Grunewaldrampe
Der Bezirk Wilmersdorf (ursprünglich die Dörfer
Wilmersdorf, Schmargendorf und die Kolonie Grunewald) wurde 1910 ein
Verwaltungsbezirk von Groß-Berlin. Viele Literaten, Musiker und Künstler
lebten hier: Julius Bab, Max Reinhard, Alfred Kerr, Felix Nussbaum, Lion
Feuchtwanger, Fritz Lang, Egon Erwin Kisch, Anna Seghers ... Der
Ortsteil Grunewald war ein beliebter Wohnort von Angehörigen der
Berliner Oberschicht wie Industriellen, Bankiers oder Politiker. 1933
hatte Wilmersdorf den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil aller
Berliner Bezirke, nämlich fast 15 %.
In Wilmersdorf gab es mehrere Privatschulen, die nach
reformpädagogischen Konzepten arbeiteten und von jüdischen Frauen
gegründet und geleitet wurden: Die privaten Waldschulen von
Lotte Kaliski und Toni Lessler.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mußten die
nichtjüdischen Kinder diese Schulen verlassen. 1933 bzw. 1935 wurden
noch die jüdischen Schulen von Vera Lachmann und Leonore Goldschmidt
gegründet.
Durch den jüdischen Sportplatz in der Nähe des Bahnhofs
Grunewald war Wilmersdorf auch ein Mittelpunkt des jüdischen Sports
(jüdische Sportvereine Maccabi und Bar Kochba).
Ab 18. Oktober 1941 wurden über 58 000 Juden aus Berlin
in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Die
Synagoge Levetzowstraße (Tiergarten) und das jüdische Altersheim in der
Großen Hamburger Straße (Mitte) waren die beiden großen Sammellager.
1941 und 1942 erfolgten die Deportationen überwiegend vom Bahnhof
Grunewald aus - danach vom Bahnhof Putlitzstraße (Tiergarten). Anfangs
wurden einfache Personenzüge eingesetzt später Viehwaggons. Die
Reichsbahn berechnete für die Beförderung vier Pfennige für Erwachsene
und für Kinder 2 Pfennige pro gefahrenen Bahnkilometer. Bezahlen mußte
das die jüdische Gemeinde.
Hans Jacobus erzählt:
„Als meinem Großvater der Stand in der
Berliner Markthalle zerschlagen wurde, wo er mit der Großmutter Geflügel
verkaufte, brach für ihn eine Welt zusammen. Er hatte sich dort, unter
Lieferanten und Kunden, als Gleicher unter Gleichen gefühlt. Da wurde
gescherzt und gewogen, Rezepte wurden ausgetauscht, und wenn seine
Töchter oder wir Enkel bei den Großeltern waren, dann schien die Welt in
Ordnung; denn "Die Familie ist das Wichtigste". Wie oft hörten wir
diesen Satz von ihm. Da war für ihn die große Familie der Kunden und
Bekannten, aber die eigene kleine Familie zu Hause am großen braunen
Esstisch, wenn er zu seinen Enkeln sagen konnte: "Esst mal, Kinder,
esst!" ...
Man muss beten, sagte er uns, wenn man
seinen Frieden haben will. Ob er gebetet hat, als sie ihn verschleppten?
Wenn er in die Synagoge gegangen war, schloss er die Augen, bewegte
leise die Lippen, horchte wohl in sich hinein. Er war ein stiller
Mensch, besonders in solchen Tagen. Aber wenn er mal lachte, zitterte
sein grauer Schnurrbart, man sah seine Zähne mit der Goldkrone, schon
von weitem hörte man ihn dann lachen, laut und glücklich. Was mochte er
gedacht haben, als man ihn zum Grunewald auf die Rampe schleppte? Dort
im Grunewald hatten wir Kinder manchmal gespielt. Die Gegend kannte er
nicht.
Wie wird das auf dieser schrecklichen Reise
gewesen sein, die von Polizisten bewacht wurde? Er war immer höflich
gewesen, besonders zu Polizisten, der Großvater. Das musste mit seiner
Jugend zusammenhängen, von der ich nichts weiß. Der Großvater reiste nie
gerne. Was man jetzt Reisen nennen würde, wäre zynisch - schreiende
Kinder und Sterbende, entsetzte, ängstliche Menschen, zusammengepfercht
und "behütet" durch ein "Transportsystem". Dafür war der
Reichsverkehrsminister zuständig mit seinem Staatssekretär. Da gab es
ein Referat "Massenbeförderung" der Reichsbahn und die Geschäftsstelle
"Sonderzüge" - da waren die Fahrplankonferenzen für die
Zugbereitstellung und Reichsbahnverantwortlichen bis zum untersten
Dienstgrad - die alle dem Reichsführer SS Himmler zuarbeiteten.
Die Juden, hieß es, würden "evakuiert". Wer
sagte da schon "verschleppt". Die Ortspolizei- behörden hatten die
Zahlen zu melden. Und die Kosten! Und sie hatten auch eine "Vermögens-
erklärung" - auf dem Vordruck hat mein Großvater sie ausgefüllt: Er hat
einen Strich gemacht! Er hatte keinen Pfennig, als sie ihn
"evakuierten".
Es war auch mit deutscher Gründlichkeit
mitgeteilt worden, was man mitnehmen durfte -
Sommerbekleidung/Winterbekleidung/Hauswäsche, sogar Handschuhe. Und vor
allem festes Schuhzeug! ...Der Transport wurde bewacht. Das waren keine
SS-Leute: Der Chef der Ordnungspolizei hatte dazu Polizisten abgestellt.
Polizei und Reichsbahner arbeiteten Hand in Hand mit der SS! So kamen
sie an in Lodz. Und sie kamen in das Getto, die Stadt hieß
"Litzmannstadt" nach einem deutschen General. Sie kamen mit einem der 20
Transporte, etwa 20 000 jüdische Menschen in den "Sonderzügen". So wie
diese an der Grunewaldrampe anhielten, waren es etwa je 1000 Menschen.
Heimatlos - rechtlos - aussichtslos... Lange Zeit glaubte ich, er wäre
dort mit seinen Töchtern zusammen gewesen, mit meiner Mutter und der
Tante Margarete. Aber vor kurzem erfuhr ich andere Daten. Meine Mutter
und die Tante waren auf einem anderen Transport unter jenen 20 000
Juden, die man aus Berlin in dieses Getto verschleppt hatte."
(tagesspiegel 8. Nov. 1999)
Am Ausgang Fontanestraße befindet sich ein Mahnmal, das 1991 enthüllt
wurde. In einem weißen Gesteinsblock sind die Umrisse von
Menschengestalten herausgehauen.
Die Deportationen gingen von
Gleis 17 ab.
Dort ist ein Schild angebracht worden.
Einsteigen bitte!
Grunewaldrampe Gleis 17
Grunewald hat zwei
Bahnhöfe. Der eine hat vier Bahnsteige, davon sind zwei in Betrieb. Alle
zehn Minuten fährt ein Zug Richtung Potsdam oder Westkreuz. Moderne
Züge, sanierte Gleise, modernisierte Bahnhöfe...
An-Sichten eines Rabbiners:
Blut auf der
Strasse
Wie empflindlich muss man in Berlin
sein? Wie empfindlich darf man sein, in Berlin? Ist normales Leben
möglich? Wenn ja, kann ich dann bitte einen Teil davon haben? Und wenn
nicht - wie lang muss man warten, bis man nicht mehr so empfindlich
ist?...
An-Sichten eines Rabbiners:
Ein
Zug in die Vergangenheit
Alle paar Wochen im Sommer, und auch zu anderen
Gelegenheiten, macht ein ganz besonderer Dampfnostalgiezug eine Fahrt
durch oder rund um Berlin...
Erich Hartmann, Photograph und Autor:
Ein verspäteter Liebesdienst
Gegen Ende seiner beruflichen Laufbahn, kurz vor dem 50.
Jahrestag der Befreiung der letzten Konzentrations- und
Vernichtungslager, unternahm Erich Hartmann eine Reise zu den Resten der
Lager...
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