gehen oder den christlichen Religionsunterricht (von dem sie befreit sind) besuchen wollen, um sich nicht von anderen Kindern zu unterscheiden. Erwachsene setzen - wie die einheimischen Juden - die Kippa (Kopfbedeckung) auf der Straße sofort ab, erkundigen sich nach Sicherheitsvorkehrungen in den jüdischen Einrichtungen. Einige möchten keine Post mit Stempeln der Gemeinde bekommen, andere fragen nach, ob sie bei Behörden sagen können, daß sie Juden sind oder es besser verschweigen sollen.

Die Einschätzung ihrer neuen Umgebung fällt vielen umso schwerer, als sie Ablehnung, Ignoranz und Zuwendung gleichermaßen erfahren. Zunächst hat die jüdische Immigration die faktische Unsichtbarkeit der Juden in Deutschland teilweise aufgehoben und sie in das Wahrnehmungsfeld der Umgebung gerückt: Jüdische Kultur, jiddische Musik, jüdische Restaurants, Jiddisch-Sprachkurse oder schlicht "Juden" sind "in" und auch einige Migranten profitieren davon, weil sie diese "Marktlücken" z.T. füllen können. Gleichzeitig wurde von (nichtjüdischen) Gruppen/ Institutionen umgekehrt ein Handlungsbedarf zur Interessenvertretung der Zuwanderer entdeckt: deutsche Ausländervereine eröffneten "jüdische Filialen", deutsche Reisebüros bieten russischsprachige Reisen an und Sprachschulen Kurse, die auf sowjetische Juden zugeschnitten sind.

In der praktischen Arbeit mit jüdischen Migranten fällt auf, daß auch Einzel- bzw. Privatpersonen verstärkt Interesse an den Migranten zeigen: Hilfe aller Art anbieten, Patenschaften übernehmen, Filme drehen, Dissertationen oder Interviews machen wollen (84). Die anfängliche Anziehung und Anteilnahme schlägt hier jedoch häufig in Distanzierung um und der Vorrat an gutem Willen nimmt schnell ab. Die Vergleiche zwischen den Migranten und ihrer Großelterngeneration sind irreführend und auf beiden Seiten Quelle ständiger Mißverständnisse und Desillusion. Viele reagieren enttäuscht, wenn sich die romantischen und folkloristischen Vorstellungen, die sie auf "ihre" Juden projizieren, nicht erfüllen oder wenn sich Leerstellen über eine Identifizierung mit dieser Gruppe nicht kompensieren lassen. Genau die am häufigsten beobachtbaren "Wunsch"-Vorstellungen treffen auf die Zuwanderer am wenigsten häufig zu: KZ- oder Pogrom-Erfahrung, Jiddisch-Kenntnisse, traditionell-jüdische Lebensweise, überschwengliche Dankbarkeit über oder Zufriedenheit mit dem Ausmaß der Hilfe in der Bundesrepublik etc. An ihren tatsächlichen Problemen und an "Normalbiographien" ist seltener jemand interessiert. Es drängt sich auch den Migranten der Eindruck auf, daß sie hier häufig nicht als real existierende Individuen, sondern als Gruppenbestandteil "gemocht" werden oder als Vorzeigeobjekte dienen sollen. Larissa (Bibliothekarin, 47 Jahre):

"Als wir im Lager wohnten, haben wir über die Gemeinde eine deutsche Familie kennengelernt, die Juden helfen wollte. Sie haben sie uns eingeladen und uns überall herumgezeigt: 'Das sind Juden aus Rußland!' - wie Wundertiere und als ob sie etwas Unglaubliches tun, wenn sie sich mit uns abgeben. Geholfen haben sie uns nicht. Damals hätten wir wirklich alle Hilfe gebraucht. Das war ihnen wohl zu anstrengend. Die haben uns jiddische Musik vorgespielt. Ihr Sohn singt sogar die Lieder nach: 'A jiddische Mame' [Eine jüdische Mutter] und so. Von der 'jiddische Mame Larissa' wollten sie aber nichts wissen, nur irgendwelche Leidensgeschichten hören. Gott sei Dank, haben wir nichts furchtbares erlebt. Die Sorgen, die wir haben, die haben wir hier und das hat nichts damit zu tun, daß wir Juden sind. Das hat ihnen wohl nicht gepaßt. Wir haben nicht viel erwartet, aber sie hatten dann nicht mal Zeit, einen Brief auf Deutsch für uns zu schreiben. Mein Mann sagt immer: 'Die wollten den Gefillte Fisch [jüdische Spezialität], aber ohne Gräten'."

Die Migranten leiden an ihrer Entwurzelung, ihrem Heimatverlust, ihren eigenen Ambivalenzen und haben sich gleichzeitig, wie die einheimischen Juden, zwischen einem Besser- oder Schlechter- Sein-Sollen als alle anderen zu definieren. Es ist auch für sie schwierig, zwischen dieser Mischung aus Verdrängung und Verklärung (wie Subventionierung) auf der einen bzw. offener oder verdeckter Ablehnung auf der anderen Seite die ebenso vorhandene "Mitte" zu finden sowie eigene Abgrenzungen und Fehlurteile zu hinterfragen (z.B. werden mitunter unpopuläre Entscheidungen von Behörden als antisemitisch denunziert bzw. versteigen sich einige in Opfer-Rollen).

4.2.2 Probleme der ethnischen Zugehörigkeit und Identität

Die Migranten stehen in einem Spannungsfeld zwischen drei ethnischen Kulturen bzw. Identitäten (individuell und auf die jeweilige Kultur bezogen in unterschiedlichem Maße): der Kultur der Majorität ihrer jeweiligen Herkunftsregion, der der eigenen jüdischen Ethnie und der der Majorität des Aufnahmelandes (85).

Zunächst sind die Migranten, unabhängig von subjektiven Interpretationen der Einzelnen, tief von ihrer bisherigen sowjetischen Umgebung(skultur) geprägt und in ihr verwurzelt, selbst wenn diese sie nur teilweise akzeptiert hat (siehe 3.4). Die Stigmatisierung durch die Umgebungsgesellschaft hat ihre vollständige Zuwendung und Angleichung an die majoritäre Umgebung wiederum verhindert. Gleichzeitig sind die meisten in bezug auf ihre jüdische Identität in einem kulturellen Vakuum aufgewachsen; es wurde ihnen aufgezeigt, daß auch eine Hinwendung zum Judentum negative Folgen für die Biographie haben würde und weiter wurde die Erhaltung des Judentums staatlich massiv behindert. Aus dieser Lage heraus orientieren sich die Einzelnen (negativ wie positiv) an beiden Kulturen/ Gruppen, gehören aber weder der einen noch der anderen Gruppe eindeutig an.

"Ich bin in Moskau geboren. [..] Daß ich Jude bin, stand in meinem Paß. Wenn ich es vergessen habe, haben mich die anderen daran erinnert. [..] Inzwischen ist mir schon ziemlich egal, was ich bin." (G.,Schneider)

Die mehrmalige Veränderung der Territoriumsgrenzen, die gewollte oder ungewollte Mobilität der sowjetischen Juden, ihre Verbindung mit anderen Ethnien macht einen Teil von ihnen nicht nur zu Wanderern zwischen zwei, sondern mehreren Welten.

"Großmutter hat mir deutsch beigebracht, sie kommt aus Tschernowitz, ich hab also etwas von der deutschen Kultur. Ihr Mann war auch aus der Bukowina. Mein Vater und ich - wir sind in Kiew geboren, in der Ukraine. Mütterlicherseits kommen sie aber eigentlich aus Rußland. Im Krieg sind sie nach Mittelasien evakuiert worden. Da hat meine Oma einen Usbeken geheiratet und meine Mutter ist auch da geboren. Hätte sie nicht einen Studienplatz in Kiew bekommen, wär sie bestimmt dort geblieben. Sie ist dann nach Israel gegangen, das ist ihr näher.[..] Wo ich hingehöre, weiß ich selber nicht." (O., Schauspielerin, 28)

Aus dem Interviewausschnitt wird noch einmal deutlich, daß die Sowjetunion ein Vielvölkerstaat war, in dem neben der beherrschenden sowjetisch-russischen Ethnie/Kultur auch zahlreiche andere beheimatet waren, die die sowjetischen Juden je nach ihrem Lebensmittelpunkt mitbeeinflußt haben und ein Teil ihrer Identität sind. Dieser Umstand wird in ihrer neuen Umgebung mit der Bezeichnung "russische Juden" oder einfach "Russen" i.d.R. unterschlagen (siehe 3.1 kommt nur etwa 1/3 überhaupt aus Rußland). Möglicherweise ist es auch gerade die Zuschreibung "Russe", die die Migranten veranlaßt, zu betonen, daß sie ukrainische, usbekische, lettische oder moldawische Juden sind. Aber auch die Juden aus Rußland verwahren sich gegen die Reduzierung "Russe", die eine Begrenzung auf etwas markiert, das sie nicht sein wollen und nicht (oder nur partiell) sind (86):

"In Rußland war ich die 'Jüdin', hier bin ich die 'Russin'. Ich kann nicht sagen, daß mir das besser gefällt. Das ist auch wieder so negativ." (T., Geologin, 35)

Mit ihrer Migration nach Deutschland wird die Frage nach ihrer Gruppenzugehörigkeit - zunächst von außen - neu gestellt. Unter 3.4 war davon die Rede, daß das Judentum in der Sowjetunion nicht als Religion, sondern als Nationalität definiert ist. Nach deutschem Rechtsverständnis wird es nach der Erfahrung mit absurden Rassentheorien und ihren Folgen ausschließlich als Religionszugehörigkeit gesehen, beruht somit theoretisch auch auf einer freien Entscheidung für oder gegen diese Religion und bleibt damit eher "privat". Dies kollidiert wiederum mit der jüdischen Auffassung, die von einer Doppelzugehörigkeit von Religion und Volk ausgeht und sie nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, an die jüdische Mutter bindet. Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde (und bleibt es, ob religiös oder nicht, kann also nicht aus dem Judentum "austreten") (87).

Institutionen - auch jüdische - haben sich an "juristische" Formalia zu halten. Diese Art der Einordnung der Migranten als Juden (oder Nichtjuden) und die Differenzen und Konfusionen zwischen drei Auffassungen sind für die Zuwanderer jedoch formal wie inhaltlich folgenreich (88).

"Ich dachte immer, ich bin Jude. Plötzlich soll ich keiner mehr sein. Den Russen war es egal, wer meine Mutter ist. Judenpack ist Judenpack." (D., Bautechniker, 49)

"Mich haben sie aufgenommen [in die Jüdische Gemeinde], aber meine Frau und meine Kinder nicht. Ich verstehe das nicht, wir sind doch eine Familie. Was soll nun werden?" (A., Uhrmacher, 38)

"Ein Deutscher hat mich mal nach religiösen Sachen gefragt. Ich hab ihm gesagt: 'Ich hab keine Ahnung, ich bin Atheist'. Da war der ganz verwundert und sagte: 'Dann sind Sie ja gar kein Jude'." (V., Physiker, 56)

Die meisten Migranten definieren sich nach dem sowjetischen Recht - als "Nationaljuden" (gleichgültig ob die Mutter oder/und der Vater jüdisch war). Ein religiöser Bezug spielt selten eine Rolle. Die deutsche (offizielle) Einordnung über die Religionszugehörigkeit ist aus diesem Kontext für sie nicht nachvollziehbar. Noch weniger nachvollziehbar ist es den Migranten, wenn die eigene bzw. vermeintlich eigene Ethnie sie nicht als Juden akzeptiert. Selbst wenn sie kaum Bezüge zum Judentum haben, wird dies als neuerliche Ausgrenzung empfunden und bedroht ihr Selbstwertgefühl.

Aber auch jene, die formal von den Gemeinden als Juden anerkannt werden, haben Probleme, von deren Mitgliedern akzeptiert zu werden (siehe 5.3). Zumindest die Jüngeren haben meist nie zuvor eine Synagoge betreten, kennen die Riten, Gebräuche und Traditionen kaum und werden belächelt oder beargwöhnt. Neben den Einheimischen grenzen sich auch längeransässige Migranten gegen die neu Angekommenen ab, um ihre eigene Zugehörigkeit zur (jüdischen) Mehrheitsgesellschaft zu demonstrieren oder weil die "Neuen" eine Konkurrenz darstellen.

"Manche deutsche Juden sind so arrogant. Neulich erzählt mir einer, daß seine Familie schon dreihundert Jahre hier ist und daß sie ein großes Haus hatten und alle bekowet [ehrenhaft] waren und ehrlich und voller Kultur und bekannte Rabbiner und alles. Hab ich ihm gesagt: 'Nu was glaubst Du: Ich bin vom Himmel gefallen?' Sie denken, sie sind was besseres und müssen uns erst alles beibringen." (L., Rentner, 70)

Es gibt viele russische Juden, die was für ihre Bekannten tun, aber nicht für alle. Auch in der Gemeinde: es finden immer Fahrten statt. Viele fahren zweimal im Jahr, andere überhaupt nicht, das ist ungerecht. Ich bin schon zweimal abgelehnt worden, weil ich noch nicht lange da bin und keinen kenne." (P., Schüler, 14)

"Am Anfang war ich mal da und wollte 'Weihnachtsgeld'. Da hat die Frau [in der Sozialabteilung] gefaucht, ob wir hier bei den Christen sind. Aber sie wußte und ich wußte, daß die anderen Geld bekommen haben. Ich hab nur den Namen verwechselt. Es war zu diesem [jüdischen] Neujahr." (G., Ingenieur, 40)

"Die Gemeinde will die Zuwanderung. Ob sie die Zuwanderer auch will, na, ich weiß nicht."(G., Lehrerin, 34)

Ähnlich wie bei der oben erwähnten Unsicherheit vieler Migranten, nicht zu wissen, ob ihre deutsche Umgebung sie ablehnt oder nicht, können sie sich hier nicht ganz sicher sein, inwieweit sie zur jüdischen Gruppe gehören. Green vermutet: "deutliche Ablehnung ist vermutlich leichter zu ertragen als unsichere und unvorgesehene Akzeptanz" (in Heckmann 1992, S.203).

Die Migranten, die sich von der Ausgrenzung durch einige Gemeindemitglieder abschrecken lassen und diejenigen, die am Judentum desinteressiert sind, verbleiben mehr oder weniger stark ihrer bisherigen (nicht-jüdischen) Orientierung verhaftet und haben in Berlin zumindest eine bestehende russischsprachige Gemeinschaft.

"Ich bin eingetreten [in die Gemeinde], weil die helfen mit der Wohnung und alle hingegangen sind. Sonst hab ich damit nicht viel zu tun. Ich habe meine Freunde, ich lebe weiter wie bisher." (G., Ingenieur, 40)

Die ethnischen Grenzziehungen, die in der Sowjetunion üblich waren, werden jedoch auch hier u.U. aktualisiert; d.h. es gibt Konflikte zwischen sowjetischen Juden und Nichtjuden und die Gruppen/ Personen bleiben relativ voneinander getrennt bzw. verbinden sich nur bei bestimmten Abgrenzungen gegenüber der Majorität. Insgesamt kann die russischsprachige Umgebung mögliche Konfliktsituationen in der neuen Umgebung abschwächen und Bezüge zur Herkunftskultur/-region binden. Dennoch wird auch die "alte" Heimat fremd, ohne daß die Umgebung hier zur "neuen" Heimat wird.

"Im Seniorenzentrum ergeben sich Kontakte, sicher. Aber die Menschen haben doch keine Heimat, sie sind krank in ihrer Seele. Die Bekannten, die Nachbarn, die Familie fehlt. Und auch wenn sie zurückgehen würden nach Odessa oder Moskau, das wäre nicht mehr die Stadt, die sie verlassen haben." (K., Rentnerin, 68)

Von den älteren Migranten abgesehen, die noch originäre Bindungen zum Judentum haben und alle "jüdischen" Angebote der Gemeinde wahrnehmen, wird in einem Land, das den meisten bislang fremd geblieben ist, für viele das Gemeinschaftsgefühl zunächst Auslöser dafür, sich näher oder wieder für das Judentum zu interessieren und wird dann oft zum "psychologischen Anker".

"Als ich das erste mal nach Israel geflogen bin, habe ich mich jede Stunde, jeden Kilometer, den wir näher gekommen sind, noch stärker, noch besser gefühlt. Als mich alle so freundlich begrüßt haben, mußte ich weinen. So ein Gefühl habe ich hier nicht. In Berlin gehe ich zum Chanukka-Ball, zum jüdischen Theater, ich war auch in Bad Kissingen. Es gab ein jüdisches Programm, man hat Leute getroffen aus anderen Gemeinden, aus Holland, aus Israel, viel interessantes für meine Seele. Wenn es das alles nicht gäbe, würde ich vielleicht hier nicht leben wollen." (K., Rentnerin, 68)

"In der Jüdischen Schule [..] kennt jeder jeden, kümmert sich um die Probleme des anderen, wie in einer richtigen Familie. [..] Das ist mir wichtig. Die Kinder, die fühlen sich da wohl." (N.,Laborantin, 30)

"Man lernt die jüdische Kultur kennen und findet Freunde. [..] Ich gehe so oft wie möglich zur Synagoge, [.. da] begegne ich Juden aus aller Welt. Das gefällt mir. Und auch, daß ich dazugehöre." (A., Schüler, 17)

Insgesamt ist die "mittlere" Generation jedoch eher mit der Schaffung einer ökonomischen Existenz befaßt und "überläßt" das Judentum zunächst ihren Kindern, die weniger Berührungsängste haben und sehr schnell Beziehungen zur jüdischer Kultur entwickeln. Viele von ihnen besuchen den jüdischen Kindergarten, die Schulen, Freizeittreffpunkte und Ferienlager und das Augenmerk der Gemeinde(n) richtet sich vor allem auf sie. Sie sind die eigentlichen "Kulturvermittler" zu ihren Eltern:

"Ich weiß jetzt viel mehr über das Judentum, durch meinen Sohn, der lernt das alles in der Schule. [..] Ich finde es schön, die ganzen Sitten und Gebräuche zu benutzen." (G., Lehrerin, 34)

"Manchmal ist es mir richtig peinlich, wenn ich meine Kinder fragen muß, worüber sie eigentlich reden. Sie benutzen jüdische Wörter und erzählen Sachen, die habe ich noch nie gehört. Langsam beginnt mich das auch zu interessieren." (N., Laborantin, 30)

Selbst wenn Migranten wenig "innere" Bezüge zum Judentum haben, ist ihre "äußere" Bindung oft groß. Den meisten ist es selbstverständlich, daß ihre Kinder Bar bzw. Bat Mitzwa werden (rituelle Aufnahme in die Gemeinschaft der Erwachsenen) und sie lassen ihre hier geborenen Söhne auch beschneiden - Dinge, die in der Sowjetunion nicht mehr üblich oder möglich waren (siehe 3.4). Die Zuwanderer nehmen die deutschen Juden dabei so wenig mit dem traditionellen ("wirklichen") Judentum verbunden wahr, wie diese sie und orientieren sich eher an der Art der Religionsausübung ihrer eigenen Großelterngeneration oder der sephardischen Juden. Ein Journalist:

"Wer bloß auf dem jüdischen Ticket reist, sammelt die Hilfen der Gemeinde ein, und fort ist er. Die anderen sieht man, wenigstens an den hohen Feiertagen, in der Synagoge. Und zwar in der orthodoxen. Auch wenn sie die Gebete [..] nicht kennen [..] - es bleibt eine mentale Nähe zur Orthodoxie. Der liberale Ritus ist einfach zu ordentlich, zu deutsch" (Büscher 1995,S.152).

Einige wenige (meist junge Leute) wenden sich der religiösen Ideenwelt des Judentums zu und ändern radikal ihre gesamte Lebensweise; überwiegend orientieren sich die Migranten jedoch an anderen Aspekten und (aus der Religion entstandenen) Traditionen: Feste, Literatur, Geschichte, Folklore.89 Unabhängig vom inhaltlichen Bezuges zum Judentum werden durch Zuschreibungsprozesse (Ethnisierung) von außen ethnische Identifikationen verstärkt bzw. sie werden bewußt:

"Früher hab ich nicht so sehr darauf geachtet, was ich bin. Wo ich jetzt hier bin, ist das anders. Ich bin Jüdin! Das gibt mir Sicherheit. Aber meistens fühle ich mich immer als Jüdin, wenn jemand Juden angreift." (I., Zahntechnikerin, 34)

"Erst habe ich geglaubt, was die Deutschen sagen und was sie zu Hause gesagt haben. Daß wir schlecht sind und sie ausnutzen und so. Ich habe mich geschämt, Jude zu sein. Aber jetzt befasse ich mich mit unserer Geschichte. Es ist alles gelogen. Die sind bloß neidisch auf uns. Sogar ihr Jesus war Jude." (P., Schüler, 14)

"Die Gemeinde ist wichtig, weil wir damit stärker sind als andere, die auch nicht Deutsche sind." (A., Schüler, 17)

Den meisten fällt es schwer, ihr Jude-Sein, abgesehen von einem Gemeinschaftsglauben und der Definition der Umgebungsgesellschaft mit einem präzisen oder gar mit anderen Juden übereinstimmenden Inhalt zu füllen. Für die Migranten in der Bundesrepublik ist zumindest davon auszugehen, daß sie sich (auch selbst) von "den Deutschen" abgrenzen, auf keinen Fall "Deutsche" werden wollen, auch wenn sie nicht genau wissen, wie sie sich selbst definieren wollen oder können (90).

"Manchmal habe ich Probleme damit zu wissen, wer ich bin. Ich mache mir auch Gedanken, ob ich Pole, Jude oder Russe bin. Ein Deutscher werde ich nie werden, ich habe mit Deutschen sehr wenig zu tun, die meisten meiner Freunde sind aus Polen, Rußland oder Israel." (A., Schüler, 17[der Vater ist Pole])

"Ich bin Jude. Nicht deutscher Jude, nicht Deutscher, nicht Lette. Ich hab zwar jetzt die deutsche Staatsbürgerschaft, aber das ist bloß wegen dem ständigen Wohnsitz." (N., Arzt, 28, seit 1975 in Berlin)

"Ich weiß, daß ich nie sagen werde: 'Ich bin eine Deutsche'. Judentum ist für mich Nationalität, nicht Religion. Ich schäme mich deswegen auch nicht." (G., Lehrerin, 34)

Ohne daß dies bewußt oder problematisch werden muß, stehen die Migranten genaugenommen fünffach am Rande von Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft(en) und -kultur(en): In der Sowjetunion als Juden, die sie nicht mehr "ganz" waren oder sein sollten bzw. wollten und als (z.B.) Russen, zu denen sie sich selbst nur z.T. zählten und von denen sie nicht akzeptiert wurden. (Gleichzeitig sind sie infolge ihrer Migration nicht mehr Teil dieses Gesamtsystems, das dennoch ihre Heimat war.) Hier gehören sie als Ausländer nicht zur deutschen Gesellschaft, können sich mit ihr und ihrer Kultur bislang wenig anfreunden, werden als Juden teilweise wieder von der bestehenden russischen Gemeinschaft abgelehnt und von einheimischen Juden u.U. als nicht oder "zu wenig jüdisch" angesehen (91).

Auch wenn die ungeklärten Gruppenzugehörigkeiten möglicherweise erst nach längerem Aufenthalt oder in der 2. Generation zu Konflikten führen, bremsen sie den Eingliederungsprozeß -verbunden mit der Ablehnung durch Teile der Majorität, mit einem unsicheren Status und mit Problemen, um die es im folgenden geht.

4.2.3 Psychische Probleme und Neuorientierungen

Die Migranten waren (sind) sozial und psychologisch mobiler als die Nichtwandernden, fähig ihre Unzufriedenheit in einen Wanderungsentschluß umzulenken und den Verlust von "Heimat" für "Fremde" in Kauf zu nehmen. Gleichzeitig stehen sie unter Erfolgszwang, muß sich die Wanderung lohnen und sind sie mit entsprechenden Erwartungen nach Deutschland gekommen, ohne dabei ihre zukünftige Situation realistisch einschätzen zu können. Hier angekommen, sehen sich die meisten nach anfänglicher Euphorie jedoch (vorerst) weiterhin oder wieder unbefriedigenden Lebensbedingungen ausgesetzt. Ihre hohen Erwartungen mobilisieren einerseits die Bereitschaft, sich einzuleben und die neuen Chancen zu nutzen, andererseits sind sie Ursache für Enttäuschungen und Probleme, wenn die positiven Vorstellungen nicht mit der hiesigen Realität übereinstimmen und eigene Umorientierungsnotwendigkeiten und -schwierigkeiten nicht antizipiert wurden.

Zunächst unabhängig von konkreten Problemen und Gruppen betrachtet, reagiert ein kleinerer Teil der Migranten auf Verluste und neue Anforderungen mit (aus der UdSSR gewohnter) Verantwortungsabschiebung, Entscheidungsunfähigkeit, Verzerrung von Tatsachen oder Rückzug, wird handlungsunfähig, erlebt Sinnkrisen, die bis zu einem Zusammenbruch des sozialen Verhaltens oder schweren Erkrankungen führen. Diese Zuwanderer machen bereits nach relativ kurzem Aufenthalt (besonders dann, wenn die ersten formalen Schritte erledigt sind) einen insgesamt depressiven Eindruck. Ohne daß eindeutig feststellbar wäre, ob Störungen nicht bereits früher bestanden, sind einige generationsübergreifende Symptome und  Auswirkungen häufig beobachtbar oder werden von Migranten benannt: Apathie, Nervosität, Schlaflosigkeit, psychosomatische Beschwerden, Eßstörungen, Alkoholismus, Suchtmittelmißbrauch, Aggressivität, Hyperaktivität.

Die wenigsten reden über diese Probleme. Häufig wird die Umgebung erst aufmerksam, nachdem Migranten zwangshospitalisiert worden sind oder im Extremfall Suizid begangen haben (in Berlin bislang ca. 10 Fälle). Hinzu kommt, daß es an russischsprachigem Fachpersonal mit entsprechendem kulturspezifischen Hintergrund fehlt (Kenntnis von Tabuthemen z.B.). Andererseits sind Psychologen/Psychiater unter den Migranten u.a. durch deren unrühmliche Rolle in der UdSSR stigmatisiert oder Migranten meinen, nicht krank zu sein bzw. keine Hilfe zu benötigen.

Nachdem sie vielerlei Bemühungen unternommen haben, nach Deutschland zu kommen, wollen viele nicht zugeben, daß sie Probleme haben - aus Angst abgelehnt zu werden oder die Richtigkeit ihrer Entscheidung, ihres Lebensentwurfes in Frage stellen zu müssen. Bei einem erheblichen Teil der Zuwanderer werden sie auch durch die Beschäftigung mit dem Existenzaufbau überdeckt und in einer späteren Phase durch erhöhten Konsum kompensiert. Migranten setzen "Freiheit" am Anfang häufig mit dem Wegfall von Versorgungsschwierigkeiten und dem großen Warenangebot gleich; die Erwartungen an den Konsum bzw. die Bedürfnisbefriedigung durch ihn hält jedoch nicht lange an. Die eigentlichen Probleme bleiben letztlich bei vielen in einer resignierten Grundstimmung und Zurückgezogenheit erhalten, die häufig nicht bewußt ist und durchaus einer zufriedenstellenden formalen Eingliederung gegenüberstehen kann. Bei einigen manifestieren sie sich aber auch zu einem Dauerzustand.

Eine als besonders belastend wahrgenommene Bedingung, die gleich zu Beginn des Aufenthalts zur Entstehung von Erwartungsenttäuschungen und Konflikten in allen Altersgruppen beiträgt, betrifft die Wohnheimunterbringung. Die Wohnheimsituation markiert für die meisten Migranten auch retrospektiv den Tiefpunkt ihres neuen Lebens und die Zeit mit dem höchsten Konfliktpotential. Keine Wohnung zu haben und gleichzeitig arbeitslos zu sein verdeutlicht in doppelter Weise einen plötzlichen sozialen Abstieg (z.B. vom Chefarzt mit großer Wohnung im Zentrum Moskaus zum arbeitslosen Bewohner einer Massenunterkunft am Stadtrand), der nur schwer bewältigt wird und individuell oder zwischen Ehepartnern zu massiven Problemen führt. Vermehrt durch die situativen Bedingungen eines Lebens in Gemeinschaftsunterkünften und in Abhängigkeit von der Wohndauer kommt es auch bei Kindern und Älteren zu Verhaltensstörungen und Erkrankungen (siehe 4.1.3).

Daneben ist der Umgang mit der deutschen Sprache eines der ersten und gleichzeitig dauerhaftesten Probleme - das u.a. in Abhängigkeit vom Einreisealter und der Stellung im Familienzyklus mehr oder weniger bewältigt wird (siehe 4.1.1). Oben wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Mangel an Sprachkompetenzen zu Mißverständnissen, vermehrter Isolation und verringerten Arbeitsmarktchancen führt. Einerseits beeinflußt der Spracherwerb die Möglichkeiten in der neuen Umgebung, anderseits sind es diese Chancen, die ihn beeinflussen. Migranten, die lange im Wohnheim leben, häufig umziehen müssen, keine Arbeit finden oder Kontakte zu Deutschsprachigen knüpfen können, vergessen Sprachkenntnisse wieder bzw. erwerben sie erst gar nicht. Daneben wird der notwendige Spracherwerb individuell oft als starke Belastung empfunden oder als nicht zu bewältigen:

"Als Dozentin war ich doch immer ein Mensch der Sprache. Aber mein Sprachzentrum ist belegt. Ich kann nicht Deutsch lernen. Ich vergesse alles sofort wieder und bekomme kein Wort heraus." (L., Medizinerin, 52)

Sprachschwierigkeiten können auch ab und zu aus dem Versuch resultieren, die eigene Konfliktunfähigkeit und Gehemmtheit zu rechtfertigen oder zu überdecken oder werden ins Feld geführt, wenn eine über notwendige sekundäre Kontakte hinausgehende Beziehung zur deutschsprachigen Umgebung nicht beabsichtigt ist. Neben der Sprache treffen die Migranten auf eine Unzahl anderer neuer Bedingungen und Anforderungen, die oftmals konträr zu ihrem bisherigen Leben und ihren Erfahrungen stehen. Bereits die deutsche Vereinigung hat gezeigt, wie problematisch schon ein relativ allmähliches und institutionell abgesichertes "Hineinwachsen" aus der sozialistischen Ständegesellschaft in die individualisierte "Risikogesellschaft" (Beck 1986) auch für den Einzelnen sein kann. Die sowjetischen Migranten kommen aus einem grundsätzlich ähnlichen, rigiden und fremdbestimmenden System mit anderen Werten, Normen und Kulturtechniken, das Gesellschafts- und Lebenszusammenhänge, Mentalitäten und Verhaltensweisen geprägt hat. Sie haben eine ebenso lebenslaufgewohnte/institutionalisierte Sozialisation, müssen Eigeninitiative oder -verantwortlichkeit in vielen Fällen auch erst lernen und Erfahrungsregeln und Handlungssicherheiten mehr oder weniger verwerfen. Bei recht ähnlichen Erwartungen an das neue "System" ist in ihrem Fall der Kontextwechsel noch komplexer und schwieriger als für die DDR-Bürger: er ist eher ein "Sprung", erfolgt in ein kulturell entfernteres und moderneres System, ist mit Ortsveränderungen, einer fremden Sprache und einem stärkeren "Integrationszwang" verbunden und bedeutet gleich mehrfache Brüche der Biographie bzw. einschneidende Lebensereignisse: das Erleben der die Migration auslösenden Probleme und Konflikte wie der Vorgang der Migration selbst, Entwurzelung, Fremd-Sein, der Verlust sozialer Beziehungen, die Entwertung des bisherigen Lebenslaufes und der Lebensleistungen.

Einige Migranten haben über längere Zeit erhebliche Schwierigkeiten, sich auf die neue Umgebung einzustellen. Vereinzelt kommt es bei orientalischen Juden zu einer Art Kulturschock, der u.a. durch völligen Rückzug in die meist vorhandenen Großfamilien kompensiert wird, von denen einzelne Mitglieder zudem bereits lange in Berlin leben. Aber selbst europäische Juden -mithin die Mehrheit - müssen erfahren, daß sie hier fremder sind, als sie erwartet hatten (siehe 2.3), und sich in vielen Bereichen umstellen müssen. Das betrifft die notwendige Eigeninitiative, aber auch allgemeine Wertvorstellungen und Vergleichsdimensionen: Konsum, Handlungskontrolle, Zeitregeln, Erziehung, Konkurrenz, "Freiheit", Recht usw. (siehe auch 4.1.4).

"Ich hab mir das anders vorgestellt. Die Bürokratie ist noch viel schlimmer als bei uns. Ich bekomme das ganze Papier gar nicht in die Tasche. Für alles braucht man Stempel, für alles muß man bezahlen, überall muß man warten." (A., Dreher, 52)

"In Rußland gab es von allem zu wenig, hier gibt es von allem zu viel. Wieviel verschiedene Sorten Brot kann der Mensch essen! Diese Geschäfte, die Angebote, das macht mich ganz verrückt." (G.,Rentnerin 76)

"Ich bin ohne Führerschein und falsch gefahren und sollte ein paar Tausender Strafe bezahlen. Das wollte ich aber nicht. Ich dachte auch nicht, daß die mich abholen. Ich meine, im Gefängnis war es wie im Sanatorium, aber trotzdem. Ich versteh das nicht. 65 Tage Gefängnis ist doch viel teurer als die ganze Strafe. Und wegen so einer Lappalie. Ich dachte nicht, daß die so kleinlich sind. [..] Früher hätte ich das anders geregelt. Aber hier weiß man ja nie, auf wen man trifft." (G., Ingenieur, 40)

Die Migranten passen sich jedoch in unterschiedlicher Weise an die neue Umgebung an und haben unterschiedliche Probleme bei der Verarbeitung der migrationsbedingten Umbrüche - je nach Persönlichkeitsdispositionen, individuellen Lebensschancen und objektiven Generationslagen, sozial-kollektiven oder/und biographischen Vorgeschichten - den "Hypotheken der Vergangenheit" (Hoernig 1987) -, die Kapital und Hindernis sein können. Obwohl ein Großteil der Zuwanderer möglicherweise durch seine großstädtische Prägung und (äußere) Anpassungsfähigkeit keine "sichtbaren" Probleme hat, fallen Kinder und Jugendliche, "junge Ältere" sowie betagte Migranten als besonders konfliktbelastet auf.

Aufgrund der mangelhaften medizinischen Versorgung in der Sowjetunion und des z.T. hohen Einreisealters (siehe 3.2) weisen viele der betagten Einwanderer bereits bei ihrem Zuzug einen sehr schlechten Gesundheitszustand auf. Es läßt sich nicht beurteilen, wie Krankheiten bei den Einzelnen ohne eine Migration verlaufen wären, es ist jedoch denkbar, daß die migrationsbedingte Dauerbelastung zu den auffallend häufigen Gesundheitsverschlechterungen und Sterbefällen kurz nach der Einreise beiträgt (in Berlin ist etwa jeder 9. über 65jährige Zuwanderer im ersten Jahr nach dem Zuzug verstorben) (91).

Die Situation der meisten alten Migranten ist durch Isolation und Immobilität gekennzeichnet. Die fehlenden Sprachkenntnisse beschränken die Orientierungsmöglichkeiten und den Aktivitätsrahmen (siehe 4.1.3) maßgeblich, es können weder intensivere Kontakte zur Bevölkerung hergestellt, noch "passive" Kommunikationsangebote wie Zeitungen oder Fernsehen ausreichend genutzt werden (in Seniorenhäuser wird der Einbau von Satellitenantennen häufig verweigert; in Wohnheimen ist er verboten). Der an sich wünschenswerte Auszug aus dem Wohnheim in die eigene Wohnung bedeutet für viele Ältere noch mehr Einsamkeit, u.U. die Trennung von der Familie (siehe 4.1.4) und den Verlust der Restkontakte zu anderen Bewohnern, die in der selben Lage waren. Die eigene Wohnung bringt neue Probleme in bezug auf die nötige Selbständigkeit mit sich: wie macht man einen Mietvertrag, meldet das Telefon an oder redet mit dem Hauswart, ohne Deutsch zu können.

"Ich war so glücklich, als ich die Wohnung endlich hatte. Aber jetzt muß ich alles allein machen. Dauernd hab ich Zores [Sorgen, Probleme], weil ich was falsch verstanden habe und dachte: Ach, wird schon richtig sein. [..] Die Kinder haben ja doch keine Zeit für mich." (N., Rentnerin, 70)

Ältere Migranten berichten oft von ihren Irritationen, von - in der hiesigen Gesellschaft kaum mehr hinterfragten - Alltäglichkeiten, dem Verlust von Handlungssicherheit, der Entwurzelung aus allen gewohnten Lebensbahnen bis zur plötzlichen Entwertung gesamter Lebensläufe und Selbstbilder. Sie können sich kaum noch auf etwas verlassen, was sie in ihrem Leben gelernt und gehabt haben.

"Ich bin ein Nichts hier.[..] Ich habe doch in einer Riesenstadt gelebt. Ich habe gearbeitet, bis zuletzt. Alle haben mich geachtet zu Hause und als Ärztin - hab doch gearbeitet, die Enkel versorgt, gekocht - alles. Und jetzt weiß ich nicht mal, welche Äpfel am besten schmecken. [..] Zu den Leuten im Haus hab ich keinen Kontakt. Früher haben wir uns immer gegenseitig 'was geliehen: drei Eier, Zucker. [..] Ich bin wie ein Kind manchmal, ich falle auf alles herein. Als der Mann mir die ganzen Versicherungen verkauft hat. Er war so nett. Er hat gesagt, daß man sich versichern muß. [..] Jetzt reicht das Geld nie. Und die Fernsehzeitung brauch ich doch auch nicht. Ich verstehe ja nichts. Alles ist so kompliziert. [..] Ich bin ein Nichts. Dabei hab ich immer gearbeitet, den Krieg überlebt. Dafür, daß ich jetzt beim Sozialamt betteln gehen muß. Wer versteht schon, wie ich mich fühle, wenn sie mich wie einen Parasiten behandeln." (Ch., Rentnerin, 68)

Zum Sozialamt zu müssen, wird von vielen nach einem arbeitsreichen Leben als Demütigung empfunden, verstärkt durch die Unsensibilität und Technokratie mancher Sachbearbeiter. Die alten Migranten leiden im besonderen Maße unter der Nichtakzeptanz ihrer Umgebung. Ihr biographisches Selbstgefühl ist stark durch ihre spezifischen historischen Erfahrungen und die früheren sozialen Rahmenbedingungen geprägt. Sie haben oft bis zur Ausreise noch gearbeitet und hatten sowohl familiäre als auch gesellschaftliche Rollen inne. Bis zur Auflösung der Sowjetunion bzw. bis zur Öffnung zum Westen waren ältere Menschen hochgeachtet, ihr Rat war gefragt, als Kriegsteilnehmer oder vorbildliche Arbeiter waren sie geehrt und privilegiert. Sie bringen ihre Orden und Auszeichnungen mit, stoßen mit ihren Geschichten und dem Stolz auf ihre (z.T. idealisierte) Vergangenheit jedoch auf Unverständnis. Vielen bleibt eine negative Lebensbilanz und ein deformiertes Selbstbild. Das Migrationsziel eines "besseren" Lebensabends wird durch Entfremdung und Einsamkeit entwertet. Häufig sind sie nur wegen ihrer Kinder ausgereist, um nicht allein zu bleiben, was sie hier nun u.U. mehr als in der Heimat sind.

"Ich habe 30 Jahre auf Touristendampfern gearbeitet, die Leute unterhalten. Ich kannte viele Leute. Hier kenne ich niemanden. Bin nur wegen der Enkel hier. Aber die haben jetzt ihre eigenen Probleme. [..] Ich würde es nicht wieder tun. Für den Bauch ist es hier gut, aber nicht für die Seele." (V., Rentner, 75)

Die familiären Bindungen beginnen in der neuen Umgebung stark zu bröckeln, früher scheinbar reibungslos funktionierende Familienverbände lösen sich auf. Die Eltern-Kind-Beziehung (hier bei erwachsenen Eltern und Kindern) verändert sich besonders in Familien, bei denen die "Kinder" noch relativ jung waren, als sie einreisten. Diese "Kinder" übernehmen die üblichen Einstellungen und Praktiken der hiesigen Gesellschaft zügig: sie wollen nicht mehr mit den Eltern zusammenwohnen, übertragen die Verantwortung für sie anderen Instanzen, haben keine Zeit, treffen Entscheidungen ohne sie und vermitteln ihnen das Gefühl, auch innerhalb der Familie nicht mehr gebraucht zu werden und nutzlos zu sein. Zudem sind die Eltern bewahrenden Pflicht- und Akzeptanzwerten stärker verbunden als die Jüngeren, übernehmen neue Verhaltensmuster und Normen weniger schnell, geraten zunehmend in Konflikte mit ihren Kindern oder Enkeln und verlieren auch innerhalb der Familie an Prestige (siehe 4.1.4).

Bei Kindern und Jugendlichen zeigen sich ebenfalls Probleme in bezug auf die veränderten Beziehungen zur Eltern- und Großelterngeneration und auf die Migrationsbewältigung generell. Kinder, die zum Zeitpunkt der Migration noch nicht im Schulalter waren, scheinen die Migration relativ unproblematisch zu bewältigen. Sie behalten ihre Primärbindungen, die i.d.R. noch innerhalb der Familie liegen, durch die Migration meist aller wichtiger Bezugspersonen weitgehend bei und unterliegen weniger als ältere Kinder einem Leistungsdruck, der erst durch den Schulbesuch aktualisiert wird. Für ältere Kinder, die die Migration bewußt erleben, stellt sich die Situation je nach Alter und bereits erfahrener Sozialisation im Herkunftskontext oftmals komplizierter dar. Die Kinder wurden meist erst kurz vor der Ausreise von den Eltern über die Migrationsabsicht informiert. Sie haben die Ausreiseentscheidung selten mitgetragen, können sie kaum einordnen und sehen sie eher als Verrat an (vgl.auch Duwidowitsch 1993). Ihre Enttäuschung ist umso größer, wenn die Eltern die Versprechungen nicht einhalten können, die sie gemacht haben, um den Kindern die Migration plausibler und "schmackhafter" zu machen. Unter dem Verlust von Freunden und gewohnten Orten leidend, werden sie zusätzlich mit Frustrationen und Krisen ihrer Eltern konfrontiert, die oft ausbrechen, wenn die eigene Wohnung, die Arbeit, die Erfüllung "aller Träume" auf sich warten lassen.

Die Familien- und Lebenssituation spielt generell eine entscheidende Rolle: u.U. bereits vor der Migration bestehende Spannungen, Ehekonflikte, zeitlich getrennte Ausreisen von Familienmitgliedern oder das Zusammenleben von mehreren Generationen in einem Haushalt oder Zimmer tragen zu einem erhöhten Konfliktpotential bei. Besonders zu Beginn des Aufenthalts, sind Kinder und Jugendliche zudem häufig sich selbst überlassen - da ihre Eltern Behördengänge unternehmen und die Kinder meist nicht (wie in der UdSSR) in eine Kindertagesstätte geben können - oder sie werden von Großeltern beaufsichtigt (93).

Die Kinder orientieren sich relativ schnell an (meist ebenfalls russischsprachigen) peer-groups innerhalb der Schu-le oder des Wohnheims und übernehmen Einstellungen und insbesondere Konsumorientierungen, die ein Teil der Eltern nicht bedienen kann (94). Sie lernen auch die Sprache am schnellsten, stellen am ehesten Kontakte her und werden zu Dolmetschern und "Managern" der ganzen Familie (vgl. auch Friedmann 1993, S.94 für Wien), womit sie meist völlig überfordert sind. Aus den Beratungsstellen aller Jüdischen Gemeinden wird berichtet, daß es alltäglich ist, daß Kinder für ihre Eltern oder Großeltern übersetzen - Angelegenheiten, die sie nicht oder nur teilweise verstehen. Sie tragen unangemessen hohe Verantwortung, meist ohne daß adäquat auf ihre eigenen Probleme eingegangen wird. Einerseits erhöht sich durch diese Rolle ihr Status (auch in der Eigenwahrnehmung) in der Familie, anderseits sollen sie z.B. in bezug auf elterliche Autorität in der Kind-Rolle verbleiben. Die Vorstellungen der Eltern werden mit gewohnten Erziehungsmethoden durchgesetzt und kollidieren zwangsläufig mit den Erfahrungen der Kinder in ihrem neuen Alltag (vgl. auch IRG 1994, S.13f). Da sie sich zugleich in einer Phase befinden, in der ihre Identität sich ausbildet (Erikson 1965), die Kontinuität ihrer Entwicklung bereits durch die Migration einen Bruch erlitten hat und bisher stützende Werte nun z.T. ungültig werden, verstärken sich die Autoritätskrisen und Generationskonflikte, die in diesem Alter ohnehin auftreten. Die Kinder nutzen neue Freiräume schnell, während sich die Eltern an diese Situation weniger schnell anpassen können oder wollen, z.T. resignieren oder die Kinder sich selbst überlassen. Befriedigungen im psychosozialen Bereich und gewohnte Reaktionen der Umwelt bleiben so oft aus und viele Kinder fühlen sich verloren und verschließen sich. Gleichzeitig erleidet ihr idealisiertes Elternbild Brüche. Die Eltern sind nicht mehr in der Lage Orientierungen zu vermitteln und werden von den Kindern als unselbständig angesehen. Aus gut bürgerlichen Haushalten kommend, mit Eltern, die Abteilungsleiter oder Ärzte waren, schämen sich die Kinder bald ihrer dafür, daß sie gebrochen Deutsch sprechen oder keine Arbeit haben und für ihre Großeltern, die ihre Namen nicht in lateinischen Buchstaben schreiben können. Die Eltern wiederum projizieren ihre Hoffnungen und Leistungsansprüche auf ihre Kinder. Sie sollen lernen und studieren, die neue Konsumgesellschaft (die bereits die Werte auch ihrer Eltern bestimmt) ignorieren und es einmal "besser haben". Der Auftrag an die Kinder ist es, erfolgreich zu sein, die Enttäuschungen der Eltern und ihr Versagen zu kompensieren und somit die Migration letztlich doch noch erfolgreich sein zu lassen (vgl.auch Tyrangiel 1989). Aber auch die schulische Erziehungs- und Sozialisationspraxis (Förderunterricht, Nachhilfestunden usw.) läßt den Kindern kaum Freizeit und -raum.

Während Aussiedler-Kinder aus Rußland als eher diszipliniert und lernwillig auffallen, zeigen sich bei den jüdischen Kindern massive Schulprobleme. Wie Erzieher, Lehrer und Schulpsychologen der Berliner jüdischen Schulen und des Kindergartens berichten, geben die Kinder ihren Konflikten in verschiedenen Verhaltensweisen Ausdruck bzw. die Probleme zeigen sich in Auffälligkeiten wie Leistungsverweigerung, Lernstörungen, Rebellion gegen Eltern oder andere Sozialisationsinstanzen, Aggressivität oder totaler Rückzug, Konfliktlösung mit körperlicher Gewalt usw. Eine einheimische Mutter über die neuzugewanderten Kinder:

"Die sind aggressiv, gewalttätig und benutzen die furchtbarsten Schimpfwörter. Wenn du die Eltern hörst, denkst du, sie sind alle Lämmer und Genies. Ich glaube, viele werden auch vernachlässigt. Die schlagen total über die Stränge, weil die Lehrer sie schonen und hier nicht diese strenge Erziehung und Disziplin herrscht. Die Eltern überlassen alles der Schule. Wenn die Kinder Ärger machen, sind die Lehrer schuld."

Die Eltern überschätzen die Leistungs- und Umstellungsfähigkeit ihrer Kinder bzw. suchen Ursachen für Lernprobleme und Verhaltensauffälligkeiten nicht bei sich oder ihren Kindern (95). Sie haben ebenso Probleme, das Bildungs- und Erziehungssystem nachzuvollziehen, das sich in bezug auf Disziplin, Erziehungsmethoden, Autorität von Lehrern, Lerninhalten usw. substantiell vom sowjetischen System unterscheidet.

Bei sehr jungen Eltern (d.h. Personen, die mit einem Kleinkind einreisten oder deren Kinder erst hier geboren wurden) beginnt sich jedoch zu zeigen, daß die Wanderung im frühen Familienlebenszyklus offenbar dazu führt, daß hiesige Erziehungs- bzw. Verhaltenspraktiken eher übernommen werden. Diese Migranten besaßen in der Sowjetunion noch keine Sozialisation in der Eltern-Rolle, keine Erfahrungen mit Kindergärten, Schulen oder Erziehung. Je stärker und länger der Kontakt zur Aufnahmegesellschaft in diesen Fragen ist, um so mehr Praktiken werden scheinbar übernommen. Dies geschieht durch den Besuch von Kindergärten und den Kontakt mit einheimischen Eltern, aber bereits in der Geburtsklinik, wo die Eltern eine Unzahl an Werbematerialien und Tips zur Pflege, Ernährung, Erziehung, dem Gebrauch von Spielzeug etc. erhalten und wo Väter, anders als in der UdSSR, bei der Geburt ihrer Kinder anwesend sein können. Diese Veränderungstendenz fällt auf, soll jedoch keinesfalls generalisiert werden; dazu ist die Zahl der diesbezüglich beobachteten bzw. aufgefallenen Eltern zu klein.

Die dritte Problemgruppe, auf die hier eingegangen werden soll, sind die "jungen Älteren", d.h. hier die etwa zwischen 45 und 60jährigen. Die Migranten waren in der UdSSR zumindest bis zum offiziellen Rentenalter durchweg erwerbstätig (siehe 3.3). Arbeit galt als hoher Lebenswert und für Juden bestand in ihrem Beruf oftmals eine der wenigen Möglichkeiten, sich positiv in der sowjetischen Gesellschaft zu behaupten und gesellschaftliche Akzeptanz zu erlangen. Hier angekommen, trägt vor allem die Erfahrung einer Perspektiv- und Hilflosigkeit durch fehlende befriedigende Arbeitsmöglichkeiten (siehe 4.1.1) zur Manifestierung psychischer und somatischer Probleme bei.

"Ich kann nicht schlafen, ich habe dauernd Kopfschmerzen. Ich bin niedergeschlagen. Das hatte ich früher nie. Ich werde verrückt zu Hause. Ich weiß nicht, was ich da anfangen soll. Ohne Arbeit ist mein ganzes Leben sinnlos. Ich würde alles machen, ich bin geschickt. Aber niemand nimmt mich." (A., Goldschmied, 52)

Die "jungen Älteren", für die Arbeit maßgeblicher Lebensinhalt war, leiden unter der Arbeitslosigkeit, während sich jüngere Migranten z.T. damit eingerichtet haben, daß sie nicht unbedingt arbeiten müssen, um zu "überleben".

"Die vor 20 Jahren herkamen, mußten sehr hart kämpfen. Die neuen Zuwanderer haben wenigstens eine materielle Sicherheit. Aber sie sitzen und warten, bis ihnen der Schlußstrich gezogen wird und erst dann fangen sie an, etwas zu tun. Sie verlieren Zeit und merken das nicht." (G., Lehrerin, 34)

Gleichzeitig haben die jungen Migranten bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, betrifft sie die kalendarische Zäsierung in "Arbeitsmarktbrauchbare" und "-unbrauchbare" nicht (die für die Älteren auch bestimmt, ob sie an Umschulungen und vom Arbeitsamt geförderten Deutsch-Kurs teilnehmen dürfen) und sie haben eher Zugang zu Privilegien, Macht, Geld etc. als ihre Eltern-Generation.

"Als Programmierer hab ich gleich Arbeit gehabt. Erst war ich bei der Universität und hab dann gewechselt in ein Wirtschaftsunternehmen. Ich sitze da und schreibe und verdiene an einem Tag soviel, wie ich in Kiew in einem Jahr verdient habe." (R., Informatiker, 35)

Für viele "junge Ältere" bedeutet die Migration bzw. die fehlende Arbeit so u.a. einen enormen Status- und Prestigeverlust gegenüber jüngeren Kohorten, z.B. den ebenfalls migrierten Kindern, und im Vergleich zur Herkunftsgesellschaft. In der Sowjetunion eine anerkannte Autorität gewesen zu sein und hier nicht geachtet und für unwissend gehalten zu werden und anders als dort über weniger sozial bedeutsame Werte zu verfügen als jüngere Migranten, führt daneben zu erheblichen individuellen Dissonanzen, die sich u.a. in den eingangs erwähnten psychischen Problemen und Verhaltensaufälligkeiten widerspiegeln (96). Die Migranten versuchen, diesen Statusverlust und den fehlenden Zugang zu wichtigen Bereichen der Gesellschaft bzw. die darausfolgenden Dissonanzen jedoch auf sehr individuelle Weise zu lösen (97).

Gerade im Beschäftigungsbereich zeigt sich, bei verschiedenen Altersgruppen, daß die Migration nicht nur Bedrohung, sondern auch Chance und Herausforderung darstellt und nicht unter allen Bedingungen und von allen Betroffenen als Streß (oder "kritisches" Lebensereignis) empfunden wird.

"Ich arbeite in meinem Beruf, genau wie in Moskau. Vielleicht bin ich auch deshalb zufrieden, weil ich den Leuten helfen kann." (G., Lehrerin, 34)

"Die Ausreise war mein Glück. Ich kann den ganzen Tag [Klavier] spielen, brauche nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit stundenlang anstehen und wenn ich jetzt nur den zweiten Preis [bei Wettbewerben] bekomme, weiß ich, daß ich schlecht gespielt habe und daß es nicht wegen der Nationalität ist. [..] Das ist alles vorbei. Ich sehne mich nicht zurück, wirklich nicht. Mich interessiert nicht, was draußen passiert. Ich habe endlich meine Ruhe. Ich spiele besser, das merke ich doch." (E., Pianistin, 38)

"Früher war ich Ärztin. Jetzt ist das Schreiben die Therapie für mich. [..] Hier in Deutschland kann ich nichts veröffentlichen, das kostet viel Geld, allein die Übersetzungen. Aber ich mache hier Lesungen auf Russisch. Astrid Lindgren hat mich eingeladen und das Zionistische Forum, nach Israel." (K., Rentnerin, 68)

"Meine Tochter hat gleich gesagt: 'Mama, ich will nicht mit der gelben Karte [Fahrkarte für Sozialhilfeempfänger] gehen'. Sie hat hin und her überlegt, was sie machen kann. Jetzt hat sie einen Service für Pakettransporte in die Ukraine. Viele Leute trauen der Post nicht, da verschwindet doch die Hälfte." (G., 76)

"Erst war ich ja wie lahmgelegt. Es fiel mir schwer, alles selbst zu entscheiden. Hab immer gewartet, daß jemand kommt und alles regelt. Jetzt finde ich es toll, viel besser als früher, wo alles vorgeschrieben war. Ich kann studieren, was ich will, kann meine Seminare festlegen, wie ich will. Ich hab richtig Spaß daran. Wie ein neues Leben. Ich sage mir immer: 'Junge, jetzt wird was aus dir'." (O., Student, 27)

"Mit meinem Beruf [Ingenieur] kann ich nichts anfangen. Aber ich komme auch so durch. Ich fahre eben ein bißchen hin und her, verdiene mal da, mal hier etwas. Man richtet sich eben ein." (G., Ingenieur, 40)

Andere migrierte Ethnien dürften die zuvor genannten Umstellungsprobleme vom Prinzip her ähnlich betreffen. Im Vergleich zu deutschen Aussiedlern, die aus demselben totalitären "Makrosystem" kommen, sind dennoch einige Spezifika erkennbar. Es läßt sich vermuten, daß sie zu einem Teil in der unterschiedlichen Sozialisation und Sozialstruktur beider Gruppen begründet sind. Die Symptome und Auswirkungen der migrationsbedingten Belastungen und Veränderungen zeigen sich bei Aussiedlern zunächst ähnlich - Resignation, Gefühle der Nutzlosigkeit, psychosomatische Beschwerden, erhöhter Alkoholkonsum oder Aggressivität (vgl. Diakonie-Korrespondenz 10/95) - und sie liegen ebenso u.a. in Fremdheit, Arbeitslosigkeit und veränderten Konstellationen in der Sozialhierarchie der Generationen begründet.

Die Differenz zwischen dem Sozialstatus in der Sowjetunion und in der Bundesrepublik ist bei Aussiedlern möglicherweise häufig weniger eklatant bzw. wird weniger gravierend empfunden als bei der Masse der jüdischen Migranten, da die deutschen Aussiedler in der UdSSR u.a. seltener als diese in leitenden Positionen und sozial hochgeschätzten Berufen tätig waren (siehe 3.3). Umgekehrt kann angenommen werden, daß die Abnahme des familieninternen Status' der älteren Aussiedler bzw. der Eltern vergleichsweise relevanter ist als bei jüdischen Zuwanderern, da die Familienoberhäupter, Eltern, Großeltern in der Sowjetunion über ein offenbar proportional höheres Sozialprestige als in jüdischen Familien verfügten. Die Aussiedler stammen - wie gesagt - überwiegend aus ländlichen Regionen mit überschaubaren einfach strukturierten Gemeinwesen und weniger starken Modernisierungseinflüssen und haben an ihrer "deutschen Identität" bzw. der Vorstellung von ihr stärker festgehalten als Juden. In der Literatur (u.a. Dietz 1990; Bade 1993; Koller 1993) wird einhellig berichtet, daß bei Aussiedler-Familien strenge Maßstäbe an Erziehung und Disziplin, väterliche Autorität, Gehorsam und Rollenaufteilungen zwischen Männern und Frauen angelegt werden, daß körperliche Züchtigungen gebräuchlich sind und Aussiedler insgesamt durch traditionell-konservative Wert- und Moralvorstellungen und eine stärkere Religiosität als einheimische Deutsche auffallen (98). Da in ihrem Fall das "Modernitätsdefizit" zur hiesigen Gesellschaft somit noch größer sein dürfte als bei jüdischen Migranten, die diese Verhaltens- und Einstellungsmuster weniger stark aufweisen, sind vermutlich auch die Konflikte anders gelagert oder stärker als bei diesen: Bei Aussiedlern kommt es beispielsweise seltener zu Autonomiebestrebungen von Frauen, die sich auch hier kaum trauen, die Autorität des Mannes anzuzweifeln; bei längerem Aufenthalt nehmen jedoch Auseinandersetzungen zwischen Kindern und Eltern zu (vgl. Dietz 1990).

Aus der unterschiedlichen Sozialisation der beiden Gruppen und dem unterschiedlichen Verhältnis zu Deutschland mag auch mitresultieren, daß sich ihre Einstellungen gegenüber hiesigen gesellschaftlichen Strukturen und damit zusammenhängende Verhaltensweisen unterscheiden. Aussiedler identifizieren sich eher mit der deutschen Gesellschaft, verleugnen ihre Herkunft teilweise, wollen sich um jeden Preis anpassen und "gute Staatsbürger" werden (Dietz 1990); nach einigen Studien zeigen sie dabei jedoch von Ausschließlichkeit bestimmte Einstellungen (entweder man ist für oder gegen das System/die Regierung) und neigen dazu, Pluralismus mit Chaos gleichzusetzen; sie sind stark auf Obrigkeit ausgerichtet, ohne an eigene Einflußmöglichkeiten zu glauben (Bade/Troen 1993).

Zur jüdischen Gruppe liegen keine verläßlichen Studien zu Wertvorstellungen, Systemwahrnehmung etc. vor. Im täglichen Umgang mit Zuwanderern fällt auf, daß sie "materielle" Inhalte und Aspekte des Aufnahmesystems (wie Aussiedler auch) schnell übernehmen, an gesellschaftlichen und politischen Strukturen jedoch mehrheitlich ausgesprochenes Desinteresse zeigen, individualistisch orientiert sind und nur Gegebenheiten und Gesetze zur Kenntnis nehmen, die die eigene Person bzw. Gruppe betreffen, ihr nutzen oder schaden könnten (99). Zum anderen entsteht der Eindruck, daß sie (die neue) "Obrigkeit" generell anzweifeln, bestimmte Rechte und Freiheiten einfordern und praktizieren, die sie für typisch kapitalistisch halten und sich relativ wenig von Loyalitätserwägungen gegenüber dem hiesigen System oder seinen Institutionen leiten lassen; sie zeigen oftmals ein hohes Selbstbewußtsein gegenüber Autoritäten und verwenden viel Energie darauf, Entscheidungen zu ihren Gunsten zu beeinflussen oder zu revidieren. Zudem werden Entscheidungen und die Rechtssprechung meist als (vorteilhaft) uneinheitlich und beeinflußbar wahrgenommen. Die o.g. Einstellungen und Verhaltensweisen werden durch die häufig erfolgreichen eigenen oder fremden Interventionsversuche verschiedener Arten (die sich z.T. an mitgebrachten Techniken aus der Sowjetunion orientieren), bestärkt (100).

Insgesamt lösen viele Migranten nach einer Anfangsphase der Euphorie und schnellen Erwartungsenttäuschung, der oft Lethargie oder Hyperaktivität folgt, ihre Orientierungskrisen relativ schnell. Sie sind dann in der Lage, die Ressourcen ihres bisherigen Lebenslaufes (innerhalb des eigenen ethnischen oder deutschen Umfeldes) auch hier zu nutzen, zeigen sich mobil und risikofreudig und finden individuelle Problemlösungsstrategien. Dabei hinterfragen sie etablierte Strukturen meist emotionsneutral und rational nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip, verwerfen Werte und Normen der hiesigen Gesellschaft teilweise oder nehmen sie, als für den neuen Lebensentwurf unnötig oder unpassend, nicht an. Will man die Migranten anhand ihrer Orientierungsformem und Bewältigungstrategien einteilen, lassen sich tendenziell zumindest drei Positionen bzw. Gruppen unterscheiden (siehe auch 4.3) (101):

Die erste Personengruppe hält sich dauerhaft in Deutschland auf, ist aber innerlich (noch?) nicht angekommen und desintegriert. Sie lebt häufig sowohl vom russisch- als auch deutschsprachigen Umfeld segregiert, ist verhaltensunsicher, resigniert und fügt sich in von außen zugewiesene Positionen. Sie ist u.U. bereit, sich partiell an der Aufnahmekultur zur orientieren, kann ihre Zugehörigkeits-, Selbstwert- und Kulturkonflikte jedoch nicht lösen, fühlt sich (oder ist) machtlos und isoliert. Diese "marginale" Position läßt sich relativ unabhängig vom Bildungsniveau vor allem bei Personen mit wenig Machtmitteln, bei älteren und betagten (oft alleinstehenden) Zuwanderern beiderlei Geschlechts nachweisen sowie bei orientalischen Juden auch mittleren Alters.

Die zweite Gruppe erhält sich beide Bezugskontexte, übernimmt aber nur unabdingbar nötige Handlungs- und Orientierungsweisen der Aufnahmekultur. Der größere Teil der Gruppe lebt ständig und ohne Rückkehrabsicht in Deutschland, der kleinere Teil "pendelt zwischen den Welten" und nutzt die Chancen, die sich in der alten und in der neuen Umgebung ergeben. Die gesamte Gruppe (bzw. ihre Mitglieder) zeigt eine Gruppendifferenzierung nach außen, begibt sich in selbstgewählte "Ghettos" und pflegt Kontakte fast ausschließlich zum russischsprachigen und u.U. jüdischen Umfeld. Sie segregiert sich bewußt und gewollt von der einheimischen Bevölkerung/Kultur, versucht die mitgebrachte Identität und Kultur und die Beziehungen zum Herkunftssystem zu erhalten sowie Personen, zu denen Bindungen bestehen, nachreisen zu lassen. Diese Konstellation, eine quasi "herkunftsorientierte" Position, findet sich überwiegend bei Mitgliedern der "Zwischengeneration" (etwa 35 - 55jährige), sowohl bei europäischen als auch orientalischen Migranten, seltener bei Migranten aus Berufen mit hohem gesellschaftlichen Prestige und überdurchschnittlichem Bildungsnivau. Bei Zuwanderern mit diesem Orientierungsmuster sind Probleme in bezug auf Fremdheitsgefühle, Moral- und Wertvorstellungen, Statusdegradierung oder Zukunftsangst seltener zu bemerken.

Die dritte Gruppe orientiert sich sowohl an der Herkunfts- als auch Aufnahmekultur, akzeptiert ihre Herkunft bewußt unter teilweiser Aufgabe bisheriger Verhaltensweisen und Normen und ist offen gegenüber der Majoritätskultur, ohne jedoch alle Kategorien zu übernehmen, so wie sie es schon in der UdSSR häufig erfolgreich praktizierte. Bezüge bestehen zur deutschen Majorität und zur russischen oder jüdischen Gruppe; es wird versucht, Eigenständigkeit zu bewahren und zugleich der/ den Mehrheit(en) ähnlicher zu werden, vor allem durch Konsum- und Leistungsorientiertheit und ein partielles "ethnic revival" in bezug auf das jüdische Umfeld. Diese Charakteristika - eine Art "duale Orientierung" - weisen insbesondere junge Migranten und Mitglieder der "Zwischengeneration" beiderlei Geschlechts, eher europäische als orientalische Juden sowie meist Personen mit höherer Bildung auf. Sie bewältigen trotz emotionaler und kognitiver Konflikte die Migration weitgehend erfolgreich, stellen positive Ortsbezüge her und richten sich in und mit ihrer neuen Umgebung ein.

4.3 Zusammenfassende Diskussion

In diesem Kapitel wurden einzelne Bereiche, Aspekte und Fakten des Lebens der Migranten in ihrer neuen Umgebung beschrieben, die im folgenden zusammengefaßt und gleichzeitig hinsichtlich ihrer gegenseitigen Verknüpfung betrachtet werden.

Zunächst zur Situation der jüdischen Migranten in bezug auf ihre sozialstrukturelle Position (102): Von der Stellung im Arbeits- und Erwerbssystem hängt maßgeblich ab, über welches Einkommen,  welchen Status, wieviel Macht eine Person verfügt, welche Konsum- und Wohnmöglichkeiten ihr offenstehen, d.h. insgesamt, wie sie bzw. eine Gruppe sich gegenüber der einheimischen Bevölkerung positionieren kann. Als ein Spezifikum der jüdischen Migrantengruppe kann zunächst angesehen werden, daß für einen erheblichen Teil von ihr der Arbeitsmarkt aufgrund des Alters nicht die zentrale Instanz für die Zuteilung von Ressourcen, Risiken, Chancen und Positionen ist. Dies gilt in erster Linie für diejenigen, die bei ihrer Einreise über 60 Jahre alt waren. Für sie werden lediglich die (somit auch begrenzten) ökonomischen Beziehungen als Konsumenten und nicht als Produzenten Ausgangspunkt der Verknüpfung mit der neuen Gesellschaft. Hier ist auch der größte Teil jener Migranten einzubeziehen, die dem Arbeitsmarkt zwar noch zur Verfügung standen, aber bei ihrer Einreise bereits älter als (etwa) 50 Jahre waren und die nur in Ausnahmefällen überhaupt eine, wie auch immer geartete, Arbeit finden; beide Gruppen machen zusammen annähernd 40 % aller Berliner Migranten aus. Mit dem Umstand, daß die Migration dieser älteren Personen in erster Linie der Zusammenführung mit Familienmitgliedern diente und eher sozial als ökonomisch-individuell motiviert war, kann zugleich angenommen werden, daß bei einem Teil dieser Zuwanderer auch keine Eingliederungsabsicht in den Arbeitsbereich vorlag.

Aber auch die Mehrheit der jüngeren, seit 1990 eingereisten, arbeitssuchenden Migranten hat auf dem deutschen Arbeitsmarkt bislang keine Arbeit gefunden; die beschäftigte Minderheit übt wiederum ihren Berufen oder ihrer Ausbildung inadäquate Tätigkeiten aus. Die Zuwanderer gehören aufgrund ihrer Bildungs- und Berufsprofile selten der Arbeiterschaft an und konkurrieren um andere Bereiche als z.B. die meist zur Kategorie der Produktionsarbeiter gehörenden "klassischen Gastarbeiter", jedoch wird auch ihnen der Zugang zu qualifizierten Bereichen im Aufnahmesystem verwehrt. Zum einen bestehen restriktive Berufsanerkennungsbedingungen für Akademiker (besonders für Mediziner, Lehrer) und fehlen zuwanderer- bzw. realitätsbezogene Umschulungs- und Weiterbildungsangebote; sind sie vorhanden, wird den Migranten der Zugang sehr viel häufiger als der einheimischen Bevölkerung verwehrt. Zum anderen wird auch bei adäquaten Voraussetzungen (und ebenso den früher Eingewanderten) meist nur Zugang in funktional erforderliche und vom Aufnahmesystem zugelassene oder nachgefragte Bereiche des Sekundärsektors gewährt: die beschäftigten Migranten verrichten Hilfsdienste, Zuarbeiten und Anlerntätigkeiten, arbeiten unter ihrer Qualifikation und unterbezahlt. Einige wenige Spezialisten, hauptsächlich aus dem naturwissenschaftlichen und technischen Bereich, konnten berufsadäquate Arbeitsplätze besetzen.

Im Arbeits- und Bildungsbereich treten individuelle Faktoren als Ursachen für die geringe Beschäftigungsquote auf dem deutschen Arbeitsmarkt hinzu: bestimmte nicht nachgefragte berufliche Spezialisierungen, mangelnde Umstellungsfähigkeiten und tätigkeitsbezogene Motivationen, überhöhte Ansprüche, das Alter, Gesundheitsprobleme, unzureichende Deutschkenntnisse usw. Gleichzeitig stehen eine Diskriminierung und Benachteiligung im Berufs- und Bildungsbereich und ein fehlender Zugang zu Lern- und Erfahrungsprozessen einer aktiven Aneignung der Umwelt entgegen, die umgekehrt durch (antizipierte und reale) Gleichbehandlung wiederum unterstützt und motiviert wird. Bei Personen mit guten Aufstiegschancen (u.a. formaler Berufsanerkennung und Akzeptanz) zeigte sich, daß sie sehr viel eher bemüht sind, Deutsch zu lernen und sich an der Umgebungsgesellschaft zu orientieren, als diejenigen, die geringe berufliche Eingliederungschancen haben; dies trifft ebenso häufiger auf die jungen Migranten zu, die ein Studium oder eine Ausbildung beginnen oder hier abschließen können (Personen mit entsprechender Vorbildung und Kontingentflüchtlingstatus) als auf diejenigen, die auf den nichtakademischen Ausbildungssektor angewiesen sind, in dem sie angesichts des allgemeinen chronischen Mangels an Ausbildungsplätzen als Ausländer kaum Aufnahmechancen haben.

Die Begrenzung der Teilhabemöglichkeiten und das u.a. daraus resultierende Hierarchieverhältnis zwischen den Migranten und der einheimischen Mehrheit sind, verbunden mit individuellen Voraussetzungen, wiederum Ursache dafür, daß ein Teil der Zuwanderer selbständige oder auch vom deutschen Arbeitsmarkt bzw. der Umgebungsgesellschaft relativ unabhängige Erwerbstätigkeiten aufgenommen hat (die z.T. aber staatlich gefördert werden), eine Art "ethnische Ökonomie" begründet und sich den ungünstigen äußeren Bedingungen zu entziehen versucht. Seitens der Migranten geschieht dies in Abhängigkeit vom Alter und der regionalen und sozialen Herkunft der Migranten (Jüngere, Großstädter, Personen aus nichtwissenschaftlichen Berufszweigen und solche mit Vorerfahrungen im Handels- und Dienstleistungssektor sind hier am mobilsten und flexibelsten) und den Motivationen und Zielen der Einzelnen (z.B. Unabhängigkeit, soziale Sicherheit, schnellstmögliche Anhebung des Lebensstandards, Erwerb der materiellen Kultur). Wichtige äußere Bedingungen stellen die Größe der in Deutschland bzw. Berlin lebenden russischsprachigen Gruppe dar (die Waren/Dienstleistungen nachfragt und billige Arbeitskräfte bietet und innerhalb derer deutsche Sprachkenntnisse nur bedingt erforderlich sind), zweitens die regionale Nähe zum Herkunftssystem, die Reisemöglichkeiten und der Kursunterschied der Währungen (in bezug auf die Beschaffung von Waren/Dienstleistungen bzw. ihre Absetzung) und drittens spezifische Interessen bzw. Nachfragen der einheimischen Bevölkerung (z.B. in Bezug auf russische oder jüdische Gastronomie, Kunst und Kultur). Einige Zuwanderer können nun ihre eigenen Berufe weiternutzen (z.B. Schuster, Künstler), andere (z.B. Techniker, Ingenieure, Lehrer) wechseln in berufsfremde Branchen (z.B. Export-Import, Reinigungsfirmen) oder werden bei den eigenen, z.T. früher eingereisten Landsleuten (oft unterqualifiziert und -bezahlt) beschäftigt; dort finden wiederum auch Ältere Arbeitsmöglichkeiten, die ihnen sonst verschlossen blieben. Diese "ethnische Ökonomie" darf als weiteres Spezifikum der jüdischen Migrantengruppe gelten, nicht wegen ihres Vorhandenseins, wohl aber wegen der, gegenüber anderen ausländischen Ethnien vergleichsweise auffälligen, Schnelligkeit, mit der sie entstanden ist und sich entwickelt (103).

Ungeachtet dessen lebt ein erheblicher Teil der Zuwanderer noch von geringfügigen Einkommen oder staatlichen Transferleistungen. Dennoch haben sich die materiellen Lebensverhältnisse eines Großteils der Migranten - gegenüber ihrem Leben in der Sowjetunion und dem Zeitpunkt ihrer Einreise - verbessert, auch wenn sie noch nicht mit denen bundesdeutscher Bürger vergleichbar sind. Die wichtigsten Konsumwünsche konnten in aller Regel erfüllt werden (die Übernahme von Konsummustern erfolgt daneben am schnellsten) und Ungleichgewichte zur einheimischen Bevölkerung werden teilweise durch die Nutzung von Gütern aus den früheren Ostblockländern, Discount- und Billigangeboten sowie preiswerten Lebensmitteln kompensiert.

Unabhängig von individuellen Ungleichbehandlungen und der stärkeren Reglementierung von Ausländern gelten daneben die Minimalstandards des bundesdeutschen Sozial- und Gesundheitssystems bislang auch für die Zuwanderer und werden meist in gleicher Weise wie für einheimische Bevölkerungsteile ähnlicher sozialer Lagen (z.B. Arbeitslose, Behinderte) angewandt bzw. die Migranten sind durchsetzungsfähig genug, um sie einzufordern. Ausgenommen sind hier Personen ohne Kontingentfüchtlingsstatus und diejenigen Älteren, die dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen bzw. sich dort nicht mehr etablieren können (zusammen ist dies wieder etwa die Hälfte der Gruppe). Da Letztere als Ausländer keine Rentenansprüche geltend machen und hier keine Ansprüche mehr erwerben können, sind sie dauerhaft auf den Bezug von Sozialhilfe angewiesen und - in einigen Fällen bereits heute, aber spätestens im Zuge der angekündigten Kürzungen von Leistungen für Minderbemittelte - von Altersarmut betroffen; beides Faktoren, die auch ihr Selbstgefühl erheblich beeinträchtigen.

In bezug auf die Wohnraumversorgung/Wohnsituation - bis auf die Wohnsitzbindung liegt hier keine formale Benachteiligung gegenüber Einheimischen vor -, führt die provisorische Unterbringung in Heimen und überbelegten Wohnungen, je nach Dauer und Anspruchsniveau der Einzelnen ebenfalls zu Problemen. Inzwischen ist die Wohnsituation für einen Großteil der (Berliner!) Zuwanderer jedoch zufriedenstellend. Gerade die räumliche Mobilität und die Wohnpräferenzen, über die uns vergleichsweise viele Informationen vorlagen, belegen die Bedeutung individueller Bemühungen und des Vorhandenseins von Beziehungsnetzen, die Erstrangigkeit des eigenen Wohnraums für das neue Leben und vor allem die Flexibilität und Mobilität der jüdischen Migranten aller Altersgruppen, denen es auf einem völlig überlasteten Wohnungsmarkt – z.T. durch mehrfache Umzüge - gelingt, gewohnte Standards wiederzuerlangen oder zu übertreffen und sich - trotz Wohnsitzbindungen und rechtlichen Konsequenzen - ungünstigen regionalen Bedingungen zu entziehen. (Aus dem Mobilitätsverhalten ließe sich auch auf das Mobilitätspotential in bezug auf den Arbeitssektor schließen, der dem Wohnbereich auf der Rangskala folgt, aber aufgrund zu kurzer Aufenthaltszeiten für einen Teil der Migranten bislang noch keine Rolle spielt oder noch unwichtiger als ein Arbeitsplatz ist.)

Auch wenn die Migranten in der Lage sind, sich den Rechtskonstruktionen, die das Aufnahmesystem für Ausländer vorsieht, teilweise zu entziehen, bedeutet das 'Migrant-Sein' schwerwiegende Abhängigkeiten und Benachteiligungen gegenüber der einheimischen Bevölkerung. Der Ausländer- und "Mitbürger"-Status ist das Bindeglied für Ausgrenzungen in den meisten Bereichen und deren gesetzliche und "mentale" Absicherung (104). Die Migranten unterliegen ausländerrechtlich begründeten Wohnsitz-, Berufsanerkennungs- und Arbeitsregelungen, werden als Ausländer/Juden von Teilen der Bevölkerung diskriminiert/stigmatisiert, sind politisch machtlos, als Nicht-Staatsbürger (Nicht-Wähler) keine Klientel für die Politik und ihr Aufenthaltsrecht wird von ihnen selbst als relativ unsicher wahrgenommen, auch wenn es sie - wenn sie den Flüchtlingsstatus besitzen - anderen ausländischen Gruppen gegenüber privilegiert, die über kein sicheres Bleiberecht verfügen (die befristeten Aufenthaltstitel von 1/5 der Berliner Zuwanderer sind jedoch ebenfalls prinzipiell aufkündbar). Das Fehlen staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten, eingeschränkte Partizipationsmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft/Arbeitswelt und Ausgrenzung behindern zudem das Entstehen von Loyalität, Annäherung und Interesse an der (u.a. politischen) Kultur und der Gesellschaft des Landes bzw. an eigener Beteiligung, seitens der Migranten wiederum begünstigt durch eine eher individualistische Ideologie, die sich u.a. aus der Ablehnung der alten sozialistischen Ordnung und einem neuem Konkurrenzneid ergibt. Selbst wenn sich die Migranten Ressourcenzugänge eher zu verschaffen wissen als andere Einwanderergruppen und z.T. bereits bessere Voraussetzungen dafür mitbringen, muß die Integration in das Aufnahmesystem – bei Unterschieden in Teilbereichen und für einzelne Personen - als insgesamt gering bis mittelmäßig bzw. als partiell bezeichnet werden, mißt man sie an der sozialen und beruflichen Situation und der gesellschaftlichen Stellung/Akzeptanz der Migranten. Dieser Eindruck verstärkt sich, wird die Ebene der sozialen Beziehungen und die "kognitiv-soziokulturelle" Ebene (u.a. Orientierungsrichtungen, das Maß des Erwerbs von Kenntnissen und Fähigkeiten) einbezogen: Das Leben der Migranten spielt sich weitgehend unabhängig von der deutschen Umgebungsgesellschaft ab oder läuft neben ihr her; Beziehungen beschränken sich größtenteils auf die Familie, den russischsprachigen Freundes- und Bekanntenkreis und/oder das jüdische Umfeld; Ehen werden innerhalb der eigenen Gruppe geschlossen. Informelle Kontakte zu Deutschen sind selten und finden dort statt, wo Kontakthäufigkeit gegeben ist (Schule, Arbeit), meist ohne zu positiven Beziehungen zu führen. Die formellen Kontakte werden als unbefriedigend bezeichnet; die Migranten nehmen bei "den Deutschen" eine "andere" Mentalität wahr, sind sich sicher, daß sie keine "Deutschen" oder "wie Deutsche" werden wollen und deren Verhaltensmischung aus "Abwehr und Umarmung" wird mit Mißtrauen und Irritation begegnet. Eine erhebliche Anzahl von Zuwanderern verfügt daneben nur über unzulängliche Deutsch-Kenntnisse und ein äußerst fragmentarisches Wissen über ihre soziale und räumliche Umgebung sowie die Strukturen der deutschen Gesellschaft; ihre gesellschaftliche Partizipation reduziert sich auf die Partizipation am Konsum, in dem Maße, wie die individuelle Situation dies gestattet. Die Eingliederung bzw. die Annäherung an die hiesige Gesellschaft bleibt ohne eine breite Interaktionsbasis und informelle Beziehungen partiell; das Aufnahmesystem und seine Bevölkerung versagen oder erschweren Kontakte, Orientierungs- und Lernmöglichkeiten (105). Andererseits zeigten bereits einige Tendenzen im Arbeits- und Wohnbereich, daß die Lebensgestaltung der Migranten keinesfalls nur von den Vorgaben und Angeboten der majoritären Kultur bzw. des Aufnahmesystems, sondern ebenso von Kontroll- und Einflußmöglichkeiten der Migranten und ihren Motivationen abhängt. Kausalitäten - z.B. in bezug auf Desegration oder Nichterwerb von Fähigkeiten und Kenntnissen - sind so auch schwer nachvollziehbar.

Als typisch ist beispielsweise der Wunsch eines Großteils der Migranten, "unter sich bleiben" zu wollen, zu bezeichnen. Die gewünschte Segregation geht mit dem hohen Wert, der auf soziale Beziehungen, Kommunikation und Bindungen innerhalb der eigenen Familie/Gruppe gelegt wird und mit der Distanzierung gegenüber Teilen der Gesamtmigrantengruppe einher. Das Sozialverhalten ähnelt dem in der alten Heimat - Beziehungen werden nach regionaler Herkunft, politischer Anschauung, Bildung, gesellschaftlicher Position aufgebaut oder weitergeführt und sind gleichzeitig weniger "außenorientiert", als in der hiesigen Gesellschaft üblich. Faktoren, die ein "unter sich bleiben" ermöglichen, sind u.a. der Familienstand (der überwiegendere Teil ist verheiratet und hat zumindest ein Kind), die hohe "Verwandtschafts- und Freundeskreisdichte" (infolge der schnellen Kettenwanderung), die Nähe der Heimat (die Kontakte und Besuchsreisen ermöglicht) und insbesondere die "ethnic community". Das Berliner Beispiel dürfte in bezug auf diese Geschlossenheit bislang einzigartig sein (Parallelen sind in Frankfurt/M. und München beobachtbar). Nur hier existierte bereits eine miteinander verknüpfte, große "ex-sowjetische" und "jüdische" Infrastruktur/Gruppe, die sich mit dem Zuzug einiger Tausend Personen massiv ausgeweitet hat. Davon abgesehen, daß ein Teil der Migranten auf der institutionellen Ebene des "jüdischen Teils" dieser Gesamtheit formal ausgeschlossen ist und daß die "ethnische Gemeinde" in bezug auf kulturelle, religiöse und soziale Hintergründe weder homogen ist noch zwingend gemeinsame Werte vertritt, ist sie für die Migranten ein wesentlicher Bezugspunkt des Orientierungssystems und Machtbasis für Interessenschutz (106).

Aus der Gesamtheit der Beobachtungen über die "Vierte Welle" läßt sich schlußfolgern, daß diese "ethnic community" (bzw. deren relative institutionelle und personelle Vollständigkeit/Größe) mittels ihrer Versorgungs-, Entlastungs- und Vergleichsfunktion einerseits eine mentale und teilweise soziale Absicherung sowie die Aufrechterhaltung/Entwicklung ethnischer und subkultureller Besonderheiten/Präferenzen ermöglicht und Voraussetzung für die Eingliederung ist, sie aber andererseits gleichzeitig behindert. Ein erheblicher Teil der Migranten unterhält beinahe alle seine Primärkontakte und die Mehrzahl der Sekundärkontakte innerhalb dieser Gemeinschaft (dies ist auch bei vielen Personen und Familien beobachtbar, die seit Beginn der sowjetischen Einwanderung vor etwa 25 Jahren hier leben). Das Vorhandensein eigener Netzwerke, Angebotsstrukturen und Beziehungen erlaubt ihnen nicht nur, Zugang zu bestimmten Bereichen zu erlangen (Arbeit, Wohnen, Freizeit, Erziehung, Religion), sondern auch innerhalb der ethnischen Beziehungslinie zu verbleiben und eine Orientierung an der Mehrheitsgesellschaft bzw. den Vergleich mit ihr und intensivere interethnische Kontakte von sich aus zu umgehen. Für viele Migranten ist es somit vorläufig ausreichend, gewisse notwendige Basisorientierungen und -qualifikationen "funktionaler" Art zu erwerben; die beidseitig schwierige Kontaktaufnahme zur einheimischen Bevölkerung, das gründliche Erlernen der Sprache, die Übernahme sekundärer Verhaltensmuster (die Außenorientierung) ist nicht überlebensnotwendig (107). Denjenigen, die mit dem Versuch, in Bereiche des Aufnahmesystems zu gelangen (Arbeit, Kontakte, Akzeptanz zu finden) gescheitert sind oder die sich aufgrund einer "Andersartigkeit" massiven externen Typisierungen ausgesetzt sehen, wird der Rückzug wiederum erleichtert. In einem Fall bedienen, im anderen Fall kompensieren die sozialen Beziehungen und Einrichtungen innerhalb der russischsprachigen bzw. jüdischen Ethnie die Motive und Bedürfnisse der Migranten nach Akzeptanz, Bindungsorten, Heimat/-erinnerung, Sicherheit, nach Reorganisation ohne Neuanpassung - mit Beziehungen untereinander und mit russischen (bzw. kaukasischen, moldawischen etc.) Dienstleistungsunternehmen, Restaurants, Klubs, mit Theatern, Zeitungen, Radio- und Fernsehprogrammen usw. und mit jüdische Schulen, Seniorenheimen, Kindergärten, Freizeittreffpunkten, Sozialstationen.

Die "Binnenintegration" der Migrantengruppe (in bezug auf Eheschließungen, Geburten, das Ausmaß der Kontakte, "Ähnlichkeit") läßt sich so auch als relativ hoch, intakt und für den Teil der Migranten als zufriedenstellend bezeichnen, der unter 4.2.3 als "herkunftsorientiert" bezeichnet wurde und der nur notwendigste primäre Verhaltensmuster und Regeln pragmatisch übernimmt und die mitgebrachten versucht, gegenüber der Aufnahmegesellschaft durchzusetzen. Die da "dual orientiert" genannten Personen beziehen Vergleich, Entlastung und Versorgung auch aus der ethnischen Gemeinde, orientieren und messen sich jedoch gleichzeitig an der Aufnahmegesellschaft, erwerben über grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten hinausgehende Sprachkompetenzen, arbeitsbezogene Qualifikationen, gesellschaftlich-kulturelles Wissen und Kulturpraktiken und haben die häufigsten Kontakte zu Einheimischen.

Die jüdische Migrantengruppe, die - wie jede Migrantengruppe - durch ungeklärte Gruppenzugehörigkeiten gekennzeichnet ist, beginnt sich vor allem an der Stellung im Lebenszyklus (dem Einreisealter) und in Abhängigkeit von regionaler/sozialer Herkunft, Anspruchsniveaus, vorhandenen Machtmitteln und ethnischen Bindungen auszudifferenzieren. So gehören der zuletzt genannten Gruppe - eher als der erstgenannten - jüngere, unabhängige Personen mit guten beruflichen Ressourcenzugängen und in bestimmten (z.B. Familien)Rollen noch nicht sozialisierte, aber auch mobile Ältere mit hohem Bildungsniveau oder kulturell interessierte Migranten an. In dieser Gruppe finden sich z.T. die Kinder jener Migranten, die oben in einer "marginalen" Position befindlich beschrieben wurden. Diese sind, bikulturell orientiert, nicht in der Lage, ihre Orientierungs-, Selbstwert- und Statusverluste und die veränderten Familienkonstellationen (fehlende Nähe zu Zurückgebliebenen oder getrenntes Wohnen von den Kindern) zu überwinden und ziehen sich zurück bzw. werden zurückgestoßen. Die schnellere Übernahme von Praktiken aus der neuen Umgebung bei den Kindern verändert die familiären Beziehungen und Rollen dieser meist älteren Migranten, die ohnehin bezüglich der Altersschichtstruktur im Vergleich zur Herkunftsgesellschaft an Status verloren haben, was als Spezifikum auch für viele ältere jüdische Migrantinnen gilt, die in der Sowjetunion ihr Prestige- und Machtpotential i.d.R. über familieninterne Rollen hinaus auf ökonomischen und gesellschaftlichen Rollen begründeten.

Die intervenierenden Bedingungen und Faktoren, die das "neue" Leben der jüdischen Zuwanderer bestimmen, konnten nicht in ihrer Gesamtheit und für einzelne Personen oder gar Kohorten aufgezeigt werden und endgültige Aussagen sind nicht zu treffen. Berücksichtigend, daß die Aufenthaltsdauer selbst der in Anfangsphase der "Vierten Welle" eingereisten Migranten noch vergleichsweise kurz ist und die Gesamtgruppe über ein hohes Mobilitätspotential verfügt sowie relativ individualistisch-, leistungs- und konsumorientiert ist, ist jedoch die Annahme gerechtfertigt, daß ein Teil - vor allem der jüngeren Migranten - eine realistische Chance hat, Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten zu finden, und je nach weiteren Partizipationschancen, Sozialisierungsbedingungen und eigenen Motivationen und Fähigkeiten u.U. in höhere berufliche und soziale Statusbereiche aufsteigen und zunehmend Maßstäbe der Aufnahmegesellschaft heranziehen wird. Dies dürfte ebenso für die nachwachsende Generation und die in der Migration geborenen Kinder gelten, deren Zukunftsaussichten durch den Besuch hiesiger Schulen steigen und denen die "russisch-jüdische" Umgebung längerfristig nur noch in Teilbereichen und für Teilorientierungen genügen wird, auch wenn sich deren soziale und ökonomische Infrastruktur qualitativ und quantitativ ständig erweitert. Für die große Mehrheit der älteren Generation werden sich die soziale und psychische Situation und die Beziehungen zur Umgebungsgesellschaft auch perspektivisch kaum noch verändern, da sich weder ihre eigenen Voraussetzungen noch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen - in der ihr verbleibenden Lebenszeit - grundsätzlich verändern werden.

 

Anmerkungen:
(53) Die verwendeten Prozentwerte errechnen sich aus den Angaben der Zuwanderer, wie sie im Fragebogen und der Computerdatei gespeichert wurden. Die Bestätigung bzw. Aktualisierung der Daten zur Beschäftigung der potentiell betroffenen (17- 65jährigen ) etwa 2.700 Personen war - über eigene Angaben der Zuwanderer oder Nachfrage - jedoch nur für ca.1.500 Personen möglich. Die Hochrechnungen auf alle Personen im arbeitsfähigen Alter sind demnach Schätzungswerte, die Fehlerquoten aufweisen können, dies besonders in bezug auf die länger in Berlin Lebenden (da von ihnen Veränderungen seltener gemeldet werden) und auf die nichtmögliche Erfassung von informellen Erwerbstätigkeiten, als weitere Fehlerquelle bei der Errechnung des Anteils der Beschäftigten.
(54)
Das sowjetische Bildungssystem ist mit dem deutschen schwer vergleichbar. Nach dem obligatorischen Grund- (4 Jahre) und Mittelschulbesuch (4 Jahre) kann mit einer sog. "unvollständigen Mittelschulbildung" abgeschlossen werden (ähnlich Hauptschulabschluß), die zum Besuch beruflich-technischer Schulen und mittlerer Fachschulen berechtigt. Wird die Mittelschule zwei weitere Jahren besucht ("vollständige Mittelschulbildung"), kann nach einer Aufnahmeprüfung an Technischen Lehranstalten und Hochschulen studiert werden.
(55) Bei Personen ohne den Status eines Kontingentflüchtlings (in Berlin etwa 1/5 aller) werden die Berufsanerkennungsverfahren noch rigider gehandhabt, womit viele Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt und Motivationspotentiale verschlossen bleiben. Da sie zudem keinen Anspruch auf Deutschkurse, Fortbildung usw. haben, ist das Finden eines formellen Arbeitsplatzes nahezu unmöglich.
(56)
Die Sprachkenntnisse bleiben so häufig auf einem niedrigen Niveau oder beschränken sich auf Begriffe, die in Russisch keine Entsprechung haben oder hier am häufigsten gebraucht werden: z.B. "Arbeitsamt"; "Schein na kvartiru" (Wohnberechtigungsschein); "Widerspruch"; "Angebot"; "Sozial" (Sozialamt); "Gemeinde"; "Vollmacht" usw. Etliche Migranten geben an, keine Gelegenheit zu haben, Sprachkenntnisse zu vertiefen bzw. sich nicht zu trauen oder zu schämen, sie anzuwenden. Auch bei Personen, die in den 70er und 80er Jahren eingereist sind und damals schon nicht mehr jung waren, fällt auf, daß sie bis heute schlecht oder kaum deutsch sprechen, sich hier also offenbar z.T. über Jahrzehnte in einer russischsprachigen Umgebung aufgehalten oder isoliert gelebt haben. Die betagten Migranten lernen daneben kaum noch deutsch, unabhängig davon, wo sie herkommen oder ob sie Familienangehörige hier haben. Personen, die jiddisch sprechen bzw. aus früher deutschsprachigen Teilen des Baltikums stammen, können diesen Vorteil geltend machen, andere sind völlig von der Hilfe ihrer Umgebung abhängig.
(57)
Unter 5 % der deutschen Aussiedler beherrschen perfekt deutsch, nur 20 % können sich auf Deutsch gut verständigen (Hilkes 1990, S.287f).
(58)
R.,Optikerin, seit 1972 in Berlin: "Nach einem Jahr hatte ich zehn paar Schuhe aus dem Sonderangebot, aber immer noch keine Arbeit. Die Hoffnung, jemals wieder normal zu leben hatte ich aufgegeben, vielleicht auch verdrängt. Mein Mann hat mir dauernd gesagt: 'Du wolltest ja unbedingt hierher; wären wir in Odessa geblieben, hätten wir jetzt wenigstens eine ordentliche Arbeit'. Irgendwie ist das heute alles nicht mehr wahr. Wir haben beide Arbeit und die Kinder gehen aufs Gymnasium." S., Kaufmann, seit 1974 in Berlin: "Wir konnten ja deutsch, nach einer Woche hatte ich schon Arbeit, die hab ich über eine Zeitungsanzeige gefunden. Meine Frau wurde sogar beamtet. Meine Söhne sind inzwischen erwachsen, einer ist Zahnarzt, der andere Optiker."
(59)
Die Medien berichten regelmäßig von der sog. "Russen-Mafia", die jedoch hauptsächlich aus nicht melderechtlich registrierten Russen, Ukrainern und Tschetschenen besteht (z.B. Berliner Morgenpost 4.3.95; DER SPIEGEL 35/1995); neben Schutzgelderpressung, Prostitution, Drogen- und Waffenhandel befaßt sie sich jedoch auch mit der Vermittlung von Aufenthaltsgenehmigungen für Juden bzw. "jüdischen Papieren" für Nichtjuden (u.a. Rheinische Post,10.8.94).
(60)
Die Studie verzerrt die reale Situation, z.B. durch: Interviews an "vorbelasteten" Orten (u.a. "Handelsplätze in Wäldern in der Nähe russischer Kasernen"); die Art der Fragestellungen (z.B. "Würden Sie sich gern durch Schwarzarbeit ein Zusatzeinkommen verdienen?" bzw. "durch den (illegalen) Handel mit der Sowjetischen Armee?"); falsche Angaben (u.a. Sozialhilfeempfänger könnten keine Konten eröffnen; eines der "Erkennungsmerkmale" der Migranten sei ihr "niedriges Durchschnittsalter"); fragwürdige Interpretationen (z.B. Führerscheinbesitz zeuge "von einer hohen Aktivität der Migranten"), die sich partiell widersprechen (z.B. sollen die meisten "schwarz"/ illegal gute Geschäfte machen und "gute Lebensbedingungen" haben, andrerseits fehle ihnen z.B. das Geld für die Renovierung der Wohnung); Werturteile ("Quasi-Migranten"; "Wunsch sich zu bereichern"; "ohne moralische Bedenken"). Vor allem durch ständige Generalisierung ("ein derart hoher Prozentsatz"; "alle", "charakteristisch","generalisierbar") bei gerade 100 Befragten wird der Eindruck erweckt, bei der Gruppe handele es sich ausnahmslos um jungdynamische Kriminelle, die zwischen russischen Kasernen und ukrainischem Hausbesitz pendeln. Die Anstrengungen der Verantwortlichen - so das Fazit - müssten daher auch darauf zielen, die Migranten mit "deutschen Werten, [...] Fragen der Moral, des Rechts, der Politik, der Religion und der Erziehung" vertraut zu machen sowie "adäquate Handlungsvorschläge zum Problem der Illegalen" und "entsprechende Anweisungen" zu erarbeiten. U.a. könne so aber auch das "intellektuelle und geschäftliche Potential" der Migranten nutzbar gemacht werden, denn die GUS biete "Deutschland unbegrenzte Ressourcen billiger Arbeitskräfte, Absatzmärkte etc."
(61)
Ähnlich der Asylbewerberquote erfolgt die Verteilung der jüdischen Zuwanderer auf die Bundesländer prozentual zur Einwohnerzahl nach dem sog. "Königsberger Schlüssel". Theoretisch müssen die Zuwanderer, die eine Zuteilung für das Bundesland X erhalten haben, dort auch bleiben; i.d.R. wird dies durch einen Eintrag im Pass dokumentiert: "Wohnsitznahme im Land X erforderlich". Da Berlin seine Quote durch den starken Zustrom vor Inkrafttreten des Gesetzes für die jüdischen Zuwanderer bereits über Jahre erfüllt hat, wird ein Zuzug nach Berlin nur noch in Ausnahmefällen gestattet - durch Direktzusage des Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben oder einen Quotenaustausch mit einem anderen Bundesland. Diese Zuzüge gelten als "geregelt", alle anderen - bei anhaltender Sozialhilfeabhängigkeit - als "ungeregelt".
(62)
Die Gruppe erscheint somit auch nicht in den Statistiken des Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben, das lediglich genehmigte Zuzüge registriert (registriert sind hier auch nicht die Personen, die als Familienzuzüge außerhalb des geregelten Verfahrens eine Aufenthaltsbefugnis in Anspruch nehmen und lediglich vom Landeseinwohneramt erfaßt werden).
(63) Auch die Landesstelle Unna-Massen veröffentlichte für das Jahr 1995 eine Statistik (701 a), die den Zuzug aus anderen Bundesländern nach Nordrhein-Westfalen zeigt. Die meisten Bundeslandwechsler kamen aus Thüringen und Sachsen, gefolgt von Bayern, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Daß aus Brandenburg nur wenige Personen nach Westdeutschland abgewandert waren, liegt u.a. daran, daß Brandenburger Migranten es vorziehen, in das nahe Berlin zu wechseln.
(64)
Auch bei den deutschen Aussiedlern konstatiert das Bundesministerium des Inneren besorgt, daß diese bestrebt seien, das Bundesland (besonders wenn es in der früheren DDR liegt oder nicht genügend Wohnraum anbieten kann) gegen die Verteilungsentscheidung zu wechseln und an Orte zu ziehen, wo bereits andere Aussiedler aus dem gleichen Herkunftsgebiet leben. Ihre Massierung an bestimmten Orten führe zu Akzeptanzproblemen bei der einheimischen Bevölkerung - "inbesondere ausgelöst durch das Verhalten jugendlicher Spätaussiedler bzw. nichtdeutscher Familienangehöriger" - und zur Überlastung einiger kommunaler Sozialhilfeträger (IDDA, Nr.73/1995,S.9). Eine z.Zt. diskutierte Gesetzesinitiative soll der Abwanderung beider Gruppen Einhalt gebieten; für Aussiedler gilt jedoch: "Bei allem müssen wir aber bedenken: die Spätaussiedler sind Deutsche und haben grundsätzlich Freizügigkeit" (ebd, S.10).
(65)
Ein Beispiel: Bei Unabhängigkeit von staatlichen Mitteln (Sozialhilfe etc.), i.d.R. also, wenn jemand eine Arbeitsstelle in einem anderen Ort gefunden hat, kann die Wohnsitzbeschränkung gestrichen werden. Neben denen, die tatsächlich wegen eines Arbeitsplatzes umziehen, gehen einige Migranten fiktive Arbeitsverhältnisse ein und werden, wenn sie den Umzug geregelt haben, wieder "gekündigt".
(66) Hinzu kommt das häufig hohe Anspruchsniveau der Migranten, das auch im Vergleich mit eigenen früheren Wohnverhältnissen - in der UdSSR gab es z.B. fast keine Ofenheizungen - bzw. denen früher Gekommener entwickelt wird.
(67)
Nicht berücksichtigt sind damit die etwa 500 neuen Gemeindemitglieder, die noch im Wohnheim leben bzw. als Untermieter noch nie umgezogen sind. Wohnheimwechsel innerhalb Berlins, d.h. Umzüge von Wohnheim zu Wohnheim, wurden ebenfalls subtrahiert, da sie i.d.R. nicht auf eigenen Wunsch und selbst herbeigeführt wurden, sondern aufgrund amtlicher Belegungsänderungen von Wohnheimen. Die Stichprobe wurde ebenfalls um Datensätze unbekannt verzogener, verstorbener und aus Berlin abgewanderter Personen bereinigt.
(68)
Die häufigen aufwendigen Umzüge sind auch ein Beleg gegen die These Freinkmans (1992), beim größten Teil der jüdischen Migranten handele es sich um "Scheinmigranten", die aus Verdienstinteressen hierher kämen, um dann sehr schnell wieder in die GUS zurückzukehren.
(69)
In einem Bericht der Jüdischen Gemeinde zur Wohnheimsituation wird beschrieben, daß behördlich angeordnete Heimwechsel üblich sind, die Heime z.T. verkehrsungünstig an der Peripherie liegen und die Bewohner von der Umwelt isoliert sind. Die Migranten sind mehr oder weniger sich selbst überlassen, Betreuer kaum vorhanden bzw. es mangelt ihnen an "mentalen", kulturellen oder sprachlichen Kompetenzen. Verschiedene Ethnien werden unbedacht in einem Haus zusammengelegt, die Bewohner haben keine Verfügungsgewalt bzw. Kontrolle über die eigenen Zimmer. Aufgrund der sozialen und räumlichen Enge ist ihre Privatsphäre stark eingeschränkt (kaum Aufenthaltsräume, überfüllte Gemeinschaftsbäder und Küchen), leben Personen verschiedener Generationen in einem Raum und kann auf Kranke und Behinderte kaum Rücksicht genommen werden. Diese Bedingungen erzeugen bereits nach kurzer Zeit Frustrationen und Aggressionen und es kommt zu Streit innerhalb von Familien und zwischen Heimbewohnern (siehe 4.2.3).
(70)
Verglichen mit den Angaben des Statistischen Landesamtes Berlin (1994) zur Zahl der "Staatsbürger der ehemaligen Sowjetunion in Berliner Bezirken" ergeben sich größere Abweichungen nur für den Osten: In Lichtenberg ist der Anteil sowjetischer Juden (7 %) proportional deutlich niedriger als der der Grundgesamtheit "ehemalige Sowjetbürger" (18 %); in den o.g. Neubaubezirken ist er hingegen auffällig höher (29 zu 17 %). Als Erklärung bietet sich an: Nach unserer Berechnung leben in Westberlin 78%, in Ostberlin 22 % der Zuwanderer. Die Grundgesamtheit "ehemaliger Sowjetbürger" beträgt für den Westen jedoch nur 59 %, für Ostberlin immerhin 41 %, da dort viele Personen wohnen, die als Angestellte von sowjetischen bzw. DDR-Institutionen, Studenten, Soldaten, Vertragsarbeiter oder durch Heirat in die DDR gekommen sind. In Lichtenberg nun lebt ein ausgesprochen hoher Anteil von Funktionären der ehemaligen Botschaften, des Innen-, Außen- und Staatssicherheitsministeriums, womit der dortige hohe Anteil auch sowjetischer Staatsbürger vermutlich erklärbar ist. Der wiederum höhere Anteil jüdischer Migranten in den Neubaugebieten dürfte sich daraus ergeben, daß dort Wohnungen leichter zu bekommen sind (nach der Vereinigung sind viele Bewohner abgewandert), zudem wohnten die Zuwanderer anfangs z.T. in Heimen in eben diesen Bezirken und beschränkten die Wohnungssuche zunächst auf die nähere Umgebung (inzwischen wandern aber auch sie wieder ab).
(71) Von Vorteil ist, daß sie häufig altengerechte Wohnungen anmieten können. Meist haben sie dann bessere Wohnverhältnisse als einheimische alte Menschen, die sich oft nicht entschließen können, aus mängelbehafteten Wohnungen auszuziehen, in denen sie u.U. jahrzehntelang gelebt haben. Die Desegration von der Familie und einem altersgemischten Wohnumfeld ist jedoch stark belastend für die alten Migranten.
(72)
Die Zahl Verheirateter wird in anderen Untersuchungen (Freinkman 1992, Schoeps 1993) als bedeutend höher angegeben (zwischen 70 - 85 % ), die Zahl der ledigen, geschiedenen und verwitweten Migranten dementsprechend niedriger. In der Untersuchung von Freinkman, die ebenfalls in Berlin durchgeführt wurde, dürfte diese Differenz an der zu kleinen Stichprobe von 100 Befragten liegen, von denen z.B. lediglich 9 % über 50 Jahre alt waren (was weder für die Altersstruktur in Berlin noch im Bundesgebiet zutreffend ist). In der Untersuchung von Schoeps ist die Stichprobe ebenfalls zu klein, stammt aber aus der gesamten Bundesrepublik. Somit ist nicht auszuschließen, daß die Berliner einen Sonderfall darstellen - mit ihrem hohen Anteil an älteren Migranten, mit den bereits hier lebenden Verwandten (die einen Zuzug Alleinstehender begünstigen könnten), mit der Großstadtsituation (die unabhängigen Personen vermeintlich oder tatsächlich mehr Spielraum bietet) und mit dem Umstand, daß anfangs mehr ungebundene Personen einreisten und es derzeit großer Flexibilität bedarf, um noch in das "geschlossene" Berlin zu ziehen.
(73) Zum Vergleich: Aus der GUS nach Israel wanderten 27 % Singles aus; von den 73 % Familien waren die Hälfte Ehepaare ohne Kinder, 29 % Familien mit 3 Personen, 15,5 % Familien mit 4 Personen, 3,5 % Familien mit 5 Personen (Berlin-Umschau, 3/1996, S.6). Von den (Berliner) deutschen Ausiedlern waren 1995 20 % als Alleinstehende eingereist, von den 80 % Familien waren 17 % Ehepaare ohne Kinder, 10 % andere 2-Personen-Familien, 29 % Familien mit 3 Personen, 31 % mit 4 Personen, 9 % mit 5 Personen und 4 % mit 6 - 9 Personen (LASoz VI D ZABL 1/996).
(74)
Bei sonst ähnlichen Proportionen liegt dabei besonders die Zahl der Zuwanderer-Haushalte mit einer Person noch weit niedriger und die mit drei Personen weit höher als in der Berliner Gesamtbevölkerung (vgl. Infratest 1995, S.132).
(75) Der Berliner "Rekord" 1995 liegt hier bei einer Heirat zwischen einem Zuwanderer des Geburtsjahrgangs 1914 und seiner neuen Ehefrau, Jahrgang 1919.
(76) Der Singularisierungstrend verstärkt sich zusätzlich, da es bei den älteren Zuwanderern eine auffällige Zahl Todesfälle in einem relativ kurzen Zeitraum nach der Einreise gibt (siehe 4.2.3). Somit bleibt ein Ehepartner häufig allein in der Wohnung zurück.
(77)
Sowjetische Aussiedler legen ähnlich hohen Wert auf Beziehungen zu Verwandten und Freunden, auf Feste und Feiern aller Art, die anders als bei Juden oft mit deutschen Traditionen und Zeremonien verknüpft sind (Lieder, Gebete usw.).
(78) Der Umstand, daß persönliche Kontakte zu Juden so gut wie keine Rolle als Informationsquelle über Juden spielten und nur wenige Juden in der BRD leben, veranlaßte Silbermann et al. bereits in Auswertung zweier Repräsentativumfragen 1974 und 1982 von einem "Antisemitismus ohne Juden" zu sprechen; sie fanden eine tolerante Gruppe von ca.30 %, eine stark antisemitische Gruppe von ca.20 % und eine Gruppe von ca. 50 % mit Resten antisemitischer Einstellungen (1982, S.63). Z.B. stimmte ein erheblicher Teil der Befragten Statements zu wie "Juden kann man am Aussehen allein erkennen" (45,2 %), sie "arbeiten mit üblen Tricks" (52,6 %), ihre Fehler sind "Rasse"-bedingt (47,2 %) usw. (ebd.). Dabei wurde im Sozialisationsprozeß erworbenen "antisemitischen Einstellungsinhalten in weit stärkerem Maße zugestimmt als Vorurteilen, die aus heutigen, aktuellen Ereignissen abgeleitet sind" (Sallen 1977,S.72).
(79)
Die aufgesetzte bzw. inkonsequente Vergangenheits-"Bearbeitung" eines Teils der deutschen Bevölkerung fördert die Konservierung antisemitischer/ausländerfeindlicher Einstellungen und die Bedienung philosemitischer Ersatzhandlungen. Letztlich kam mit dem Philosemitismus eine Veränderung sozialer Werte zum Tragen, doch hat er einiges mit antisemitischen Vorurteilen gemein. Obwohl sie nicht mit Tradition behaftet sind, wirken philosemitische Einstellungen/Vorurteile entlastend, schaffen Distanz von der kollektiven oder individuellen, belasteten Vergangenheit. Die philosemitische Wahrnehmung/Einstellung ist selektiv wie die antisemitische: unterschiedslos-stereotyp wird alles Jüdische ins Positive gewendet, werden Juden distanzlos "veredelt" (von "Jud Süß" zu "Nathan, der Weise").
(80)
Die meisten bisher bekannt gewordenen Vorfälle wurden aus den neuen Bundesländern gemeldet, gefolgt von Berlin, die wenigsten aus den alten Bundesländern. Besonders gehäuft kamen Übergriffe am Anfang der Einreisewelle 1990/91 in Ostberlin und peripher gelegenen Wohnheimen auf dem Territorium der ehemaligen DDR vor.
(81) Zu ähnlichen Ergebnissen kam Silbermann bei der Befragung deutscher Juden (1982,S.118). Den Interviewern fielen dabei Abwehrhaltungen auf ("Ich merke nichts von Antisemitismus.[..] ich verhalte mich so, daß ich nichts merken kann"; ebd. S.90) und Unsicherheit über den Begriff Antisemitismus (ein Satz wie "Man sollte euch alle vergasen!" war für einige nicht ernstzunehmen, für andere sehr wohl; ebd.S. 84f). Silbermann meint, wie viele Nichtjuden hätten viele Juden aus der Vergangenheit wenig gelernt, wie damals würden sie Gefahren nicht zur Kenntnis nehmen (wollen), ihre globalen Vorurteile wären genauso tradiert und stereotypisiert und beide Konfliktsituationen gleichermaßen explosiv (ebd.S.128).
(82) Andererseits gaben 29,2 % an, daß Bekannte den Kontakt abgebrochen hatten, als sie erfuhren, daß der/die Befragte jüdisch ist; 39,6 % meinten, am Arbeitsplatz oder bei Behörden als Jude/Jüdin benachteiligt zu werden. 89,6 % der Befragten empfanden den Rechtsextremismus und die politische Entwicklung in Deutschland als bedrohlich und nur 12 % hielten die Reaktion staatlicher Organe auf rechstradikale Ausschreitungen für angemessen (Schopes 1993).
(83)
Aus einem Drohbrief (erhalten September 1995): "Wir warten noch. Wenn genug von euch da sind, heizen wir die Öfen wieder an."; aus einem Flugblatt (erhalten Januar 1996): "Die Gesetze spiegeln den Willen der herrschenden Juden wider. Folge der Judenherrschaft: immer weniger Deutsche und immer mehr Ausländer.[..] Wir müssen Widerstand leisten."
(84)
Bundesweit gesehen, ist das heutige jüdische Leben in der Bundesrepublik und die jüdische Zuwanderung jedoch selten Gegenstand der Medienberichterstattung, es sei denn, es geht um die "Prominenz" (Galinski, Bubis, Friedmann usw.) oder den Nationalsozialismus; ähnliches gilt für die (nichtjüdische) wissenschaftliche Literatur.
(85)
Ethnische Zugehörigkeit gehört zur sozialen Identität einer Person. Der Identitätsbegriff orientiert sich hier am Symbolischen Interaktionismus (Mead 1969, Goffmann 1968 in Heckmann 1992, S.196ff), nach dem Identität aus Vergesellschaftung durch Rollenübernahme erfolgt. Aufgrund verschiedener/divergierender Gruppenmitgliedschaften kommt es zu Spannungen zwischen verschiedenen sozialen Identitäten einer Person, die durch Akkulturation oder Dissimilierung gelöst werden (können).
(86)
Hier spielt u.U. die Negativ-Besetzung aller ihrer Herkunftserfahrungen und die Assoziierung "Russe"="Kommunist" durch die Einheimischen eine Rolle. Der Zwang, die Integriertheit in die majoritäre Herkunftsgesellschaft (die individuelle Nachteile nicht ausschließt) und die Ausbildung der Identität an ihr zu leugnen, erzeugt Zwiepälte und vergrößert die emotionale Distanz zur eigenen Vergangenheit.
(87)
Trotz oder wegen dieser (tautologisch anmutenden) Zugehörigkeitsbestimmung zum Judentum gibt es anhaltende Kontroversen darüber, wer oder was ein Jude ist. Tabori sieht es sarkastisch: "Fünfzig Jahre nach Auschwitz versuchen die Rabbiner herauszufinden, wer ein Jude sei. Jeder weiß die Antwort darauf, nur die Juden nicht." (Berlin-Umschau 6/94). Eine "juristische" Sicht erweist sich spätenstens dann als Sackgasse, wenn sie etwas über das eigene Selbstverständnis von (z.B.säkularisierten) Juden aussagen soll. Finkielkraut schreibt: "Sind die Juden ein Volk? Eine Religion? Eine Nation? Alle diese Kategorien sind irgendwie anwendbar, keine befriedigt wirklich. [..] Es gibt praktisch keine Juden und keine Christen mehr, da fast alle Zeichen ausgelöscht worden sind, die ihre Unterscheidung erlaubten. Nur hat sich das Judentum nie im Bereich des Religiösen erschöpft. Auch als Atheisten, assimiliert und ununterscheidbar von ihren Nachbarn, bestanden die Juden hartnäckig darauf, jüdisch zu bleiben, selbst wenn sie den Sinn ihrer Hartnäckigkeit nicht verstanden. Statt gelöst zu sein, hat sich das Rätsel noch verdichtet" (1984,S.159f).
(88)
Da sich die deutschen Behörden in einem Fall an der jüdischen, im anderen an der sowjetischen Definition orientieren, wird einem Teil der nichthalachischen Juden der Zuzug verweigert. Können sie einreisen, kommt es u.U. wieder zu Problemen, wenn Behörden auf dem Nachweis der Mitgliedschaft in einer (deutschen) Jüdischen Gemeinde bestehen, die ohne jüdische Mutter nicht gewährt wird.
(89)
Hier gibt es Parallelen zu den wenigen Juden, die nach dem Krieg im östlichen Teil Deutschlands geblieben waren oder dorthin zo-gen, im Glauben ein neues demokratisches Land aufzubauen (vgl.Wroblewsky 1993, Tora und Trabant). Ein Teil dieser Juden versucht seit der deutschen Vereinigung durch den Verlust früherer Ideenwelten entstandene Leerstellen mit der Wiederentdeckung des Judentums zu füllen, besinnt sich dabei aber meist ebensowenig auf religiöse Traditionen, sondern auf sozial-utopische oder kulturelle.
(90)
Anders als bei den sowjetischen Migranten besteht für Teile der hier geborenen bzw. lange hier lebenden Nachkriegsgeneration das grundsätzliche Problem eines Lebens in Deutschland. Ihr Judentum definiert sich oftmals über den Genozid, spielt sich auf einer mehr emotionalen als religiösen Ebene ab und beinhaltet, als Identifikationsersatz, ein Bekenntnis zu Israel, da sie sich zu Deutschland nicht bekennen wollen bzw. nicht wissen, ob sie es dürfen, sollen oder müssen. Dazu trägt die unentschlossene Position der jüdischen Repräsentanten bei (die sich etabliert haben, aber z.T. weiter von einer "Kofferexistenz" ausgehen) und der Vorwurf aus Israel, Juden sollten nicht im Land der Täter leben (1996 vom Staatspräsidenten Weizman vor Mitgliedern der Berliner Gemeinde erneuert).
(91) Rußlanddeutsche geraten in ähnliche Spannungsfelder und Leerstellen zwischen einer russischen und einer "antiquierten" deutschen Identität (Koller 1993); zudem wurden sie in der GUS beschimpft: "in letzter Zeit haben uns alle Faschisten genannt" (Duwidowitch 1994, S.34) und werden hier oft nicht als Deutsche akzeptiert: "In Karaganda wußten wir immer, daß wir Deutsche sind, hier sind wir Russen" (ebd.S.33). Anders als Juden, fühlen sie sich jedoch selbst als Deutsche und betrachten ihre Einreise als Rückkehr in die Heimat.
(92)
Bei einigen Älteren hat sich der Gesundheitszustand nach der Einreise durch medizinische Intervention wiederum deutlich verbessert.
(93)
Es gibt auch etliche Großeltern bzw. -teile, die mit ihren Enkeln allein migriert sind, da deren Eltern verstorben sind oder Sorgerechte übertragen haben. Diese Konstellation ist durch das unterschiedliche Anpassungstempo für beide Seiten besonders problematisch.
(94)
Besonders in den jüdischen Schulen und den Schulen mit hohem russischsprachigem Schüleranteil sind die Schichtunterschiede zwischen "neuen" und "alten" Migrantenkindern/Einheimischen auffallend groß. Die Kinder der etablierten Eltern verfügen über erhebliche Taschengelder, teure Konsumwaren (Computer, Kleidung etc.), verbringen ihre Ferien im Ausland, Ältere kommen z.T. mit PKWs zur Schule usw. An diesen Standards orientieren sich die Neuzuwandererkinder schnell.
(95)
Dazu trägt bei, daß die neue Berliner Jüdische Oberschule, die auch etwa 50 % nichtjüdische Kinder besuchen, Kinder von neuzugewanderten Gemeindemitgliedern (z.T. offenbar aus Loyalitätserwägungen oder unter dem Druck der Eltern) aufnimmt, die in anderen Realschulen aufgrund mangelhafter Leistungen das Probehalbjahr nicht bestanden hätten.
(96)
Bei vielen Akademikern (i.d.R. Männer) aus gehobeneren Positionen fällt in der Betreuungspraxis auf, daß sie darauf bestehen, aufgrund ihres ehemaligen Status anderen gegenüber privilegiert zu sein bzw. zu werden (z.B. als Professor XY vor anderen eine Wohnung zu bekommen, sich nicht an Sprechzeiten halten oder in Warteschlangen einreihen zu müssen usw.). Andere dieser arbeitslosen älteren Migranten tragen ihre ehemaligen Statussymbole in der Öffentlichkeit bei sich (Aktenkoffer, alte Visitenkarten, Ernennungsurkunden zum "Kandidat der Wissenschaften").
(97)
Frauen scheinen allgemein weniger Probleme zu haben, sich auf die neue Situationen einzustellen, obwohl auch sie einen gesellschaftlichen Statusverlust hinnehmen müssen. Es sei erinnert, daß sie in der UdSSR ähnlich hohe Positionen und prestigeträchtige Berufe innehatten wie Männer (3.3), Mütter- und Berufsrollen gleichermaßen ausübten und hier geringere Arbeitsmarktchancen haben als Männer, quasi in den häuslichen Bereich (in ausschließliche Familien-Rollen) zurückgesetzt werden oder weniger angesehene Arbeiten verrichten. Da sie zu solchen Arbeiten und zu Umschulungen jedoch eher als Männer bereit sind (4.1.1), steigt wiederum ihr innerfamiliärer Status ihren Ehemännern gegenüber (der bei ihnen apriori bereits höher war als bei z.B. Aussiedlerinnen). Die Entwicklung einer höheren Handlungsautonomie betrifft meist Frauen bis zu einem Alter von etwa 45 Jahren, alleinstehende Frauen und fast ausschließlich im europäischen Teil der UdSSR aufgewachsene Zuwanderinnen.
(98)
Die Autorin kann die o.g. herkunftssozialisatorischen Spezifika der Aussiedler (auch in ihrer Differenz zu jüdischen Migranten) aufgrund eigener zweijähriger Arbeit mit russisch- und polnischsprachigen Aussiedlern bestätigen, sieht bei sehr jungen Aussiedlerfamilien jedoch größere Unterschiede zu älteren Jahrgängen der eigenen Ethnie als zu jüdischen Migranten insgesamt.
(99)
Das betrifft selbst diejenigen, die in den 70er Jahren als Erwachsene eingereist sind. Die Antipathie und das Mißtrauen der Migranten gegenüber hiesigen Organisationen und staatlichen Einrichtungen resultiert auch aus der Abneigung gegen die sowjetische Bürokratie, gegen ein ideologisiertes Umfeld und aus dem Mangel an positiven Gemeinschaftserfahrungen. Zudem dürfen sie als Ausländer (anders als die Aussiedler) nicht wählen und haben noch weniger Beteiligungschancen bzw. höhere Barrieren dazu zu überwinden.
(100)
Die Zuwanderer selbst sprechen wenig über die o.g. Fragen oder "illustrieren" sie nebenbei; ein Beispiel: "Als erstes habe ich gemerkt, daß du hier auch jeden fragen mußt und alles mögliche versuchen mußt, wenn du was haben willst. Aber beim Fünften oder Sechsten klappt es garantiert.. [..] Hier wird ja auch nicht einfach so irgendwas abgelehnt, wie bei uns früher: 'Kriegst Du nicht! Schluß'. Man bekommt, Gott sei Dank, für alles eine Begründung. Da kann man ja dagegen widersprechen. Oder man weiß wenigstens, worauf man sich beim nächsten Mal einstellen muß. [..] Ich gehe immer gleich zum Vorgesetzten, von den kleinen Angestellten lasse ich mich nicht abwimmeln. Ich bin hartnäckig. Ich sehe ja auch, wie die anderen [Zuwanderer] ihre Sachen regeln und was die bekommen. Warum soll ich das nicht versuchen." (I., Ingenieurin, 41)
(101)
Die Grenzen zwischen den Gruppen/Positionen sind z.T. fließend und einige Merkmale treten bei einzelnen Personen gemischt auf oder treffen u.U. nicht zu. Aufgrund der insgesamt relativ kurzen und unterschiedlich langen Aufenthaltsdauer der Migranten und der nur teilweise oder nicht für alle Zuwanderer verfügbaren Informationen soll der Einteilungsversuch als vorläufige und grobe Differenzierung verstanden sein (die insofern an Aussagesicherheit gewinnt, als die Merkmale auf früher migrierte sowjetische Juden ähnlich zutreffen).
(102)
"Sozialstruktur" läßt sich als Gruppenstruktur verstehen, die die Existenz sozialer Beziehungen und die Gemeinsamkeit von Merkmalen bezeichnet, z.B. bezogen auf regionale Herkunft, Konfession, Schichtt und Dimensionen sozialökonomischer Ungleichheiten (politische, rechtliche, sozialisatorische Aspekte, Gesundheitsversorgung, Wohnen, schulische Ausbildung und insbesondere die Stellung im Wirtschafts- bzw. Erwerbsprozeß) - vgl. Heckmann 1992. Für Gordon (1964, in Esser 1989, S.69) und ähnlich bei Eisenstadt (1954, S.12) bestimmt das "strukturelle Sein" das ethnischkulturelle Bewußtsein der Migranten, d.h. das Eindringen in das Status- und Institutionensystem sei Voraussetzung für jedwede weitere Stufe einer Eingliederung und letztlich die Aufgabe spezifischer Gruppenidentifikationen.
(103)
Damit beginnt sich die am Beginn relative sozialstrukturelle Homogenität der Migranten auszudifferenzieren und trägt (wie schon bei den früher Eingewanderten bzw. mit ihnen zusammen) zur Entstehung eines ethnischen Kleinbürgertums bei. Ein Schichtungs/Ungleichheitsverhältnis besteht somit nicht nur gegenüber der einheimischen Bevölkerung (z.B.unter Selbständigen in der Gesamtsozialstruktur), sondern entwickelt sich auch innerhalb der jüdischen Gruppe.
(104)
Hier kommt auch dem Faktor "Zeit" Bedeutung zu (vgl. Karsten 1986): Die Migranten unterliegen erzwungenen Untätigkeits- und Wartezeiten (z.B. betreffs Sprachkursen, Arbeits-, Berufsrechten, Einbürgerung usw., von denen beruflichen Möglichkeiten abhängen) und bürokratischen Zeitordnungen (Meldefristen in Sozial- und Ausländerbehörden) und müssen andererseits bestimmte Fähigkeiten bzw.Kenntnisse erst erwerben (Sprache, Berufsqualifikationen). Beides impliziert eine verstärkte Durchregelung des Alltags, zeitliche Mehrbelastung und Kontrollentzug und steht "Erfolgsverpflichtungen" entgegen (Erwerb von sozialer Sicherheit; Unterstützung Verwandter),die ihrerseits Zeitdruck erzeugen.
(105)
Dieser Umstand verweist auf die Fragwürdigkeit politisch-programmatischer Integrationsbegriffe, die von einer ausschließlichen (dann positiv gedeuteten) Anpassungsleistung der Migranten an die Aufnahmegesellschaft ausgehen (vgl. Treibel 1990, Hansen 1994), die gleichzeitig durch das machtüberlegene Aufnahmesystem behindert wird. Da die Kultur/Gesellschaft der Majorität selbst nicht wirklich homogen ist, bleibt weiter fraglich, welches Bezugssystem eine "völlige" Integration/Anpassung überhaupt haben kann/soll.
(106)
Aus ihr könnten neue Formen ethnischer Identität entstehen, die sich aber vermutlich nicht oder nur partiell auf die "jüdische Seite" beziehen würden, da der längst assimilationsbereiten, jüdischen Mehrheit mit dem Paßeintrag "Jude" eine "Identität" zum Zweck der Desintegration aufgezwungen war, die ihnen hier, nun zum Zweck der Integration, teilweise wieder nur "übergestülpt" wird.
(107)
Hier kann Eisenstadt gefolgt werden, der davon ausgeht, daß wanderungsauslösende Frustrationen und Erwartungen an die Zielregion immer nur partiell sind; somit sei auch die Eingliederung zunächst nur eine partielle (1954, S.4ff). Das betrifft u.a. bei fast allen die Erwartung eines "besseren und sicheren Lebens" und damit u.a. den Erwerbsbereich und erklärt z.T. auch die Bemühungen auf dem "nichtdeutschen" Arbeitsmarkt und die Nicht-Bemühung um Arbeit bei Älteren/Familiennachzüglern, deren Hauptzziel es war, nah ihrer Verwandten und in Sicherheit zu leben; die Erwartungen, die oft von falschen Prämissen und Informationen ausgingen, betrafen wiederum selten die Übernahme von Kulturmustern/Verhaltensweisen, die so vorläufig unterbleibt; die Frustrationen bezogen sich ihrerseits vermutlich auch nicht auf die heimatliche Kultur und Bindung, so daß dieser intakte Bezug hier reorganisiert wird.

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